XIV. Das kalte Herz
Romeos auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit
»Die wichtigste Voraussetzung für einen Geheimdienstler ist seine vollkommene Loyalität, er muss ein klares Feindbild haben, exakt auseinanderhalten, was gut und was böse ist, sonst gerät sein Wertesystem aus den Fugen«, behauptet Jürgen Albertz unter dem Titel »007, germanisch – die Lizenz zum Lesen« in einem amüsanten wie lehrreichen Beitrag in der »Süddeutschen Zeitung« vom 25./26. Januar 1992 über die Grundregeln im zweitältesten Gewerbe der Welt. Albertz hat seine Analyse verfasst, als die Feindbilder in Ost und West keine scharfen Konturen mehr hatten. Der Autor erinnert auch an die drei Maximalanforderungen, die Felix Dscherschinskij, der Gründer der russischen Tscheka, an seine Agenten gestellt hat: einen kühlen Kopf, ein brennendes Herz und allzeit saubere Hände.
Das MfS und speziell die Hauptverwaltung Aufklärung, welche sich so gern auf die Tradition der Tschekisten berief, haben – wie andere Geheimdienste auch – immer Schwierigkeiten mit den sauberen Händen gehabt, aber offenbar nie mit dem brennenden Herzen.
Blutrot und übergroß prangt es zum Beispiel auf der Brust des Titelhelden »Der Kundschafter«. Das Buch ist 1989 beim Kinderbuchverlag Berlin in dritter Auflage erschienen. Das für Leser ab 12 Jahren empfohlene Werk erzählt die Geschichte vom Sonderauftrag eines tapferen IM aus Dresden, der gelegentlich sogar von Gewissensqualen beim Lügen und Betrügen des Klassenfeindes heimgesucht wird und mutig den Verführungskünsten der schönen Abwehragentin trotzt. Denn der Kundschafter denkt an Frau und Kind daheim, Tag und Nacht, immer. Wer das angeblich auf einem authentischen Fall beruhende Heldenepos der DDR-Spionage gelesen hat, wird beim öffentlichen Auftritt ehemaliger Romeos allerdings von einer Frage gequält: Wo ist bloß das heiße Herz geblieben?
Romeos möchten von ihren Einsätzen am liebsten gar nichts mehr wissen. Lang, lang ist’s her, vergessen, vergangen, verdrängt. Sie berufen sich notfalls wie Herbert Sch. auf die Pflichten eines Hauptamtlichen IM oder wie Roland Gerhard Conrad G. auf den Gehorsam eines Majors und Parteisoldaten der DDR.
Vor Journalisten bleiben die beiden auf der Flucht, auch wenn es gelegentlich einem Kamerateam gelingt, ihnen aufzulauern. Zu einem Gespräch kommt es nie, allenfalls zu einem heftigen Wortwechsel oder gar zu einem Schlagabtausch mit Fotografen. Nur als Zeugen vor Gericht haben die beiden Exagenten öffentlich über ihr halbseidenes Gewerbe ausgesagt, aussagen müssen, um nicht mit Zwangsgeldern oder Beugehaft belegt zu werden. Überdies will man sich ja auch nicht in Anwesenheit des früheren Chefs, Generaloberst a.D. Markus Wolf, von einem Richter aus dem früheren Operationsgebiet Feigheit vor dem Feind vorwerfen lassen. Die alte Loyalität lebt dann schnell wieder auf, wenn es gilt, das angestaubte Feindbild blank zu wienern, um sich selbst im besten Licht zu präsentieren.
Bei den Auftritten im Prozess gegen Markus Wolf am 3. Juni 1993 kommen die beiden Herren der Wahrheit wohl ziemlich nahe. Wahrheit, das heißt in diesem Fall, den trotz aller Vernichtungsaktionen der HVA noch reichlich vorhandenen dokumentierten Fakten. Ein Stück Zeitgeschichte wird im Gerichtssaal aufgeführt, ein Lehrstück ohnegleichen, doch das Interesse des Publikums hält sich in Grenzen. Nur 20 Zuhörer inklusive Journalisten lauschen am Vormittag den Offenbarungen des Roland G., nachmittags noch weniger den Abenteuern des Herbert Sch. Dabei bieten die beiden Rentner mehr brisanten Stoff über zwischenmenschliche Beziehungen als 1000 Folgen der ARD-Vorabendserie »Verbotene Liebe«.
»Seine moderne Garderobe, sein gepflegtes Äußeres und seine ausdrucksstarke hochdeutsche Sprache hinterlassen einen angenehmen Eindruck. Aufgrund seines Aussehens fällt es ihm auch relativ leicht, Kontakte zu weiblichen Personen herzustellen«, so wird Roland G. in dem »Auskunftsbericht« vom Dezember 1956 charakterisiert, den das AUS von frisch angeworbenen Mitarbeitern anzulegen pflegte. In diesem Fall stammte der Autor des Textes aus der Abteilung XV der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz. Das wichtigste Merkmal der Wahl des Schauspielers G. für die Rolle des Romeo war wahrscheinlich seine dialektfreie Sprache, denn wenn man eine westdeutsche Sekretärin unter Vorspiegelung falscher Tatsachen umgarnen wollte, galt ein regionaler Akzent als großes Hindernis, Sächsisch sogar als Liebestöter. Auch der KGB, so der Exführungsoffizier von Margret H. mit Decknamen Franz Becker, wünschte stets Kundschafter, deren landsmannschaftliche Herkunft nicht auf Anhieb zu erkennen war.
Es bedarf viel Phantasie, sich im Juni 1993 den mittlerweile 63 Jahre alten Rentner G. auf dem Zeugenstuhl als Romeo vorzustellen. Er erinnert an einen in die Jahre gekommenen Vorstadt-Casanova, der nicht von früheren Eroberungen erkannt werden will. Die in seinen umfangreichen HVA-Akten dokumentierte Eitelkeit und Wichtigtuerei hat er aber noch nicht ganz abgelegt, als er versucht, im Dialog mit dem Gericht den Mann von Welt herauszukehren. »Dem würde ich nicht mein Fahrrad zum Halten geben«, ruft eine Journalistin halblaut einer Kollegin zu. Gelächter im Saal, und sogar Andrea Wolf, die Ehefrau des Angeklagten, kann sich ein Lachen nicht verkneifen.
Der Zeuge G. versucht bei seiner Aussage gleichzeitig die Bundesanwälte auf der rechten Seite, das Gericht in der Mitte und den früheren Chef links auf der Anklagebank im Blick zu behalten. Während seiner Vernehmung gibt er potentiellen Romeos beiläufig Tipps für den Umgang mit Frauen: »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Gibt man zu viel, dann besteht die Gefahr, dass die Tätigkeit aufgedeckt wird. Ich hab ihr mal einen Ring und eine Kette mitgebracht, was man einer Frau halt so schenkt, wenn man sagt, dass man sie liebt. Und Blumen natürlich, und ich bin mit ihr gut essen gegangen. Einmal hat sie 2.000 oder 5.000 Mark für ein Auto bekommen.«
Doch dann wandelt er sich plötzlich, aber nicht unerwartet, vom ausgebufften Akteur zur verfolgten Unschuld. Romeo Roland G. beklagt sich bitter: »Ich muss hier mal zur Sprache bringen, wie sehr mir die ganze Sache geschadet hat. Seit meine MfS-Anbindung bekannt geworden ist, kann ich nicht einmal mehr in Annaberg auftreten. Das hat der Kulturausschuss erzwungen. Ich habe Berufsverbot. Selbst einen Waffenschein als Jäger gibt man mir nicht mehr seit 1991, obwohl ich 1971 meine Jagdprüfung gemacht habe.«
Er erzählt von seinem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht und ist nicht mehr in seinem Klagelied zu bremsen. Einer der Verfahrensbeteiligten wird angesichts der Arie des Exmajors über sein Leiden nach der Wende im Protokoll statt der üblichen wörtlichen Zitate nur vermerken: »Der...