1. EinfĂŒhrung
Die NS-Zeit ist eine ZĂ€sur in der deutschen Geschichte, die auch die Literatur stark beeinflusst hat. Die Sicht auf die und der Umgang mit der Vergangenheit und besonders der NS-Vergangenheit, den Jahren des getrennten Deutschlands und des Mauerfalls wird zum wichtigen literarischen Thema. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit setzt sofort nach 1945 mit Kurzgeschichten, ErzĂ€hlungen, Hörspielen und Schauspielen ein. Sie fĂŒhrt in die Gegenwart und besteht fort in der jĂŒngsten Literatur, in Aufarbeitungen der DDR-Zeit, in Schilderungen des Mauerfalls und in Ortungen des durch ein vereintes Deutschland bedingten MentalitĂ€tswandels. Die Auslegungen reichen von novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten ErzĂ€hlungen, Chroniken deutscher Geschichte und RĂŒckgriffen auf die Antike bis zu kĂŒnstlerisch anspruchsvollen, groĂangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im MĂ€rchenland des Denkbaren existiert. Die im Einzelnen besprochenen Texte, die sowohl allen Lesern und Leserinnen vertraute als auch unbekannte Werke einschlieĂen, sollen die Diskussion vertiefen.
Im Umgang mit der Vergangenheit setzen nach 1945 die Autor(inn)en, besonders Ilse Aichinger, Jurek Becker, Heinrich Böll, Wolfgang Borchert, Willi Bredel und Elisabeth LanggĂ€sser, Akzente, die bis heute wirksam sind. Sie erneuern die in der Neuen Sachlichkeit ausgeprĂ€gte Tendenz, der realistisch-sachlichen Gestaltung von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen PrioritĂ€t einzurĂ€umen. DarĂŒber hinaus befragen und prĂ€zisieren sie eine in der Nachkriegsliteratur des Ersten Weltkrieges ersichtliche Grundform des Denkens, die sowohl ein Urteil ĂŒber als auch ein VerhĂ€ltnis zur Vergangenheit einschlieĂt. Sie ist deutlich ausgeprĂ€gt in Werken, in denen die verflossenen Kriegsereignisse ihren Schatten ĂŒber das Denken und Handeln der Figuren werfen. Sie kommt selbst dann unvermittelt zu Wort, wenn die Texte den Krieg keineswegs thematisieren. In der ErzĂ€hlhaltung, im Denken der Figuren und in eingeflochtenen Reflexionen der ErzĂ€hler wird einerseits ein eindeutiges ethisches und politisches Engagement erkennbar. Andererseits zeichnen sich Tendenzen ab, die sowohl Resignation ausdrĂŒcken als auch die Ohnmacht angesichts historischer AblĂ€ufe, die sich dem Eingriff Einzelner entziehen.
Aichinger, Böll und Grass erweitern und vertiefen die Fragestellung von Schuld und SĂŒhne. Wiederkehrende, aus wechselnder Perspektive entwickelte Motive und Themen, die zuweilen Vorstellungen aus den Entnazifizierungsprozessen ĂŒbernehmen, erwecken den Eindruck einer umfassenden Bestandsaufnahme. Die Texte schildern TĂ€ter und Opfer, willige Helfer und MitlĂ€ufer, Anpassung und aktiven oder inneren Widerstand, aber auch PflichterfĂŒllung und verfehltes Vertrauen auf eine neue Ordnung. Die Gemeinsamkeiten und gravierenden Unterschiede in der Einstellung zur Schuldfrage verleihen der Literatur einzelne scharf profilierte ZĂŒge. In der erzĂ€hlenden Literatur herrschen zuerst Anklage und Richten vor, spĂ€ter Aufarbeitung und Versuche, die Einstellung und das Verhalten Einzelner oder einer Gruppe zu verstehen. In der militĂ€rischen Erinnerungsliteratur setzt sich sofort die Berufung auf den Ausnahmezustand und die mit ihm verbundenen Fragen von PflichterfĂŒllung und dem kriegsbedingten Handeln Einzelner durch.
Die frĂŒhen Auseinandersetzungen mit der besonderen historischen Entwicklung in Deutschland, den kollektiven wie auch individuellen Verhaltensweisen und dem Wirken Einzelner wĂ€hrend der NS-Zeit und im Krieg erwecken erzĂ€hltechnisch den Eindruck dokumentarischer Treue. Sie vereinheitlichen die FĂŒlle realistisch geschilderter Einzelheiten durch die Konzentration auf die inneren und Ă€uĂeren Konflikte, die Entscheidungen, das Handeln und die Unterlassungen von Einzelfiguren. Auf diese Art entstehen ErzĂ€hlungen, in denen qualvoll leidende Verfolgte und WiderstandskĂ€mpfer, gewalttĂ€tige Offiziere und unentschieden zögernde Landser zu Wort kommen.
Die Darstellungen setzen ein Verhalten voraus, das nicht ableitbar ist von zeitbedingtem Handeln der Menschen, die die Orientierung verloren haben, keine sicheren MaĂstĂ€be fĂŒr ihre Entscheidungen finden und sich dem kollektiven Interesse fĂŒgen. Zuweilen unausgesprochen, zunehmend hĂ€ufig in Dialogen und SelbstgesprĂ€chen der Figuren zeichnet sich eine ethisch verankerte, zeitlose Deutung des verantwortlichen Handelns ab. Der Blick zurĂŒck, sei er von Beteiligten, Ăberlebenden, Kindern oder Enkeln, erfasst die Vergangenheit aus einer Sicht des richtigen und falschen, sittlichen und unsittlichen Handelns. Alle Nachkriegsautoren, die sich mit der NS-Zeit und dem Krieg auseinandersetzten, trugen zu einem wachsenden historischen Bewusstsein bei und haben maĂgeblichen Anteil an der Entwicklung eines kollektiven SelbstverstĂ€ndnisses. Sie betrachten die Vergangenheit als ein unabgeschlossenes Kapitel, als einen im Entstehen begriffenen Entwurf einer umfassenden Dokumentation.
Was ist das, die Vergangenheit? Der Begriff kennzeichnet geschichtlich ĂŒberlieferte Ereignisse aus einer zurĂŒckliegenden Zeit. Die Ăberlieferung umfasst jedoch ein weites Feld: Quellen, historische Darstellungen, die zugleich Interpretationen sind, Tatsachenberichte, soziologische, politische, philosophische Auslegungen und literarische Konzeptionen.Historische AusfĂŒhrungen teilen gewöhnlich Geschichte in zusammenhĂ€ngende Abschnitte ein, die eine Verstehenseinheit bilden. Jeder Abriss enthĂ€lt eine der Schilderung angemessene Abstraktionsebene. FĂŒr die Beurteilung historischer Prozesse bleiben die im Schnittpunkt literarischer Schilderungen liegenden Schicksale, Freuden und Leiden, Erfolge und Misserfolge Einzelner im Hintergrund. Deshalb besteht grundsĂ€tzlich eine tiefgreifende Spannung zwischen dem Kollektivgeschehen und dem Schicksal Einzelner. Literarische Texte konzentrieren sich auf diesen Schnittpunkt zwischen kollektiven und persönlichen Erfahrungen und versuchen, im individuellen Erlebnis die geschichtliche Dimension anzudeuten und ein Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, das im Konkreten das Allgemeine erfasst.
Historiker konstatierten, dass es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 keine Möglichkeit gab, sinnvoll an die vorausgegangenen Zeiten anzuknĂŒpfen.3 Kulturgeschichtlich orientierte Untersuchungen verdeutlichen jedoch tiefgreifende Verflechtungen und Traditionen, die Schwerpunkte fĂŒr das VerstĂ€ndnis eines historischen Ablaufs formen.4 Die Literatur verdeutlicht die Problematik in historischen Untersuchungen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern objektive, faktische Darstellungen der Vergangenheit ĂŒberhaupt möglich sind oder ob jedes Urteil von persönlichen Erfahrungen der Wissenschaftler beeinflusst wird.5 Die kritische Aneignung, Distanzierung und tiefgreifende Umwertung der historischen Bewusstseinslage verlĂ€uft in drei Phasen. In ihrem Ablauf setzt sich die Erkenntnis durch, dass jede Erinnerung an und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von der jeweils gegenwĂ€rtigen gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt wird. Individuelle und kollektive Erinnerungen hĂ€ngen von den zeitbedingten, zurĂŒckliegenden und gegenwĂ€rtigen UmstĂ€nden ab. Die Entwicklung setzt nach 1945 in den Auseinandersetzungen mit der deutschen NS-Vergangenheit ein, wird in der Literatur der sechziger bis achtziger Jahre in der Fragestellung erweitert und prĂ€gt literarische Ortungen und möglicherweise das SelbstverstĂ€ndnis einzelner Autor(inn)en bis heute. Begrifflich schlieĂt die Denkform Fragen von persönlicher Verantwortung, sittlichem Handeln wie auch Schuld und SĂŒhne ein. Die Entwicklung mĂŒndet schlieĂlich in die eigenartige Situation, in der die Vergangenheit scheinbar unvermittelt in die Texte hineinredet, zur Kurzformel fĂŒr eine alle Deutschen belastende ErbsĂŒnde geworden ist, aber zugleich im Blick zurĂŒck zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit wird.
Die Vergangenheit lebt auf, sobald Autor(inn)en Figuren entwerfen, die ĂŒber sich nachdenken und ihr persönliches SelbstverstĂ€ndnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen SelbstverstĂ€ndnis trennen lĂ€sst. Diese VergegenwĂ€rtigungen haben eine gemeinsame historische Substanz. Sie sind einerseits individualisiert, da ErzĂ€hlungen die Ereignisse aus der Perspektive und ErlebnissphĂ€re Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen ErzĂ€hlverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Generation, die manchmal zu FamilienzerwĂŒrfnissen fĂŒhren. Fragen, Dialoge und SelbstgesprĂ€che erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Verstehen der Geschichte anbahnt. DarĂŒber hinaus stoĂen die Darstellungen auf schwer zu beantwortende Fragen, die die nationalsozialistische Vergangenheit betreffen. Die gegenwĂ€rtigen politischen Debatten ĂŒber Schuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, aber auch Schlussstrich, einseitige Stilisierung und Anklagen gegen die TĂ€tergeneration, sowie Erkundung der Leiden einer verfĂŒhrten Generation wiederholen sich in den ErzĂ€hlungen.
Die Befragung der Vergangenheit nimmt vielfĂ€ltige Formen an. Sie kann direkt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird. Darstellungen erwecken zuweilen, besonders wenn sie auf historisch belegbare Ereignisse zurĂŒckgreifen, den Eindruck realistischer Berichterstattungen. Deutlich erkennbar sind markante stilistische Unterschiede zwischen kritisch reflektierten Auseinandersetzungen und Schilderungen von Kriegserlebnissen, die versuchen, authentisch ĂŒberzeugend, aus der Nahperspektive Ereignisse festzuhalten. Die Nahperspektive verwickelt Leser. Der Anspruch auf AuthentizitĂ€t â ich sehe, fĂŒhle, spĂŒre â ist besonders deutlich ausgeprĂ€gt in der Kriegsliteratur. Er verbĂŒrgt, dass das Vergangene im Text, belegt durch Dokumentationen, die sich auf eigene Erlebnisse, Aussagen von Zeitzeugen, Briefe und Nachrichten aller Art (Zeitungen, Radio, Wochenschauen) stĂŒtzen, zuverlĂ€ssig und glaubwĂŒrdig festgehalten ist. Die eingehende Untersuchung der Kriegsliteratur zeigt jedoch einerseits RĂŒckgriffe auf tradierte Motive in der Kriegsthematik, andererseits dass das GedĂ€chtnis der Autoren nachhaltig individuell gefĂ€rbt ist. Die Befragung ist ferner integriert in Generationskonflikten, die ihren Ursprung in der Sensibilisierung fĂŒr die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von IdentitĂ€tskrisen stehen; sie bildet den Rahmen fĂŒr autobiographische Darstellungen, die das VerhĂ€ltnis Einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknĂŒpft mit primĂ€ren Themen (Anpassung; Entwicklungsthematik; Holocaust; Reifung; Selbst- und Welterkenntnis) und Motiven (Konflikte zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Vater und Sohn oder Tochter). In Auseinandersetzungen mit der jĂŒngsten Vergangenheit des geteilten Deutschlands kommen hinzu: Utopie und Verlust der utopischen Vision; alle Bereiche des Alltagslebens im sozialistischen Staat; Stasi und Spitzelunwesen. Die erstaunliche SensibilitĂ€t fĂŒr die politische Vergangenheit ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Einerseits regt die Bestandsaufnahme der gegenwĂ€rtigen Situation zur Befragung der Vergangenheit an. Andererseits entwerfen zahlreiche Autoren ErzĂ€hlungen, in denen die Vergangenheit als wirksames Kolorit fĂŒr das Geschehen dient.
Der Anspruch, authentisch zu berichten, ist auĂerdem besonders ausgeprĂ€gt in fiktiven historischen ErzĂ€hlungen, die sich auf LebenslĂ€ufe unbekannter, vergessener oder umgedeuteter âPersonenâ konzentrieren. Das Verfahren, klar ersichtlich in Geschichten von Wolfgang Hildesheimer (Marbot. Eine Biographie. 1981), Christoph Ransmayr (Die Schrecken des Eises und der Finsternis. 1984) und Horst Stern (Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Friedrich II. 1986), stellt eine Figur in den Schnittpunkt des Geschehens, die keine Spuren hinterlieĂ und deshalb von Historikern ĂŒbersehen wurde. Diese ErzĂ€hlungen verwischen bewusst die Grenze zwischen Geschichte, Vergangenheit und Fiktion.
In anderen Darstellungen erscheint zuweilen die Gegenwart aus der Perspektive einer erstrebenswerten ausgeglichenen Gesellschaftsordnung. Die Vergangenheit dagegen erweckt den Eindruck einer unabgeschlossenen Akte. Sie prĂ€gt die Gegenwart und kommt deshalb in manchen Texten in Ereignissen oder Reflexionen der ErzĂ€hlstimmen unvermittelt zu Wort. So entsteht der Eindruck, die Geschichte rede noch immer in alles Geschehen hinein. Die GesprĂ€che verleihen den Figuren aus der Vergangenheit plastisch-realistisches Sein. Sie geben den Verstorbenen, den Stummen und denen, die zum Schweigen verurteilt waren, die Stimme zurĂŒck. Die Autor(inn)en versetzen sich in die Lage der direkt Beteiligten, der Opfer, TĂ€ter, MitlĂ€ufer und aller, die innerlich das Regime ablehnten, aber den UmstĂ€nden erlagen. Sie verfolgen den eigentĂŒmlichen Sachverhalt, dass die Vergangenheit selbst frĂŒher fĂŒr die damals Lebenden Zukunft und Gegenwart war. Der Dialog mit der Vergangenheit vermittelt Eigenheiten des Denkens, die dem Erkenntnisvermögen des Publikums entgegenkommen. Es erkennt im Lesevorgang seine eigenen BemĂŒhungen, historische Entwicklungen zu begreifen. DarĂŒber hinaus schlieĂt der Appell an verantwortliches Handeln in der Andeutung, dass das Leben Einzelner in der sozialen und historischen Vernetzung letztlich sinnvoll sein kann, sowohl Sinnsuche und Sinnstiftung ein.
RĂŒckblenden, besonders in Texten, in denen die Figuren mit Fragen des SelbstverstĂ€ndnisses ringen, erwecken zuweilen den Eindruck der Zwangsfixierung. In Wolfgang BĂ€chlers ErzĂ€hlung Im Schlaf. Traumprosa (1988) greifen Entsetzen und Angst vor dem Terror auf die Gegenwart ĂŒber und werden zur permanenten Bewusstseinslage. Der TrĂ€umende fĂŒrchtet Beamte, FunktionĂ€re, sterbende Menschen und die verrinnende Zeit. Er spĂŒrt wie er erst in eine Uniform gesteckt und dann ins KZ verschleppt wird. Er ist auf der Flucht, irrt hilflos umher und wird beraubt und gefoltert. SchlieĂlich schlagen ihm Soldaten einer Besatzungstruppe die ZĂ€hne aus. Die Vergangenheit wird zum Bild des Schreckens, das sich zeitlos wiederholt. In anderen Texten kommt es unvermittelt zu Beobachtungen, die an Tagesnachrichten und vorausgegangene Literaturdiskussionen anschlieĂen oder Familiengeschichten aufgreifen. So stolpert beispielsweise ErsiĂ«s in Matthias Zschokkes ErzĂ€hlung ErSieEs ĂŒber die Schwelle eines SĂŒĂwarengeschĂ€fts und muss an den stolpernden GroĂvater denken. Die Vergangenheit infiziert den Sprecher; der elliptische Abriss der Vergangenheit mĂŒndet in ein eigenes SchuldgefĂŒhl. âGroĂvater hat trĂŒbe Augen GroĂvater war im Widerstand GroĂvater furzt bei jedem Schritt GroĂvater braucht zwei Stöcke zum Gehen So ein vierfĂŒĂiger Schritt braucht seine Zeit GroĂvater war Oberarzt im Untergrund GroĂvater hat noch Paul Lincke kennengelernt GroĂvater ist ein Original GroĂvater besitzt ein Original GroĂvater fĂ€hrt einen Thunderbird GroĂvater war ein Arbeiter Ich stamme aus richtigem Arbeitermilieu GroĂvater hat sich beinahe verschworen GroĂmĂŒtterlein ward umgebracht von eurer bösen Nazimacht damit verdien ich Geld denn ich erzĂ€hlâs der Welt ⊠/ Hoppla. / Eben wollte sie âihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen bezĂŒglich Kollektivwahnsinn, geknechtetgefoltertgekettetgegeiĂeltgedemĂŒdigt, Auflehnung, Empörung, Verzweiflung, Anklageâ.â Zschokke fĂ€hrt fort mit der Feststellung, dass immer Dolmetscher zur Stelle sind, die âĂŒbersetzen und verzeihenâ werden.6
Sicherlich gab und gibt es fĂŒr die Literatur nie absolute ZĂ€suren und fĂŒr thematisierte Geschichtsereignisse keine Nullpunkte. Die Literatur nimmt Stellung, verarbeitet und gestaltet die Weltkriege, die Weimarer Republik, Hindenburg, Hitler, Gleichschaltung, Kristallnacht, das Dritte Reich, Holocaust, NĂŒrnberg, das geteilte Deutschland, die neue Welt. Christoph Hein konstatiert in seinem Essay âDie Zeit, die nicht vergehen kann oder Das Dilemma des Chronistenâ, dass das Vergangene bestĂ€ndig gegenwĂ€rtig ist. âIch jedenfalls bezweifele, daĂ es das Wesen der Vergangenheit ist, nicht Gegenwart zu sein. Im Gegenteil: Vergangenheit ist der unverĂ€nderbare, sichere und weitgehend auch gesicherte Teil unserer Gegenwart, freilich auch der durch seine UnverĂ€nderbarkeit, durch die Unmöglichkeit jeder nachtrĂ€glichen Korrektur beunruhigendste und verstörendste Teil unserer Gegenwart. Denn Vergangenheit vergeht nicht, kann nicht vergehen, so wie die Toten nicht sterben und kein zweites Mal begraben werden können.â7 Die Befragung der Eigenart des Vergangenen steht mitunter im Mittelpunkt einzelner ErzĂ€hlungen, die LebenslĂ€ufe in auf- oder absteigender Linie aus den dreiĂiger, den vierziger und den Kriegsjahren schildern. Sie taucht sporadisch in der Kriegsliteratur auf. Sie klingt im Schrifttum an, das sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt oder alternative GeschichtsablĂ€ufe schildert. Die Antworten vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in die wechselnde geistige Verfassung der Autoren und Autorinnen seit 1945. Sie sind vereinzelt als Augenzeugenberichte simplifiziert. Sie schwingen gelegentlich mit in der Reaktion von Figuren, die entweder verstummen oder Fragen kopfschĂŒttelnd mit dem Hinweis ablehnen: âdas können nur die verstehen, die das selbst erlebt haben.â Die Hinweise und ErklĂ€rungen erhöhen durch die VerknĂŒpfung von VergangenheitsbewĂ€ltigung, Schuld, möglicher SĂŒhne und Vergebung die Spannung in vielen Texten. Sie durchkreuzen literaturkritische Urteile. Sie fordern das Lesepublikum zur Stellungnahme auf. Sie regen an, belasten und verlangen ethische Entscheidungen.
Die Literatur beleuchtet die Verflechtung von Stoff, Sujet, Thema und Motiv.8 Dieser Sachverhalt ist deutlich in Texten, die in der Vergangenheit verankert sind. In einigen ĂŒberwiegen die mit der stofflichen Substanz verknĂŒpften Vorstellungen, beispielsweise Krieg, Heimkehrer, der gute Kamerad, der böse Feind, Seeschlacht, Auschwitz, Stalingrad, Leningrad oder Dresden. In anderen wird ein klar umrissenes Sujet (Heimkehr ins Reich, Holocaust) zum dominanten FunktionstrĂ€ger. Die Gegenwartsliteratur verdeutlicht: das Thema Vergangenheit umfasst eine enge, möglicherweise unlösbare Bewusstseinslage, in der Verirrung, Verneinung, individuelle und kollektive Schuld, BewĂ€ltigung, fiktive Darstellung und selbst ins mythische gesteigerte Konzeptionen anklingen. Die literarische Dokumentation und die âauthentisch...