1. Kapitel
Wovon wir ausgehen
Vor die Entscheidung gestellt, ob sich ein weiterer Versuch lohnen wĂŒrde, das heutige Russland fĂŒr die Deutschen begreiflicher zu machen, verspĂŒrte ich eine ziemliche UnschlĂŒssigkeit. Ich war mir nicht auf Anhieb im Klaren darĂŒber, ob diesbezĂŒgliche Anstrengungen â eingedenk dessen, sich in einer fremden Sprache zu Ă€uĂern â einen praktischen Sinn haben oder nur verlorene MĂŒhen sind. Gewiss ist das Ziel, das gegenseitige VerstĂ€ndnis zwischen den Völkern zu fördern, edel und konstruktiv, zumal es sich um die beiden zahlenmĂ€Ăig gröĂten Nationen Europas handelt. Der Frieden des Kontinents und damit der Frieden der Welt ist zu einem wesentlichen Teil nur zu erhalten, wenn die Deutschen und die Russen zusammen dafĂŒr stehen. Die Zeugnisse der Geschichte sprechen eine klare Sprache. Um der friedlichen Ordnung in Europa und in der Welt willen mĂŒssen Deutschland und Russland am gleichen Strang der gemeinnĂŒtzigen Kooperation ziehen.
Andererseits sind westliche Voreingenommenheit und aberwitzigste Vorurteile Russland gegenĂŒber so weit fortgeschritten, dass einem starke Zweifel kommen mĂŒssen, ob eine Gegenwirkung â mit Chancen, gehört zu werden â ĂŒberhaupt noch möglich wĂ€re. Die Wellen der Russophobie schlagen heute so hoch, dass im Westen ein Blick nach vorn fast komplett verstellt ist. Die Situation scheint viel schlimmer zu sein als zu den Zeiten des Kalten Krieges. Damals hatte der Westen noch Achtung vor der Sowjetunion, und eine gemeinsame Lösung der Weltprobleme lag, wenigstens teilweise, im Bereich des Möglichen. Heute zieht man es vor, mit Russland mittels Sanktionen zu kommunizieren und alles, was es sagt, sogleich als hinterlistige Finte zu verschreien. Es ist buchstĂ€blich zum Heulen: Wenn ich mit den Deutschen â auch mit den gutmeinenden, weltoffenen Deutschen â spreche, prallen in der Regel meine PlĂ€doyers am Panzer von Befangenheit ab. Die nĂ€chste Phase nach dem Dialog der Gehörlosen ist gewöhnlich eine komplette Verstummung beiderseits, und die wĂ€re die gefĂ€hrlichste Phase im internationalen Kontext.
Warum ich dieses Buch schreiben musste
So hatte ich mich zur positiven Stellungnahme wortwörtlich durchzuringen â mit aller Kraft gegen meinen verstĂ€ndlichen Hang zum Pessimismus kĂ€mpfend. Ich tat das ĂuĂerste, um aus der Geschichte â so wie sie ist und bleibt â ein bisschen Hoffnung zu schöpfen. Die schwierigste Zeit fĂŒr das deutsch-russische VerhĂ€ltnis war bestimmt der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust und all seinen anderen Nazi-GrĂ€ueltaten. WĂ€hrend ich 1944 als ViertklĂ€ssler zum ersten Mal eine Deutschstunde besuchte (damals war Deutsch als Fremdsprache in allen Schulen der Sowjetunion Pflicht), sagte uns die Lehrerin: »Ich verbitte mir, eine Deutsche genannt zu werden. Ich bin eine Russin, wie ihr es auch seid. Ich werde euch aber Deutsch beibringen, da ihr die Sprache des Feindes beherrschen mĂŒsst.«
Die wichtigste historische Bilanz der Jahre, die seitdem ins Land gegangen sind, ist, dass Deutsch sich fĂŒr die Russen lĂ€ngst von der »Sprache des Feindes« in die »Sprache des guten Nachbarn«, bisweilen auch die »Sprache des Freundes«, verwandelt hat. Der groĂe Verdienst fĂ€llt dabei dem antifaschistischen Wesen der DDR zu, die von Anfang an von den meisten Russen als Freund und VerbĂŒndeter empfunden wurde.
Ich hatte die Ehre, diesen Prozess der Gesundung des deutsch-russischen VerhĂ€ltnisses mitzugestalten. Nach der Schule habe ich mein Deutschstudium am Moskauer Institut fĂŒr Internationale Beziehungen fortgesetzt. 1956 trat ich meinen ersten diplomatischen Job im Konsulat in Leipzig an. Leibhaftige DDR-BĂŒrger lernte ich bereits im Studentenheim des Instituts kennen. In Leipzig gab es einen breiteren Raum fĂŒr die Bekanntschaften in allen Schichten der Bevölkerung. Unsere kleine Tochter Anja begann zu sĂ€chseln, noch bevor sie richtig russisch sprach. In der DDR beziehungsweise in den ostdeutschen LĂ€ndern nahm meine diplomatische Laufbahn auch ihr Ende: 1987 bis 1992 war ich Gesandter und Stellvertreter des Botschafters in der Botschaft der UdSSR/Russlands in Berlin in der StraĂe Unter den Linden. In der Zwischenzeit war ich zweimal in der Bundesrepublik amtlich akkreditiert: zuletzt 1976 bis 1984 als KulturattachĂ© an der Botschaft in Bonn. So darf ruhig angenommen werden, dass ich nicht nur eine Art Kenner Deutschlands geworden bin, sondern auch ein Experte fĂŒr die Entwicklungen im deutsch-russischen VerhĂ€ltnis der vergangenen sechzig Jahre. Umso mehr, da ich ab 1993 am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau als Forscher im Bereich der europĂ€ischen Sicherheit tĂ€tig war und bin; Deutschland spielt hier eine herausragende Rolle.
Langer Rede kurzer Sinn: Mit so einer Qualifikationsurkunde konnte ich mich unmöglich der Aufgabe entziehen, zu beschreiben, was nach dem 22. November 2005, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, allmÀhlich in akute Gefahr geriet. Zu beginnen wÀre jedoch logisch mit der Zeitenwende 1999.
Wer ist der wirkliche Herr der Ringe?
Die Aufgabe, an die Wurzeln der west-östlichen Entfremdung nach der Idylle der demonstrativen Friedfertigkeit der neunziger Jahre zu gehen, ist und bleibt verdammt kompliziert. Der Westen, Deutschland inklusive, hat erst nach einem ganz unerwartet heftigen russischen Protest gegen die ÂNATO-Bombardements auf Jugoslawien 1999 zu seinem groĂen Erstaunen entdeckt, dass Russland weiterexistiert. Als der russische Premierminister Jewgenij Primakow seinen vereinbarten offiziellen Besuch in Washington beim Bekanntwerden des ÂNATO-Angriffs absagte â und sein Flugzeug eine demonstrative Kehrtwende vor der KĂŒste Amerikas vollbrachte â, geschah etwas Einmaliges fĂŒr die Sieger im Kalten Krieg. Bis dahin war man in den westlichen HauptstĂ€dten der fröhlichen Ăberzeugung, Russland sei auf dem besten Wege, das Schicksal der Sowjetunion zu wiederholen. Der Abschlusstag des Abzugs der Westgruppe der russischen Truppen von deutschem Boden 1994 wurde insbesondere von der deutschen Regierung als Beginn der BegrĂ€bniszeremonie fĂŒr den Hauptnachfolgestaat der Sowjetunion empfunden. Nein, formell war alles in Ordnung. Man hat sogar StaatsprĂ€sident Boris Jelzin zu den G8-Gipfeln eingeladen. Nur hatte niemand vor, die Interessen Russlands, vor allem seine Sicherheitsinteressen, ernst zu nehmen. Der Verlierer sollte jederzeit die schwere Hand der Herren der Lage zu spĂŒren bekommen.
Dabei ignorierten die oberen Etagen der RegierungsĂ€mter der WestmĂ€chte, dass Russland nicht nur ein Nachfolger war, sondern auch und vor allem ein ganz neuer Staat â mit der dem Westen verwandten StaatsÂideologie und Wirtschaftsphilosophie, mit völlig neuen Leuten am Staatsruder, mit brennendem Wunsch, als Teil der neuen globalen Welt anerkannt zu werden. Stellte die Sowjetunion eine Alternative zur im Westen bestehenden kapitalistischen Weltordnung dar â ob diese Alternative gut oder weniger gut war, ist eine andere Frage â, war das neue Russland bereit und willig, sein Haus »wie im Westen« einzurichten. Man ahmte alles nach: wirtschaftliche Grundlagen, politische Spielregeln, Allmacht des Geldes, globale Pax-Americana-Vorstellungen. Vom Westen wurden auch typische kapitalistische SchwĂ€chen und SĂŒnden ĂŒbernommen â wie etwa der Gegensatz zwischen Arm und Reich, die soziale Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit.
Das Streben der FĂŒhrung des neuen russischen Staates, sich bei den westlichen Lehrmeistern lieb Kind zu machen, zog unausweichlich katastrophale Folgen fĂŒr die Masse der russischen BĂŒrger nach sich. Die Politik des Westens und das Agieren seiner russischen Anbeter riefen einen allgemeinen Notstand im Land hervor. Statistiker haben festgestellt, dass der Schaden, den Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion erlitt, mit den Verlusten vergleichbar ist, die im Ergebnis der Revolutionen von 1917 und des nachfolgenden BĂŒrgerkriegs sowie im GroĂen VaterlĂ€ndischen Krieg 1941â1945 entstanden sind. Die neunziger Jahre sind ins russische VolksgedĂ€chtnis als eine »böse Zeit« eingegangen, da sie Ruin der Wirtschaft, Verelendung der Bevölkerung, ZĂŒgellosigkeit der Oligarchen, WĂŒten der KriminalitĂ€t, Entfesselung von Politiker- und BeamtenwillkĂŒr, ZertrĂŒmmerung der StreitkrĂ€fte (mit Ausnahme des Nuklearpotentials, Gott sei Dank!), offene auslĂ€ndische Einmischung in die Innen- und AuĂenpolitik des Landes (so hat die US-Botschaft in Moskau mehrmals den Autokraten Boris Jelzin von der Absetzung ihres Favoriten Andrej Kosyrew vom Posten des russischen AuĂenministers abgehalten, zum gröĂten MissvergnĂŒgen Jelzins) und Massenverbrechen internationaler, hauptsĂ€chlich islamistischer, Terroristen im ganzen Staatsgebiet gebracht haben. Und kein einziger Hoffnungsschimmer in Sicht!
VerstĂ€ndlicherweise rief diese bedrĂŒckende Situation nach dem Zerfall der UdSSR eine eindeutig ablehnende Haltung der russischen Gesellschaft gegenĂŒber einem blinden Kopieren der westlichen Lebensordnung hervor. Es blieb unbekannt, ob die »Armeen« der westlichen Berater und Konsultanten, die damals Russland ĂŒberflutet zu haben schienen, etwas vom Anwachsen derartig negativer Stimmungen an ihre Hauptquartiere berichteten. Wenn ja, blieben diese Warnungen unbeachtet. Die Politik des Westens, der ÂNATO-Ostfeldzug inklusive, blieb die gleiche. Kein Wunder: Russland war fĂŒr den Westen völlig bedeutungslos geworden â sein Schicksal schien vorbestimmt, das Ende schien unmittelbar bevorzustehen. Die Panzer, die 1993 auf das russische Parlament im Zentrum Moskaus unter Applaus des Westens feuerten â was sollte noch Schrecklicheres geschehen, damit ein kompletter Zusammenbruch anerkannt werden wĂŒrde?
Zwei Schlussfolgerungen aus dieser Zeit stehen fĂŒr die Russen fest: Erstens: Der Westen mag die russischen Politiker nur, wenn diese schwĂ€chlich und unterwĂŒrfig sind. Zweitens: Je schlimmer es Russland geht, desto besser scheint sich der Westen zu fĂŒhlen.
Solange diese Linien die Weltlage beherrschen und weiterhin bestimmen, bleibt ein vernĂŒnftiges gemeinsames Herangehen an die brennendsten globalen Probleme unmöglich. Die vielversprechenden Versuche der Regierung Jewgenij Primakow, ein bisschen Ordnung im auĂenpolitischen Bereich sowie in der Wirtschaft Russlands zu schaffen, schlugen fehl, da man ihm von innen wie auch von auĂen keine Zeit lieĂ, sie zu vollenden. Der russische Protest gegen den ÂNATO-Krieg in Jugoslawien â der erste Krieg in Europa seit 1945 â verhallte ergebnislos. Ohne Konsequenzen blieb auch der wagemutige VorstoĂ der russischen FallschirmjĂ€ger nach Pristina in Kosovo. EnttĂ€uschung, Zorn und Empörung griffen in Russland um sich. Zum ersten Mal trat eine nostalgische Erinnerung an die Sowjetzeit zutage, wo das Leben vielleicht verhĂ€ltnismĂ€Ăig grau, aber gesichert war und die Stimme des Landes doch nicht so einfach vom Westen ĂŒberhört werden konnte.
Und dann kam Wladimir Putin
Wenn es allemal stimmt, dass er seiner russischen Heimat den persönlichen Stempel aufsetzte, muss auch gleichzeitig zugegeben werden, dass Wladimir Putins Charakter von Russland geformt worden ist. Am Ende des vorigen Jahrhunderts brauchte das Land dringend einen Chef, der imstande war, einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden, die ĂŒber Russland und die Russen hereinbrach. Einen Chef, der die Volksseele, die sagenhafte russische Seele, verstehen und achten konnte und etwas fĂŒr ihr GerechtigkeitsgefĂŒhl unternahm. Einen, der das Wohlergehen des Landes ĂŒber seine persönliche ProsperitĂ€t stellte und danach handelte â im Rahmen der vorliegenden Möglichkeiten gewiss, aber zielbewusst und mit Nachdruck. Boris Jelzin gebĂŒhrt ein nachhaltiger Dank der Nation dafĂŒr, dass er Wladimir Putins Kandidatur fĂŒr den Posten des PrĂ€sidenten Russlands vorschlug. Das war vielleicht seine einzige positive Tat als russisches Staatsoberhaupt.
Dem absoluten Neuling an der russischen politischen Spitze hingen keine Bindungen zu den Mafiosi um Jelzin nach, deren Machenschaften allgemein bekannt waren. Er wurde sofort zum HoffnungstrĂ€ger des Landes. Als solcher wurde er vom WĂ€hler akzeptiert. Vorschusslorbeeren mussten sich nachtrĂ€glich als verdient erweisen. Zwar stand Putin noch eine lĂ€ngere Periode des staatsmĂ€nnischen Heranreifens bevor, doch er arbeitete viel und gern. Er lernte das Land mit all seinen vielschichtigen Problemen und Schmerzen kennen. Andererseits lernte das Land Putin kennen â seine umsichtige Methode, mit Widrigkeiten fertigzuwerden, seinen Hang zu ĂŒberraschenden GegenzĂŒgen und seine Abneigung, Vertrauensleute aus seiner Umgebung bloĂzustellen. Man schĂ€tzte schnell seine GesetzesÂtreue und seine Art, sanft und gleichzeitig beharrlich vorzugehen. Letztlich bildete sich eine Art verlĂ€sslicher Verschmelzung des PrĂ€sidenten und seines Landes.
Putin bereist regelmĂ€Ăig das ganze Land. Zweimal im Jahr stellt er öffentlich einen direkten mehrstĂŒndigen mĂŒndlichen Kontakt zur Bevölkerung beziehungsweise zu Journalisten aller Schattierungen her, dessen Verlauf das Fernsehen an jeden Interessierten heranbringt. Nicht alle Politiker, auch in den wohlhabendsten LĂ€ndern der Welt, können von sich behaupten, sie kennen die Stimmung ihrer MitbĂŒrger. Putin kann das, und er handelt danach. Das ist der Grund dafĂŒr, dass er wie kein anderer in Russland das Vertrauen der ĂŒberwĂ€ltigenden Mehrheit seiner Landsleute besitzt. Es ist ein seltenes PhĂ€nomen nicht nur fĂŒr Russland, dass ein Spitzenpolitiker nach so vielen Jahren des Regierens solch eine phantastische PopularitĂ€t genieĂt wie Putin.
Dabei ist es fĂŒr jeden in Russland kein Geheimnis, dass das Land auch heute einen Haufen von Problemen hat. In der Wirtschaft rĂŒhren die einen noch aus der Sowjetzeit her â zum Beispiel die AbhĂ€ngigkeit des Staatshaushalts von den Einnahmen von Erdöl- und Erdgasausfuhren. Die anderen sind neu: Da Russland zielbewusst ein konstitutiver Teil der Weltwirtschaft geworden ist, wirken sich die Krisen der internationalen MĂ€rkte auch direkt auf den Zustand der russischen Wirtschaft aus. Aus den neunziger Jahren stammt die besonders schmerzhafte Unsitte der Verzögerung von Lohnauszahlungen in den Privatbetrieben, wenn dort finanzielle Schwierigkeiten aufkommen â und das passiert oft.
In der Innenpolitik bedingt die föderative Struktur des russischen Staates (85 Gebiete, Regionen und Nationalrepubliken) eine begreifliche Kompliziertheit der tÀglichen Verrichtung der Staatsangelegenheiten...