Im Anfang war die Krise
Die erste literaturwissenschaftliche Fachpublikation, die ich 1992, im Jahr meines Studienbeginns, erwarb, war der im selben Jahr erschienene Band Literaturwissenschaft â Ein Grundkurs. Darin erörtern die Herausgeber die »Legitimationskrise der Literaturwissenschaft« und konstatieren ein »tiefgreifende[s] KrisenbewuĂtsein« unter Literaturwissenschaftler*innen (Brackert und StĂŒckrath 1992: 690). Und 2017, ein Vierteljahrhundert spĂ€ter, zeigt ein Spiegel-Artikel (vgl. Doerry 2017) und die dadurch ausgelöste Debatte in den deutschsprachigen Feuilletons (vgl. Kastberger 2017; DrĂŒgh et al. 2017; Martus 2017; Börnchen 2017), dass dieses âșKrisenbewusstseinâč weiter anhĂ€lt. Die Krise wird dabei in erster Linie darin gesehen, dass der Wert und die gesellschaftliche Relevanz des literaturwissenschaftlichen Tuns angezweifelt wird; und ErklĂ€rungsversuche zielen grosso modo immer in die folgenden Richtungen: »Schuld ist entweder die vermittlungsunfĂ€hige Literaturwissenschaft oder der Ăkonomismus und die ZweckrationalitĂ€t der modernen Industriegesellschaft, welche die Literatur und die Literaturwissenschaft zunehmend marginalisieren.« (Brackert und StĂŒckrath 1992: 695) Anders gesagt: Die Literaturwissenschaft verpasst es einerseits, ihre Erkenntnisse didaktisch sinnvoll aufzubereiten und auf diese Weise gesellschaftlich verfĂŒgbar zu machen; und andererseits werden diese Erkenntnisse in der Gesellschaft auch gar nicht nachgefragt. Derart entsteht das desolate Bild eines Fachbereichs, der emsig an Dingen herumwerkelt, sich dabei aber im gesellschaftlichen Abseits befindet und derart ĂŒberhaupt nicht wahrgenommen wird.
Ich möchte mich im vorliegendem Beitrag in einem ersten Schritt vertieft auf dieses âșKrisenbewusstseinâč einlassen und aufzeigen, dass es tatsĂ€chlich genuin und systembedingt zur Literatur und zum professionellen Umgang mit ihr gehört. Vor diesem Hintergrund werde ich darauf darlegen, wie Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik aussehen können, wenn sie diese Krise selbstbewusst zum Ausgangs- und Fluchtpunkt des eigenen Tuns machen und entsprechend âșkrisenbewusstâč agieren. Hierzu sollen Schlaglichter auf zwei Szenarien geworfen werden: Einerseits auf eine spezifische literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die sich als wertvoller Beitrag an die Klimawandelforschung versteht; und andererseits â etwas ausfĂŒhrlicher â auf einen konkreten Vermittlungsprozess im gymnasialen Literaturunterricht, der einen Kafka-Text mit der gegenwĂ€rtigen FlĂŒchtlingskrise in Bezug zu setzen versucht. Die Zusammenstellung der beiden Szenarien mag dabei zufĂ€llig anmuten, ist aber immerhin erfahrungsgesĂ€ttigt, ergibt sie sich doch aus meinen eigenen TĂ€tigkeitsbereichen.
Die Krise als konstitutives Merkmal der Literatur(-wissenschaft)
Der Begriff der âșLiteraturâč ist voraussetzungsreich und daher nicht einfach zu bestimmen. Ich möchte Literatur mit Luhmann im Sinne eines Teilsystems der Gesellschaft verstehen, das sich im Zuge der funktionalen Differenzierung dieser Gesellschaft herausgebildet hat, ihr gegenĂŒber spezifische Leistungen erbringt und dabei auf das Beobachten von Beobachtungen abstellt (vgl. Luhmann 1996). Oder in eigenen Worten (vgl. fĂŒr das Folgende Hofer 2007: 178â221): Mit Literatur sind in diesem Beitrag Texte gemeint, die Ă€sthetisch gestaltet sind und ĂŒber die reine Informationsvermittlung hinaus auch auf diese Gestaltung und die darin grĂŒndende Eigengesetzlichkeit aufmerksam machen wollen. Literatur ist demnach als Zusammenspiel sprachlicher Formen anzusehen, die sich wechselseitig kommentieren und ein Ganzes ergeben; dabei kann man als Beobachter*in erkennen, dass etwas kĂŒnstlich hergestellt und mit Mitteilungscharakter versehen wurde, also als kommunikatives Angebot zu sehen ist. Aber man erkennt auch, wenn man sich wirklich auf die literaturspezifische Kommunikation einlĂ€sst, dass die Botschaft generell mehrdeutig und mehrdimensional ist: Die Reduktion auf nur eine Deutung wĂŒrde dem literarischen Text nicht gerecht. Literatur bietet damit keine einfache Information ĂŒber die âșWeltâč, stellt eine âșWeltâč vielmehr erst eigentlich her. Und sie sagt damit nicht: So ist es, sondern: So könnte es sein â und es wĂ€re auch ganz anders möglich, womit das (potentielle) âșNichtwissenâč als Horizont immer prĂ€sent bleibt. Sie kĂŒmmert sich derart um die Herstellung von Weltkontingenz, trainiert die Leser*innen darin, mit VorlĂ€ufigkeiten und ungesichertem Wissen umzugehen. Und sie fordert einen geradezu auf, in kreativer Weise Deutungshypothesen auszuprobieren, zu verwerfen und neu zu bilden.
Doch die Literatur leistet noch mehr. Denn das Lesen von Literatur erfordert, indem es zur Verlangsamung und Intensivierung des Beobachtens anhĂ€lt, das Aktualisieren und Vergleichen verschiedener Sichtweisen und damit das Denken in Alternativen. Und dieses Denken fĂŒhrt auf die Denkenden selbst zurĂŒck, die die Alternativen setzen und gegeneinander abwĂ€gen. Daraus folgt dann: Genau so, wie ich die Literatur beobachte, beobachte ich im Prinzip auch die Welt: Auch hier setze ich Deutungshypothesen, und auch hier muss ich diese immer mal wieder verwerfen. Nur merke ich dies in der Auseinandersetzung mit der Welt â im Gegensatz zur Literatur â kaum, denn diese ist eben nicht âșzwecklosâč wie die Kunst, bindet meine Wahrnehmung dementsprechend weniger. Ich beobachte mit anderen Worten viel flĂŒchtiger und gleichzeitig gezielter im Hinblick auf eine spezifische Information, die ich fĂŒr die BewĂ€ltigung des Alltages brauche. Und ich bin also kaum zwingend dazu aufgefordert, meine eigenen Beobachtungen zu hinterfragen und RĂŒckschlĂŒsse zu ziehen; darauf, dass die Welt an sich unbeobachtbar ist und dass ich stattdessen nur Formen beobachte â meine eigenen Unterscheidungen â, die ich grundsĂ€tzlich selbst in diese Welt einbringe. Das âșliterarische Beobachtenâč eröffnet also im Sinne einer âșepistemologischen Irritationâč die Erkenntnis, dass ein âșunverstellterâč und objektiver Blick auf die Welt nicht möglich, dieser vielmehr immer durch die eigene Beobachtungsleistung âșkontaminiertâč oder â positiv gesprochen â mitgestaltet ist. Dies wird in der Auseinandersetzung mit Literatur erfahrbar. Und die Literaturwissenschaft â verstanden als »Reflexionswissenschaft der Literatur« (Berendes 2005: 69) â kann diese spezifische Leistung der Literatur herausarbeiten und begrifflich fassbar machen.
Aus dieser genuinen Leistung der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft ergibt sich nun das oben konstatierte âșKrisenbewusstseinâč, das zwei eng miteinander verbundene Konsequenzen hat. Erstens muss die Literaturwissenschaft das âșNichtwissen als Ausgangspunkt und Horizontâč und also die Kontingenz und VorlĂ€ufigkeit des Verstehensprozesses und damit des eigenen Tuns im Forschungsprozess implementieren und ganz auf das immer wieder neue Ausprobieren von Deutungshypothesen abstellen, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. Sie kĂ€mpft also gewissermaĂen damit, dass ihr Gegenstand prinzipiell nie ausbeobachtet ist und jede Erkenntnis immer das Sigel der VorlĂ€ufigkeit trĂ€gt. Und daraus folgt, dass die Literaturwissenschaft keine gesellschaftlichen Probleme lösen kann, auch nicht momenthaft; ihre Erkenntnisse sind entsprechend schwieriger gesellschaftlich zu vermitteln als solche aus stĂ€rker solutionistisch orientierten Wissenschaften. Und zweitens dĂŒrfte sich die Gesellschaft im Prinzip durch die genannte epistemologische Irritation dazu veranlasst sehen, ihr Beobachten laufend zu reflektieren, zu revidieren und damit im Sinne von Kontingenz offen zu halten. Doch offenbar kann die Gesellschaft nicht allzu viel anfangen mit diesem Angebot, das sich aus der spezifischen Beschaffenheit der Literatur ergibt, und bekundet wenig Interesse an dieser Erkenntnis, die die Literaturwissenschaft herausarbeitet. Denn im tĂ€glichen Umgang mit der Welt sind wir gewohnt, einen direkten Zugang zu ihr zu pflegen, schnell Entscheidungen zu fĂ€llen und derart Situationen zu meistern und Probleme zu lösen. Und diesen Zugang zur Welt suchen wir daher beizubehalten â auch dann, wenn wir mit komplexen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert sind, die sich einer âșeinfachen Lösungâč entziehen. Entsprechend haben Literaturwissenschaftler*innen »groĂe Schwierigkeiten, im Wettbewerb mit den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen und âșhartenâč Humanwissenschaften ihre Existenznotwendigkeit öffentlich zu legitimieren« (Brackert und StĂŒckrath 1992: 690). Doch dem mĂŒsste nicht so sein, wie gleich aufgezeigt werden soll.
Der Beitrag der Literaturwissenschaft an die Klimawandelforschung
Als eine der gröĂten Herausforderungen im Zeitalter des AnthropozĂ€n (vgl. Crutzen und Stoermer 2000) gilt die menschengemachte globale KlimaerwĂ€rmung. Diese bedroht die Zukunft der Menschheit auf der Erde; dementsprechend unternimmt der Mensch groĂe Anstrengungen, um die KlimaerwĂ€rmung und ihre katastrophalen Folgen einzudĂ€mmen. Prinzipiell sind alle Wissenschaftsbereiche bei der »Transformation zur klimavertrĂ€glichen Gesellschaft« (WBGU 2011: 341) gefordert. Diese transformative Forschung wird zwar im Grunde interdisziplinĂ€r verstanden; de facto ist sie jedoch gegenwĂ€rtig klar von den positivistischen Disziplinen der Natur- und Technikwissenschaften geprĂ€gt, so dass die Herausforderungen des anthropogenen Klimawandels vorwiegend als Fragen technischer Innovation und politisch-ökonomischer Steuerung behandelt werden. Und wenn Angebote zur Zusammenarbeit erfolgen, dann wird statt wechselseitigem interdisziplinĂ€ren Austausch eher eine Integration angestrebt; den Geistes- und Kulturwissenschaften kommt darin lediglich die Aufgabe zu, Akzeptanz und VerstĂ€ndnis fĂŒr das in den Natur- und Technikwissenschaften generierte Wissen zu fördern und damit Vermittlungsarbeit zu leisten (vgl. Hulme 2011; Lövbrand et al. 2015). Diese einseitige EngfĂŒhrung von Wissenschaft auf das Lösen gesellschaftlicher Probleme und das âșBearbeiten von Weltâč sollte kritisch betrachtet werden, weil derart die andere Seite von Wissenschaft, das âșVerstehen von Weltâč, ausgegrenzt wird. Zudem bleibt in...