Ulrike Guérot
Einmal heiĂer Krieg â kalter Frieden und zurĂŒck
Das Ende der europÀischen FriedenserzÀhlung
Grauzonen zwischen Krieg und Frieden in Europa
In seiner Famous Speech (Adolf Hitler style) imitiert Charlie Chaplin Adolf Hitler. Er legt ihm zunĂ€chst milde, nachdenkliche Worte ĂŒber eine bessere Welt, HumanitĂ€t und menschliches Miteinander in den Mund. Irgendwann in der Mitte, kaum merklich, kippt die Rede. Chaplin alias Hitler steigert sich in eine kĂ€mpferische Rhetorik hinein, eine Verteidigung der Freiheit und Verurteilung der Ausbeutung der Menschen, die ihrerseits in militĂ€rischem Gebaren endet. Die Hand zum HitlergruĂ erhoben, jubelt ihm die Menge zu und ist schlieĂlich wieder zum Krieg bereit. Zwischen den Worten und dem, was sie auslösen, liegt ein Graben.
Ein tiefer Graben liegt auch zwischen dem heutigen Europadiskurs als FriedenserzĂ€hlung und der heutigen europĂ€ischen RealitĂ€t. Das VerhĂ€ltnis von Europa zum Frieden war immer ein brĂŒchiges, der Frieden fĂŒr Europa immer Leitmotiv, da der Krieg immer latent mitgedacht war. Europas VerhĂ€ltnis zu Krieg und Frieden ist ein dialektisches, denn jahrhundertelang war der Kontinent von heiĂen Kriegen geprĂ€gt. »Wenn man [âŠ] auf der Karte fĂŒr jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegsfĂŒhrenden Parteien zieht, Schlachtfelder und FrontverlĂ€ufe markiert, dann verschwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem roteingefĂ€rbten Feld«, schreibt Robert Menasse im EuropĂ€ischen Landboten.
Erst im letzten Jahrhundert, genauer seit Ende des Zweiten Weltkriegs, ist in Europa jene semantische Grauzone eines »Kalten Kriegs« entstanden, ein de facto institutionalisierter Frieden zwischen den europĂ€ischen Nationalstaaten. AbgestĂŒtzt und finanziert von den USA und toleriert von der UdSSR, konnte Europa sich in die Aussöhnung zwischen bis dato verfeindeten Nationalstaaten und einen Prozess der wirtschaftlichen und politischen Integration begeben und gleichzeitig â noch geschĂŒtzt vor der Globalisierung â weitgehend sozialen Frieden genieĂen. Fast als Ironie der Geschichte mutet es daher an, dass die Beendigung des Kalten Kriegs 1989 und die Kulmination des europĂ€ischen Friedensprojektes durch den Abschluss des Maastrichter Vertrages 1992 (ever closer union) weitere 25 Jahre spĂ€ter nicht etwa in einen »warmen Frieden«, sondern in die Grauzone eines »kalten Friedens« mĂŒndet, in der die Institutionalisierung des Friedens in Europa möglicherweise ein neuartiges kriegerisches Treiben hervorbringt â und damit, ganz Ă€hnlich wie die Rede von Charlie Chaplin, kippt. Wo der heiĂe Krieg zwischen den Nationen unmöglich scheint, sucht er sich neue, sublimierte Formen, so lautet die These, ganz egal ob als Wirtschaftskrieg, Steuerkrieg, Ressourcenkrieg, Cyberkrieg oder Krieg gegen den Terror. Es ist kein Krieg, aber es herrscht Unfrieden in Europa.
Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, schreibt Leopold von Ranke. Insofern wiederholt sich die europĂ€ische Geschichte der heiĂen Kriege zwischen 1914 und 1945 nicht. Nichts von damals lĂ€sst sich ernsthaft mit der heutigen Situation in der EU vergleichen, weder die gesellschaftliche noch die wirtschaftliche oder politische Struktur der heutigen Gesellschaften, auch nicht der historische oder globale Kontext. Und doch werden Analogien und Parallelen zum Beginn des 20. Jahrhunderts inzwischen erörtert. Als gesellschaftliche Parallele kann aufgefĂŒhrt werden: eine rasante technologische Beschleunigung â was heute das Internet und die Robotics sind, waren damals der Telegrafenmast, die GlĂŒhbirne oder das Flugzeug; eine wachsende Zahl von Arbeits- und Globalisierungsverlierern in prekĂ€ren sozialen VerhĂ€ltnissen â damals die Landarbeiter, heute die unqualifizierten ArbeitskrĂ€fte. Eine Analogie ist auch die »Krise der MĂ€nnlichkeit« angesichts der EinschrĂ€nkung des Patriarchats: Was damals das Frauenwahlrecht war, ist heute die Forderung nach einem 40-Prozent-Anteil Frauen in den VorstĂ€nden, vorgebracht von der EU im Jahr 2012. Nur am Rande sei bemerkt, dass der Faktor »mĂ€nnlich« an zweiter Stelle nach »mangelnder Bildung« als dem statistisch signifikantesten Koeffizienten fĂŒr den europĂ€ischen Rechtspopulismus steht. In seinem Buch MĂ€nnerphantasien beschrieb Klaus Theweleit in den 1970er-Jahren, wie in der Folge Nationalismus, Militarismus und schlieĂlich Faschismus als von MĂ€nnern geprĂ€gter Diskurs und schlieĂlich RealitĂ€t entstanden. Heute ist alles anders, und doch geht es im aktuellen Europadiskurs wieder um Schutz, Sicherheit und nationalen RĂŒckzug, um eine schon donnernde, nationale »StĂ€rke-Rhetorik« gepaart mit einer autoritĂ€ren Versuchung und dem Wunsch nach starker FĂŒhrung â inzwischen sogar in liberalen Demokratien wie Frankreich.
Das Wort von der »Weimarisierung Europas« mĂ€andert daher seit geraumer Zeit durch europĂ€ische Gazetten. Bei französischen Diners im Jahr 2016 wird schon vom guerre civile gewispert, und wer im FrĂŒhjahr das Aufgebot von Panzerfahrzeugen wĂ€hrend der Nuits DĂ©bout am Place de la RĂ©publique in Paris gesehen hat, stutzte zumindest. Heinz-Christian Strache wiederum nahm am österreichischen Nationalfeiertag das Wort BĂŒrgerkrieg offen in den Mund. In BrĂŒssel patrouilliert MilitĂ€r. In der TĂŒrkei wird geputscht, wobei man den Begriff Putsch eigentlich in der historischen Mottenkiste wĂ€hnte, und ĂŒber die WiedereinfĂŒhrung der Todesstrafe diskutiert. Wie damals schwellen rechts- wie linkspopulistische, gar radikale KrĂ€fte und Parteien in ganz Europa an und opponieren gegen ein scheinbar verkrustetes, angeblich undemokratisches EU-System. Selbst gezimmerte Galgen werden durch Dresden getragen. Das Volk ist wieder auf der StraĂe und wehrt sich gegen das Establishment mit scheinrevolutionĂ€rem Vokabular. In Deutschland wird ĂŒber ReichsbĂŒrger und ĂŒber den Einsatz der Bundeswehr im Inland diskutiert, in Ungarn und Polen das Rechtsstaatsprinzip unter den Augen der europĂ€ischen Nachbarn demontiert, Zeitungen werden dort widerspruchslos verboten oder gleich einkassiert. In Frankreich, dem Land, in dem im November 2016 der Ausnahmezustand gilt (sic!), werden BĂŒrgerwehren organisiert, wird offen von Miliz gesprochen und von der Lepenisierung der französischen Polizei gemunkelt. Ăberall in Europa demonstrieren Rechte, Linke und die kleinbĂŒrgerliche Mitte gegen Sparpakete, gegen FlĂŒchtlinge oder gegen CETA und TTIP. Ein Hauch von europĂ€ischem BĂŒrgerkrieg liegt in der Luft. Der europĂ€ische Frieden scheint brĂŒchig und oberflĂ€chlich, die Nationen sind formal im Frieden, die BĂŒrger nicht unbedingt, zumindest nicht alle gleichermaĂen.
Das Reden vom Krieg
Folgt man Françoise Doltos berĂŒhmten Ausspruch »Tout est langage«, alles ist Sprache, redet sich Europa derzeit gleichsam in ein kriegstreiberisches Geschehen hinein, nationale Anfeindungen sind dabei nur ein Element. Unter der OberflĂ€che eines kalten Friedens brauen sich ĂŒberall in Europa lĂ€ngst wieder Feindseligkeiten und Ressentiments aller Art zusammen â gegen die EU, gegen das System, gegen den Euro oder gegen den Nachbarn (vor allem gegen die Deutschen) â, die schon wĂ€hrend der Eurokrise in offenen Chauvinismus wie zum Beispiel in Form von Plakaten von Politikerköpfen mit HitlerbĂ€rtchen gemĂŒndet sind. Keine 100 Jahre trennen das heutige Europa von Charlie Chaplins historischer Filmaufnahme, und doch scheint der Lack der mĂŒhsam errungenen, gut 60 Jahre bestehenden und in historischen Aufarbeitungen, Erinnerungskulturen, europĂ€ischen lieus de mĂ©moires und Ausstellungen fest verankerten F...