Kreativität und Hermeneutik in der Translation
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Kreativität und Hermeneutik in der Translation

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Kreativität und Hermeneutik in der Translation

About this book

Die Kreativität nimmt gegenwärtig eine zentrale Position in der Translationsprozessforschung ein. Die Erkenntnis, dass Kreativität nicht nur beim Übersetzen literarischer Werke benötigt wird, bildet die Grundlage für die Entwicklung neuer Modelle der translatorischen Kompetenz. Zu dieser grundlagentheoretischen Ebene gehört die Betrachtung der übersetzerischen Kreativität in Verbindung mit den (eminent hermeneutischen) Begriffen des Verstehens und Interpretierens: Die Textvorlage verstehen, sie auslegen, um sie dann angemessen kreativ in der Zielsprache wiedergeben zu können, ist ein translatorisches Grundverhalten. Der Band fokussiert den Nexus Kreativität-Verstehen-Interpretieren im Übersetzen und beleuchtet ihn aus den unterschiedlichen Perspektiven der Rhetorik, Literatur, Hermeneutik, Philosophie, Linguistik und Translatologie.

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I. Rhetorik und Literatur

Interpretatio – imitatio – aemulatio: Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik

Jörn Albrecht (Heidelberg)
Abstract: In the course of history, rhetoric has undergone a mutation from an art of discourse that aims to improve the capability of speakers to persuade an audience to an art of literary discourse that aims to improve the capability of writers to produce aesthetically perfect texts. The article examines the role of translation in this process, especially as an auxiliary discipline in the context of the trivium, the three medieval arts of the ‘humanities’: grammar, dialectic (logic) and rhetoric. Emphasis is laid on two traditional forms of ‘free’ translation in antiquity: imitatio, an author’s conscious use of features and characteristics of an earlier work, and aemulatio, a form of translation which might surpass the original in artistic value. The first one is illustrated with the example of a poem by Giacomo Leopardi, inspired by a French model; the latter one is exemplified comparing the episode of the “three drops of blood in the snow” in Perceval by Chrétien de Troyes and Parzival by Wolfram von Eschenbach.
Keywords: Rhetoric, poetics, trivium, imitatio, aemulatio.
In einem neueren französischen Roman, der sich wie ein Kriminalroman gibt, ohne wirklich einer zu sein, spielen Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit oder Herkunft eine herausragende Rolle. Neben bewusst klischeehaft gezeichneten schnauzbärtigen Agenten, die vor nichts zurückzuschrecken scheinen, und dem Fahrer eines Lieferwagens, der mit starkem slawischen Akzent seine Unschuld an einem bedauernswerten Unfall beteuert, obwohl er den berühmten Semiologen Roland Barthes in der rue des Écoles wohl nicht rein zufällig überfahren hat, tritt auch Julia Kristeva auf den Plan. Von Intertextualität oder Polyphonie ist dabei nicht die Rede; Kristeva wird als vorbildliche Hausfrau präsentiert, die ihrem geckenhaften Gatten Philippe Sollers einen sauté de veau vorsetzt. Julenka, wie ihr Vater sie zärtlich nennt, scheint, wie einige andere auch, etwas über ein nach dem Unfall Roland Barthes’ verschwundenes Dokument zu wissen, das, wenngleich es von einer bisher selbst von Roman Jakobson noch nicht entdeckten Sprachfunktion handelt, darüber hinaus von einiger politischer Brisanz zu sein scheint. Selbst Giscard d’Estaing zeigt sich beunruhigt.
Leider kann dieser Erzählstrang hier nicht weiter verfolgt werden, denn nun tritt eine weitere Persönlichkeit bulgarischer Herkunft in Erscheinung, die uns – gerade noch rechtzeitig – dem im Titel angekündigten Thema näher bringt. Kein Geringerer als Tzvetan Todorov äußert seine Ansichten zur Rhetorik. Diese sei, so der „maigrichon à lunettes affublées d’une grosse touffe de cheveux frisés“, in ihrem Ursprung in eine lebendige Demokratie eingebettet gewesen und habe ausschließlich dazu gedient, die anderen zu überzeugen (gelegentlich auch zu überreden) und Mehrheiten für die eigene Position zu gewinnen. Das habe sich zur römischen Kaiserzeit und im europäischen Feudalismus grundlegend geändert:
On n’attendait plus du discours qu’il soit efficace mais simplement qu’il soit beau. Aux enjeux politiques se sont substitués des enjeux purement esthétiques. En d’autres termes, la rhétorique est devenue poétique. (C’est ce qu’on a appelé la seconde rhétorique.) (Binet 2015: 185f.)
Es ist schwer zu entscheiden, ob die hier erkennbare Verengung des Begriffs der Rhetorik auf die elocutio dem ‚wirklichen‘ Todorov oder nicht eher dem Autor geschuldet ist, der ihm diese Äußerung in den Mund legt. Wie dem auch sei, um diese ‚zweite‘ Rhetorik, die sich stark auf die Produktion von Texten und weit weniger auf deren Wirkung konzentriert, wird es auch hier gehen; von Pathos oder Ethos wird kaum die Rede sein. In dem Moment, in dem die Übersetzung als Hilfsdisziplin der Rhetorik auftritt, weist diese bereits eine starke Affinität zum Medium der Schrift auf; der nach allen Regeln der Kunst ausgestaltete Text ist mehr und mehr für Leser anstatt für Hörer bestimmt (vgl. Albrecht 2014: 426).
In den folgenden beiden Abschnitten muss der Übersichtlichkeit halber zunächst an einige wohlbekannte Fakten erinnert werden, bevor dann im dritten Abschnitt der Versuch unternommen werden soll, auf die freieren Formen der Übersetzung innerhalb des Lehrgebäudes der Rhetorik einzugehen.

1 Rhetorik und Übersetzung in der Antike

Für den mit diesem kurzen Aufsatz verfolgten Zweck genügt es, mit der gebotenen Knappheit auf zwei römische Autoren einzugehen, die sich zu Fragen der Übersetzung mit ausdrücklichem Bezug zur Rhetorik geäußert haben, auf Cicero und Quintilian.

1.1 Marcus Tullius Cicero

Es gibt kaum einen Abriss der Übersetzungsgeschichte, und sei er noch so knapp, in dem nicht Ciceros Abhandlung De optimo genere oratorum (Cicero 1976 [46 v. Chr.]) Erwähnung finden würde. Neuesten Forschungen zufolge stammt dieser Text möglicherweise gar nicht von ihm (vgl. Albrecht 2014: 426 Anm. 2). Cicero legt dort Rechenschaft ab über zwei (leider nicht überlieferte) Übersetzungen, die er von Reden des Aischines und des Demosthenes angefertigt habe, um zu zeigen, wie rhetorisch ansprechende Reden in lateinischer Sprache gestaltet werden könnten. Da Cicero bei der Schilderung seines Vorgehens versichert, er sei bei seiner Übertragung nicht wie ein Übersetzer, sondern wie ein Redner verfahren, i.e. er habe seine Vorlage mit eigenen Worten frei nachgebildet, wurden seine Ausführungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als ein Plädoyer für die „freie Übersetzung“ generell (miss)verstanden. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Fehldeutung einzugehen (vgl. Albrecht 2010). Hier interessiert nur, dass der Meister der „goldenen Latinität“ zumindest indirekt den freien Umgang mit fremdsprachlichen Texten (vgl. infra 3) zur Förderung der eigenen Ausdrucksfähigkeit empfiehlt.

1.2 Marcus Fabius Quintilianus

Bei Quintilian geschieht dies in expliziterer Form, wenn dabei auch nicht die freie Übersetzung ins Spiel kommt, zumindest nicht ausdrücklich. Durch ihn wird die Eingliederung der Übersetzung in das System der septem artes liberales, genauer gesagt in das sog. Trivium vorbereitet (vgl. Albrecht 2009: 875 und infra Abschnitt 2). Im zehnten Buch seiner Institutio oratoria weist er darauf hin, dass schon die alten römischen Redner (veteres nostri oratores) das Übersetzen aus dem Griechischen (vertere Graeca in Latinum) für eine ausgezeichnete Übung zur Schulung der eigenen Ausdruckfähigkeit erachtet hätten (Quintilian 1988: Buch X, 5, 14). Die Inanspruchnahme der Übersetzung in die Muttersprache zur Schulung der eigenen Ausdrucksfähigkeit (später auch zur Bereicherung der Zielsprache) sollte später zu einem Topos werden, der sich in zahlreichen Rhetoriken, Poetiken und Grammatiken findet (vgl. Albrecht 1998, Kap. 4.3). Leider ist diese frühe und über Jahrhunderte hindurch überlieferte Erkenntnis in der modernen Sprachdidaktik weitgehend verloren gegangen (vgl. Albrecht 2009: 884).

2 Die Stellung der Übersetzung im Kreis der freien Künste

Übersetzungstheoretische Traktate erscheinen nicht selten als Teile umfangreicherer Arbeiten, die eine der Disziplinen des Triviums im System der freien, d.h. eines freien Mannes würdigen (vgl. Moos 2009: 800), Künste behandeln. Der katalanische Humanist Juan Luis Vives veröffentlichte seine Abhandlung „Versiones seu interpretationes“, auf die zurückzukommen sein wird, als Schlusskapitel seiner Rhetorik De ratione dicendi (Vives 1993 [1532]). Johann Christoph Gottsched, einer der letzten der deutschen Gelehrten, die sich der klassischen Rhetorik verbunden fühlte, bringt seine übersetzungstheoretischen Überlegungen ebenfalls in einem Kapitel seiner Rhetorik, der Ausführlichen Redekunst unter (Gottsched 1975 [1736]). Justus Georg Schottel[ius] behandelt jedoch die Übersetzung als Teil der Grammatik. In seiner Ausführliche[n] Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache ist ein Kapitel mit „Wie man recht verteutschen sol“ überschrieben (Schottelius 1967 [1663]). Es empfiehlt sich also, das Verhältnis zwischen der Grammatik, der Rhetorik und nicht zuletzt der Poetik, die einen Sonderstatus einnimmt, etwas genauer in den Blick zu nehmen.
Das ‚Untergeschoss‘ der sieben freien Künste, das zur Blütezeit dieses Bildungssystems keineswegs als „trivial“ angesehene Trivium, besteht aus Grammatik, Dialektik (statt Dialektik gelegentlich auch Logik) und Rhetorik. Zwar lassen sich diese Disziplinen inhaltlich nicht klar trennen, jedoch besteht zwischen ihnen eine Reihenfolgebeziehung. Ernst Robert Curtius zitiert in diesem Zusammenhang einen mittelalterlichen Merkvers, der den Aufbau des gesamten Gebäudes der freien Künste betrifft:
Gram. loquitur; Dia. vera docet; Rhe. verba ministrat;
Mus. canit; Ar. numerat; Geo. ponderat; As. colit astra.
(Zit. n. Curtius 21954: 47...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Professor Alberto Gil zugeeignet
  6. Kreativität – Verstehen – Interpretation. Multiperspektivische Annäherungen an einen translatorischen Nexus
  7. I. Rhetorik und Literatur
  8. II. Hermeneutik und Philosophie
  9. III. Angewandte Sprachwissenschaft und Übersetzungspraxis
  10. Fußnoten