1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne
Warum Romane lesen, die in GroĂbritannien im 19. und frĂŒhen 20. Jahrhundert entstanden â ausgewĂ€hlte Romane von Charles Dickens, Charlotte und Emily BrontĂ« und von Virginia Woolf? Was bieten diese Romane Rezipient/innen, die an der Goethe-UniversitĂ€t des 3. Lebensalters zu Frankfurt/M Literaturseminare im Fachbereich Anglistik freiwillig und aus Interesse besuchen?
Zum einen eröffnen die ErzĂ€hlwelten Einblicke in eine zurĂŒckliegende Kultur, die bis in die Gegenwart hinein wirkt. Zugleich setzen sie eine selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung in Gang, in der die Rezipient/innen, im ErschlieĂen dieser ErzĂ€hlwelten, ihre Werte und Normen aufs Spiel setzen. Sieht man mit JĂŒrgen Straub persönliche IdentitĂ€t als normativen und sozialen Anspruch, den Individuen zwar an sich selbst stellen, aber auch wissen, dass sie ihn nicht erfĂŒllen können,1 so kommen im ErschlieĂen der ErzĂ€hlwelten Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, der Autonomiebildungsmöglichkeiten und ihrer Vorenthaltungen oder Verhinderungen ins Spiel, die im Horizont eines Sich-in-der Zeit-Verstehens, anhand komplexer ErzĂ€hlfiguren und ihrer Einbindung in die jeweilige Gestalt der ErzĂ€hlwelten erarbeitet und Ă€sthetisch erfahren werden können.
Wie alle modernen Romane gestalten auch Romane, die seit Beginn der Moderne um 1750 in GroĂbritannien entstanden, Erforschungen des Ich, in die das Paradoxon persönlicher IdentitĂ€tserfahrung in der Moderne eingelassen ist.
Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott fasst dieses Paradoxon als Kommunikation des sozialen Selbst mit einer nicht-kommunizierbaren Energie des persönlichen Selbst. Diese Energie muss sich der Mensch bewahren, will er nicht zum auĂengelenkten, falschen Selbst werden. Sie macht seine Menschlichkeit aus, die die Gesellschaft als sein Heiligtum unangetastet lassen sollte:
Im Zentrum jeder Person ist ein Element des âincommunicadoâ, das heilig und höchst bewahrenswert ist (âŠ). (Ich) glaube, daĂ dieser Kern niemals mit der Welt wahrgenommener Objekte kommuniziert, und daĂ der Einzelmensch weiĂ, daĂ dieser Kern niemals mit der Ă€uĂeren RealitĂ€t kommunizieren oder von ihr beeinfluĂt werden darf (âŠ). (Jedes Individuum ist) in stĂ€ndiger Nicht-Kommunikation, stĂ€ndig unbekannt, tatsĂ€chlich ungefunden.2
Das von Winnicott formulierte Paradox persönlicher IdentitĂ€tserfahrung besteht demnach darin, dass im individuellen Allein-sein-Können âeine auĂerhalb des einzelnen liegende Bedingung (âŠ), eine soziale Bedingungâ3, zur Geltung kommt, die im Zusammenspiel von Selbstakzeptanz, Verhandelbarkeit persönlicher IdentitĂ€t und selbstorganisertem Leben, den potenziellen Raum des Selbst zwischen sich und signifikanten Anderen öffnet.
Nach JĂŒrgen Straub besteht das Paradox persönlicher IdentitĂ€t in sozialpsychologischer WeiterfĂŒhrung darin, dass es die Erfahrung â(âŠ) einer Einheit (ist), die unabschlieĂbar, entzweit, unangreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwĂ€hrend unerreichbar bleibt.â4
Im Laufe eines Entwicklungs- und Bildungsweges entstehen individuelle Handlungspotenziale, die, weil sie sich in Interaktionen mit signifikanten Anderen entwickeln, komplexe und reiche IdentitĂ€tsbildungsmöglichkeiten entstehen lassen, die Konstrukte einer tautologischen IdentitĂ€t als Sich-Selbst-Gleichheit nicht ermöglichen. Persönliche IdentitĂ€t, so Straub, âmeint aspirierte, angestrebte, imaginierte IdentitĂ€tâ, die die Handlungspotenziale einer Person konstituiert und ihre Verhaltensweisen motiviert.5 Mit Erikson grenzt Straub eine fĂŒr Erfahrungen offene persönliche IdentitĂ€t von einer IdentitĂ€tsdeutung ab, die IdentitĂ€t als totalitĂ€r strukturiertes Zwangs- und GewaltverhĂ€ltnis sieht.6 Aus der Unterscheidung von TotalitĂ€t und IdentitĂ€t gewinnt Straub das Konzept âtransitorische(r) IdentitĂ€tâ7, dessen konstitutives Elemen ein âunhintergehbare(r) Selbstentzugâ ist,8 der in diachroner und synchroner Differenzierung zur Grundlage einer offenen und kreativen Persönlichkeit mit der FĂ€higkeit zur Selbsttranszendierung wird.9
Aus dieser resultiert ein Weltinteresse, das menschliches Leben nicht als funktionales Teilelement eines ĂŒbergreifenden Zusammenhanges sieht, sondern als Sinn-Ganzes entwirft:
Jedes menschliche Leben ist (âŠ) ein Sinn-Ganzes. Der einzelne hat selbst seine Handlung in einem unbedingten Sinne zu verantworten. Sogar wenn er versuchsweise handelt, experimentell, sogar wenn er die Folgen seiner Handlung nicht absehen kann, so ist doch die Tatsache, daĂ er hier und jetzt dies oder das getan hat oder nicht getan hat, ein unwiderrufliches Faktum und als solches fĂŒr immer Bestandteil seines Lebens. Als solches hat er es zu verantworten.10
Aus der Ambivalenz der Moderne, dass wir gleichzeitig um die Determiniertheit wissen, die uns in ĂŒbergreifenden ZusammenhĂ€ngen als Teilmomente hĂ€lt und der menschlichen Freiheit als radikaler UnabhĂ€ngigkeit, folgt nach Robert Spaemann die individuelle Erkenntnis, dass es kein voraussetzungsloses Handeln gibt und man aus gegebenen Bedingungen das Bestmögliche, auch hinsichtlich ihrer dringenden VerĂ€nderungen, machen sollte. Da Handeln immer auch sich loslassen können, seine Intentionen aus der Hand geben können, bedeutet, ist Gelassenheit gegegenĂŒber GeschehenszusammenhĂ€ngen und gegenĂŒber einer erfahrungsoffenen Zukunft, eine Vernunftshaltung, die vor Resignation bewahrt und zur Bedingung eines geglĂŒckten sinnbezogenen subjektiven Lebens werden kann.11
Martin Seel bezeichnet diese Paradoxie als Erfahrung persönlicher Autonomie, die sich selbst in reflektierter Akzeptanz des sie Bestimmenden bestimmen kann.12 Susan Neiman versteht unter persönlicher Autonomie die FĂ€higkeit und den Mut erwachsen zu werden, ein GespĂŒr fĂŒr den eigenen Charakter zu entwickeln, weil âIntegritĂ€t (âŠ) niemals statisch (ist); dazu ist sie zu leicht zu verlieren.â13
Auch archaische Mythen und Feste â verstanden als Augenblicke âgesteigerter LebensintensitĂ€tâ14 â sowie Kunstwerke, die wie Feste zum Verweilen einladen,15 verwandeln gesellschaftliche FunktionszusammenhĂ€nge in holistische Erfahrungen. Ganzheitlichkeit liegt als Weltinteresse und Erfahrung immanenter Transzendenz, die sich der Ambivalenz in Bezug auf die DignitĂ€t menschlicher WĂŒrde und menschlichen Lebens stellt,16 in mythopoetischer Gestaltung modernen Romanen zugrunde.17
Ernst Tugendhat definiert immanente Transzendenz als FÀhigkeit des modernen Menschen, sich seine Werte in nachmetaphsischer Zeit selbst erschaffen zu können:
Statt vorgegebene, scheinbar ĂŒbersinnliche Werte zu befolgen, soll der Mensch jetzt seine Werte selbst schaffen. Das bedeutet, daĂ das Transzendieren auf einen Sinn hin in das Innere des menschlichen Seins zurĂŒckgenommen wird. Man kann also (âŠ) von einer immanenten Transzendenz sprechen, von einem Ăbersichhinausgehen, das nicht mehr ein Ăbersichhinausgehen zu etwas Ăbersinnlichem ist, sondern ein Ăbersichhinausgehen innerhalb des Seins des Menschen.18
Immanente Transzendez, mythopoetisch gestaltet, öffnet in den hier ausgewĂ€hlten Romanen in Bezug auf Altersgelassenheit, KreativitĂ€t und Erfahrungen der Gerotranszendenz hermeneutische ReflexionsrĂ€ume fĂŒr Rezipient/innen des dritten Lebensalters. Gerhard Kaiser sieht die transzendierende Wirkung moderner Literatur in ihrer Eröffnung von MöglichkeitsrĂ€umen: Die Werke der Moderne âwollen dorthin, wo sie nicht ankommen, und ziehen den Leser in diese Bewegung hinein.â19
Gefragt, was fĂŒr ihn als Romanautor beim Schreiben und Lesen von Romanen wichtig sei, antwortet der britische Romancier Ian McEwan in einem mit Julian Barnes gefĂŒhrtem WerkstattgesprĂ€ch: âEine ErzĂ€hlung soll uns das Universum aufschlieĂen. Ungeachtet dessen, ob sie gut oder schlecht ausgeht.â20 Auf die Frage, welche Rolle Musik fĂŒr ihn (McEwan) spiele und ob sie ihm âpersönlich das Universumâ aufschlieĂe, antwortet er, dass er vor seinem Studium besessen von Mendelsohns Violinkonzert gewesen sei, in der stĂ€dtischen Bibliothek die Partitur gefunden und gelesen habe:
âIch wollte verstehenâ, so McEwan, âWie hat er das gemacht? Wie kann einer dieses Wunderwerk an menschlicher Empfindsamkeit niederschreiben? Wie ist es möglich, dass jemand eine Sprache beherrscht, die solche Empfindungen festhĂ€lt?â21
Bildende Kunst, Musik, Literatur der Moderne erhellen mit seismographischer Empfindlichkeit (Thomas Mann)22 die Ambivalenz, d.h. die Mehrdeutigkeit der Moderne und ihre divergierenden Deutungsmöglichkeiten. Ins Spiel kommt die von Auflösung bedrohte KohĂ€renz des modernen Subjekts, mithin die nie zu erreichende Ganzheitlichkeit des Menschen, fĂŒr die er mit seinen Empfindungen und seiner Vernunft angesichts des Wegfalls ĂŒbersinnlich-metaphysischer Gewissheiten einsteht.
Ins Spiel kommt zudem die Frage, ob nach dem Untergang der traditionellen Metaphysik ontologische Fragen ĂŒberflĂŒssig geworden sind? Walter Schulz löst in seinem Werk Metaphysik des Schwebens moderne Kunst aus ihrer Verklammerung mit traditioneller Metaphysik, um eine feststellende Ontologie zu vermeiden. Dabei stöĂt er auf die Frage, ob das Ende der traditionellen Metaphysik das Ende einer jeden möglichen Metaphysik ĂŒberhaupt bedeute und ob sich nicht gerade in der modernen Kunst âMöglichkeiten zeigen, das Wesen der Metaphysik neu zu bedenkenâ?23
Schulz schlĂ€gt vor, die ZeitgemĂ€Ăheit moderner Kunst in ihrer NegativitĂ€t und SubjektivitĂ€t zu deuten. Unter NegativitĂ€t versteht er die âAufhebung des Weltvertrauens zugunsten der Weltungesichertheitâ. SubjektivitĂ€t entspricht, so Schulz, der Erfahrung der NegativitĂ€t. SubjektivitĂ€t â(findet) in sich selbst keinen Halt und (hat) gerade darum die Tendenz (âŠ), sich an die Welt, die auch keine Sicherheit bietet, zu verlieren.â24
Diesen Zustand wechselimplikativer Unsicherheit, den Zygmunt Bauman als Ambivalenzstruktur der Moderne und JĂŒrgen Straub als Paradoxie transformatorischer IdentitĂ€t reflektieren, reflektiert Schulz in Bezug auf Erscheinungsgestalten moderner Kunst âals Zustand des Schwebensâ25, im Sinne eines Verlusts von Festigkeit, Fraglosigkeit und PositivitĂ€t. Ăsthetisches Schweben ist nach Schulz eine dynamische Subjekt-Welt-Beziehung, die, da moderne Kunst nicht mehr metaphysisch fundiert ist, die âMöglichkeit herauffĂŒhrt, das Schweben als legitime âGrundlageâ der modernen Kunst zu bedenken.â26 Moderne Kunst als genuiner Ort einer Metaphysik des Schwebens verwebt im Gegenzug zu einer ontologisierenden Metaphysik, Schein und Sein, Wahrheit und LĂŒge, Ansch...