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Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)
Jahrgang 2 â 2017, Heft 2
Claire Clivaz/Paul Dilley/David HamidoviÄ (Hg.) in Verbindung mit Apolline Thromas: Ancient Worlds in Digital Culture, Digital Biblical Studies 1, Leiden/Boston.
MA 2016, Brill, X+255 Seiten, ISBN 978-90-04-32247-9 (Hardback), 978-90-04-32523-4 (e-Book), Hardcover, ⏠114,00, ⏠104,00 (e-Book)
rezensiert von Johannes F. Diehl
Das von Claire Clivaz, Paul Dilley und David HamidoviÄ publizierte Buch Ancient Worlds in Digital Culture eröffnet die neue, von Claire Clivaz und David HamidoviÄ herausgegebene und bei Brill verlegte Reihe Digital Biblical Studies. Gegenstand der Reihe und des Bandes ist das VerhĂ€ltnis von Textarbeit (innerhalb der Bibelwissenschaften) und digitalen Medien, Tools und Methoden. Gerade diese vage Definition ist Gegenstand des als Einleitung zur Reihe und zum Buch gestalteten Beitrags HamidoviÄs An Introduction to Emerging Digital Culture, der deshalb im Folgenden breiter dargestellt wird.
HamidoviÄ zeigt auf, wie schwierig es zum einen ist, die Digital Humanities innerhalb der Geisteswissenschaften zu verankern. Zum anderen ist eine genaue Definition dessen, was Digital Humanities (DH) sind, (auch und gerade bei einer historischen Betrachtung des Gegenstandes und des Begriffs) schwer zu erfassen (vgl. hierzu 1. A critical Assessment of DH Definitions): âIt seems to me that many scholars understand it as applying new tools to old problems. I do as well, but practice is not enough to define DH. [âŠ] The human aspect remains central in DH, and thus âhumanitiesâ it seems to me, should be more important than âdigitalâ in the definition of DHâ (4). Nicht das Nutzen neuer Tools macht einen Wissenschaftler zum âDHâerâ, sondern: âthe heart of DHâs definition seems to be the use of computational analysis to find additional value in researchâ (4f., Hervorhebung von J. F. Diehl). Es stelle sich die Frage, ob es sich bei DH um eine Sammlung von Methoden oder nicht eher um ein (Arbeits-)Feld handelt. HamidoviÄ zeigt verschiedene Richtungen auf, in die sich DH-Projekte entwickeln (8-10): 1. Forschungskommunikation und -kooperation in Netzwerken (z.B. Academia u.a.); 2. Evaluation der Implikationen digitaler Plattformen (bewusste und unbewusste Ziele der Entwicklerinnen und Entwickler der Plattformen); 3. Aneignung medizinischer und forensischer Methoden und Tools durch die Geisteswissenschaften (hier z. B. bei der Analyse von Handschriften etc.); 4. neue pĂ€dagogische und didaktische Strategien (das verĂ€nderte Verhalten von Studierenden bzgl. des Einsatzes neuer Medien, Computer, Tablets etc. im Unterricht); 5. Aufbau von virtuellen Welten (z. B. zur Rekonstruktion schlecht erhaltener Artefakte). Gerade diese unterschiedlichen Richtungen machen eine wissenschaftstheoretische Betrachtung und genaue Definition des Begriffs DH schwierig: âFrom the perspective of Cultural Studies, the progressive and massive institutionalization of DH around the world [âŠ] can be described as a meeting place of social practices which produce knowledge and participate in human efforts to understand the world. Such a definition corresponds to one of definition of culture. [âŠ] As culture, DH is not a fixed conglomeration of methods, approaches, and practices, but all these components are fluid and changing according to their context(s). [âŠ] However, it is still too early, to my mind, to locate DH precisely within the usual critical paradigms of culture.â (11).
Diese von HamidoviÄ aufgezeigten Richtungen werden dann in dem Band weiter verfolgt.
So beschĂ€ftigt sich Paul Dilley, Digital Philology between Alexandria and Babel (17â34), mit der Digitalisierung von Bibliotheken und vergleicht die Massendigitalisierung von BĂŒchern mit der Bibliothek von Alexandria (âVollstĂ€ndigkeit der Bibliothekâ â âZerstörung von BĂŒchern/Bibliothekenâ) bzw. dem Turm/der Bibliothek von Babel (âUnĂŒberschaubarkeit der Bibliothekâ). Die StĂ€rke einer solchen Massendigitalisierung liege dabei im User-Interface, das durch bestimmte Algorithmen diese digitale Bibliothek verarbeitbar macht.
Claire Clivaz, Categories of Ancient Christian Texts and Writing Materials: âTaking once again a fresh starting pointâ (35â55), zeigt â ausgehend von den Begriffen âkanonischâ, âapokryphâ und âusefull for the soul (ÏÏ
ÏÏÏΔληÍÏ)â (François Bovon) â wie sich die Kategorisierung von Texten durch die Digital Humanities (Wandel der âSchreibmaterialienâ) Ă€ndert: âAs a final remark, I wish to emphasize that the rapid reconfiguration of groups of Ancient (Christian) texts through digital tools should help us to revisit the history of the categories of Ancient Christian texts through considering the development of writing materialsâ (S. 53).
Neben diesen von den Herausgebenden grundlegenden Artikeln, werden des Weiteren verschiedene Projekte vorgestellt und die Fragen beantwortet, inwiefern die Digital Humanities 1. Forschung und Lehre verĂ€ndern (oder gerade nicht verĂ€ndern), 2. Tools und Datenbanken Forschung und Lehre beschleunigen oder sogar Methoden und Ergebnisse verĂ€ndern, und 3. neue Lösungen fĂŒr alte Probleme des Edierens und Publizierens bieten. So sieht David A. Michelson, Syriaca.org as a Test Case for Digitally Re-Sorting the Ancient World (59â85), die erste Frage eher fĂŒr noch nicht zu beantworten, die beiden anderen Fragen werden hier mit âjaâ beantwortet: zum einen konzeptualisieren Forschende ihre Arbeitsfelder anders, ferner seien bestimmte Publikationsorte nur als Online-Publikationen möglich und/oder realisierbar (so z. B. The Syriac Gazetter).
David Bouvier, Surfing on Penelopeâs Web (86â109), vergleicht die Reflektion der Wissens(verarbeitung) zwischen Homers Ilias und Odyssee auf der einen Seite und der heutigen Informationsverarbeitung im Internet auf der anderen Seite, dies allerdings erst im 5. Teil seines Beitrags. Im ersten Teil zeigt er auf, inwiefern man bei der frĂŒhgriechischen Dichtung von einem Buch reden kann: einem Buch, das nie ein Buch war. Dabei steht hier die Frage nach OralitĂ€t und Schriftlichkeit eines Textes in Vordergrund. Dazwischen geht er an drei Beispielen der Frage der Wissensverarbeitung innerhalb der Odyssee nach.
Der Frage von digitalen (Text-)Editionen gehen die BeitrĂ€ge von Hugh A. G. Houghton und Catherine J. Smith, Digital Editing and the Greek New Testament (110â127), und David HamidoviÄ, Editing a Cluster of Texts: The Digital Solution (196â213), nach. Im ersten Beitrag wird die Entstehung des Novum Textamentum Graecum Editio Critica Maior (ECM) von der Texttranskription, der Kollationierung bis zum Text mit Apparat und die dabei eingesetzten digitalen Tools und deren VorzĂŒge beschrieben. David HamidoviÄ geht der Frage nach, wie eine digitale Publikation von Texten aussehen mĂŒsste, die in einem Cluster vorliegen. Als Beispiel dient ihm die Sektenregel (1QS bzw. 1Q28) aus Qumran mit ihrer Verbindung zur Gemeinderegel (1QSa bzw. 1Q28a) und den Benediktionen (1QSb bzw. 1Q28b). Neben diesen Handschriften gibt es weitere Manuskripte dieser (oder sehr nahe verwandter) Texte und es ist nicht klar, inwiefern hier von Varianten oder Versionen gesprochen werden muss.
Lillian Larsen und Steve Benzek, Min(d)ing the Gaps: Digital Refractions of Ancient Texts (128â147), zeigen, wie im Unterricht anhand verschiedener Kartographietypen Fragen und neue Einsichten bei SchĂŒlern und Studierenden evoziert werden. Beispielhaft stellen Sie dies am Corpus Paulinicum dar, insofern sie die Studierenden Karten erstellen lassen, die die in den echten und pseudepigraphen Paulusbriefen genannten Ortslagen nach HĂ€ufigkeit der ErwĂ€hnung enthalten und diese den klassischen Darstellungen der Reisen des Paulus gegenĂŒberstellen.
Martin Kaiser und Georg Wais, The âThesaurus Gregorianusâ: An Internet Datebase of Gregorian Office Antiphons (148â179), beschreiben die im Internet zugĂ€ngliche Datenbank antiphonale synopticum (http://gregorianik.uni-regensburg.de), die ein Repertoire von 6.000 StĂŒcken umfasst. Diese werden kritisch ediert (Varianten von Text und Melodie). Verschiedene Suchfunktionen unterstĂŒtzen die Userin/den User: eine Wortkonkordanz, ein Bibelstellenindex u. a.
Todd R. Hanneken, New Technology for Imaging Unreadable Manuscripts and Other Artefacts: Integrated Spectral Reflectance Transformation Imaging (Spectral RTI) (181â195) beschreibt Verfahren moderner Photographie, die es ermöglichen, Inschriften und Manuskripte (insbesondere Palimpseste) lesbar zu machen. Dabei werden die besten Ergebnisse durch die Kombination der Spektral-Photographie mit dem Verfahren des Reflectance Transformation Imaging (RTI) erzielt. Bei letzterem werden mehrere Aufnahmen eines Objektes mit verschiedenen Einfallwinkeln des Lichts gemacht. Damit wird die OberflĂ€chenstruktur (bis hin zur StĂ€rke von Tinte) sichtbar.
Sara Schulthess, Taáž„rÄ«f in the Digital Age (214â230), zeigt zunĂ€chst die Entwicklung des Taáž„rÄ«f-Konzepts innerhalb der islamischen Theologie und dessen Fokus auf die neutestamentliche Textkritik bzw. die neutestamentlichen Handschriften. Die Untersuchung von Webseiten macht nun deutlich, welche Bedeutung das Taáž„rÄ«f-Konzept besitzt und inwiefern es unerwartete Interaktionen zwischen den Vertretern des Konzepts und der westlichen Wissenschaft gibt.
Apolline Thromas, Digital Resources of the Rabbinic Literature: Radical Change with a Click of the Mouse (231â247) zeichnet die Edition rabbinischer Literatur von Print-Ausgaben bis zu Editionen im Internet nach. Dabei beschreibt die Verfasserin ausfĂŒhrlich die StĂ€rken und SchwĂ€chen der einzelnen Online-Publikationen.
âThe humanities arrived some time ago at the digital age [âŠ]â â mit diesem Satz wird nicht der Band, sondern die Zusammenfassung des letzten Beitrags von Apolline Thromas (S. 243) eröffnet. Diesen Sachverhalt macht der Band Ancient Worlds in Digital Culture deutlich. Dabei zeigt sich zum einen, wie sehr die Digital Humanities die Wissenschaftslandschaft innerhalb der Geisteswissenschaften verĂ€ndern werden und in den letzten ca. 10 Jahren schon verĂ€nderten. Zum anderen wird an diesem Band deutlich, wie disparat die Digital Humanities sind. Beides zu zeigen, ist Sinn und Zweck des Bandes, und beides ist den Herausgeberinnen und Herausgebern gelungen.
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Interview mit ⊠Heike Behlmer
Steckbrief: Heike Behlmer
Alter: 59 Jahre
Studium der: Ăgyptologie, Koptologie und Assyriologie an der UniversitĂ€t Göttingen
Promotion in der Ăgyptologie und Koptologie an der UniversitĂ€t Göttingen; Habilitation in der Ăgyptologie und Koptologie an der UniversitĂ€t Göttingen
Von 1995 bis 2004 Wissenschaftliche Assistentin / Oberassistentin an der UniversitĂ€t Göttingen; 2003-2004 Lehrstuhlvertretung an der LMU MĂŒnchen; 2004-2006 Lecturer in Coptic Studies an der Macquarie University, Sydney; 2006 Visiting Professor an der Columbia University New York; 2007-2009 Senior Lecturer an der Macquarie University, Sydney; seit 2009 Professorin fĂŒr Ăgyptologie und Koptologie an der UniversitĂ€t Göttingen.
Von 2012 bis 2016 gehörte sie dem Board des âGöttingen Centre for Digital Humanitiesâ an; seit 2015 ist sie fĂŒr die Digitale Gesamtedition und Ăbersetzung des koptisch-sahidischen Alten Testaments verantwortlich; seit 2016 gehört sie zum Editorial Board der Reihe Digital Biblical Studies und ist Mitherausgeberin der Texte und Studien zur koptischen Bibel
Vorneweg â Blitzlicht
Lehre â Frust oder Lust?
Lehre oder Forschung?
Lieber Erstsemester oder lieber Integrationsphase (frĂŒher Examensphase)?
Neues oder BewÀhrtes?
Referate oder Gruppenarbeit?
âSowohl ⊠als auchâ, bei allen Fragen âŠ
Welche Erfahrungen und/oder Menschen haben Ihre Lehre nachhaltig geprÀgt bzw. beeinflusst?
Ăber die Jahre bin ich vielen engagierten akademischen Lehrern begegnet, angefangen von meinem Doktorvater Wolfhart Westendorf, emeritierter Professor fĂŒr Ăgyptologie in Göttingen, der die besondere Gabe hatte, komplexe Sachverhalte logisch aufzubauen und fĂŒr Studierende interessant darzustellen. Ich habe auch sehr viel von den Studierenden gelernt, die sich irgendwann entschlossen haben, ein mit nur 200-300 Wissenschaftlern auf der ganzen Welt wirklich kleines geisteswissenschaftliches Fach wie die Koptologie zu belegen. Besonders geprĂ€gt haben mich aber meine Jahre an der Macquarie University in Sydney, an der ich einen ĂŒber das Internet belegbaren Masterstudiengang Coptic Studies entwickelt habe. Dazu muĂte ich in wenigen Jahren zehn Module fĂŒr eine eLearning-Umgebung bereitstellen, einschlieĂlich neuer PrĂŒfungsformen. Obwohl es in Australien eine lange Erfahrung im Fernunterricht gibt â so gab es eine eigene Abteilung, die allen Studierenden wöchentlich per Post Audio-CDs von meinen Vorlesungen zuschickte â war dies eine wirkliche Herausforderung, weil es in unserem kleinen Fach fast ĂŒberhaupt keine geeigneten Unterrichtsmaterialien fĂŒr die digitale Lehre gab. Es war beinahe eine creatio ex nihilo, und ich bin allen Studierenden sehr dankbar, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben â um ausgerechnet Koptologie ĂŒber das Internet zu studieren, muĂ man eine wirkliche Begeisterung fĂŒr das Fach aufbringen. Das hat mich bei allen technischen Schwierigkeiten (die AnfĂ€nge liegen ja auch schon wieder 10 Jahre zurĂŒck) immer wieder ermutigt, ebenso wie die Hilfe der Kolleginnen und Kollegen und der koptisch-orthodoxen Gemeinde in Sydney, die den Studiengang auch finanziell unterstĂŒtzt hat.
Frau Behlmer, wie kam es zu der Idee, das koptische Alte Testament digital zu edieren und zu ĂŒbersetzen? In der alttestamentlichen Textkritik wird diese Ăbersetzung als Textzeuge ja kaum wahrgenommen.
Ich wĂŒrde nicht sagen, dass die koptische BibelĂŒbersetzung in der Bibelwissenschaft kaum wahrgenommen wird. SchlieĂlich ist sie die Ă€lteste und umfangreichste TochterĂŒbersetzung der griechischen Septuaginta und somit fĂŒr die Textgeschichte von besonderer Bedeutung. Sie ist darĂŒber hinaus die Grundlage fĂŒr die gesamte koptisch-sprachige christliche Literatur Ăgyptens und das umfangreichste Textkorpus der letzten Stufe der altĂ€gyptischen Sprache, dem Koptischen. Nicht zuletzt is...