Hans HĂŒtt
Ins Herz der Finsternis
Eine Ausgrabung im letzten Moment
Im Februar 1983 gelangte ich an einen Wendepunkt in meinem Leben. Das Studium hatte ich seit 1978 unterbrochen, abgesehen vom Besuch der Vorlesungen Klaus Heinrichs. Ăber Freunde meiner Eltern hörte ich von einem Projekt in Assisi. Dort hatte Pater Bernardino in der Nachbarschaft des Klosters San Damiano einen aufgelassenen Bauernhof zu neuem Leben erweckt. Unter dem Viehstall hatte er mit Freiwilligen die Reste einer romanischen Krypta ausgegraben und wiederaufgebaut. Das Projekt hieĂ San Masseo. Um herauszufinden, in welche Richtung mein Leben weitergehen wĂŒrde, begab ich mich fĂŒr drei Wochen in das klösterliche Leben, unterwarf mich den Exerzitien, erfuhr, welches GlĂŒck Fasten- und Schweigetage bewirken, bestellte den GemĂŒsegarten und verlegte Wasserleitungen. Als ich aus San Masseo zurĂŒckkehrte, ĂŒbertrug ich die Routinen dieser Exerzitien in mein Leben in Westberlin, nahm, neben einem Job in der Staatsbibliothek, das Studium wieder auf und beendete es 18 Monate spĂ€ter mit einer Diplomarbeit am Otto-Suhr-Institut der Freien UniversitĂ€t. Behilflich war mir dabei Franz Ansprenger, der GrĂŒnder der Arbeitsstelle SĂŒdliches Afrika, einer der wenigen liberalen Köpfe am OSI, ein neugieriger Freigeist, der mich ausdrĂŒcklich dazu ermunterte, meine ziemlich spekulativen Ideen ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Geschichte, Literatur und Politik zum Gegenstand einer Diplomarbeit zu machen.
War es möglich, aus Werken von Joseph Conrad, AndrĂ© Gide und Louis-Ferdinand CĂ©line etwas ĂŒber die Geschichte des Kolonialismus herauszufinden, das den zeithistorischen Untersuchungen des Kolonialismus neue Erkenntnisse erschlieĂen wĂŒrde? Eingedenk der klösterlichen Routinen und in dem Selbstvertrauen, dass kurze Deadlines schon damals meinen Texten guttaten, schrieb ich die Arbeit nach den Regeln der alten Diplom-PrĂŒfungsordnung, hatte daher nach Bekanntgabe des Themas nur sechs Wochen Zeit fĂŒr die Ausarbeitung. FrĂŒh passierte etwas Unerwartetes. Ich stieĂ in Conrads Heart of Darkness auf einen, wie es schien, kohĂ€renten Subtext im Stil der Schmierenkomödie der vorletzten Jahrhundertwende. Um diesen Zufallsfund genauer zu prĂŒfen, begann ich, meinen Englischkenntnissen zu misstrauen.
Inspirationsquelle fĂŒr das Thema war der ZĂŒrcher Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler, der zusammen mit seinen Praxiskollegen Paul Parin und Goldy Parin-MatthĂšy zu den GrĂŒndern der Ethnopsychoanalyse gehörte. Ich hatte Morgenthaler im Herbst 1980 kennengelernt. Seine Afrika-Begeisterung hatte mich angesteckt. Nicht nur dem leiblichen Vater am Niederrhein, sondern diesem geistigen Vater wollte ich mit der Arbeit ein Geschenk machen, im potlatch mir zuteilgewordener Gaben endlich mit leeren HĂ€nden dastehen.
Nur wenige Wochen, bevor ich das Diplom mit der mĂŒndlichen PrĂŒfung abschloss (mit einem Vortrag ĂŒber Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos), war Morgenthaler in Addis Abeba an einem Herzinfarkt gestorben. Nur wenige Tage spĂ€ter hĂ€tte er im Wintersemester 1984/85 in der Ringvorlesung von Dietmar Kamper und Christoph Wulf einen Vortrag halten sollen und mich fĂŒr einige Tage besucht. Mit 32-jĂ€hriger Verzögerung liefere ich das Geschenk fĂŒr ihn im Kursbuch ab, fĂŒr das Morgenthaler 1977, im Kursbuch 49 Sinnlichkeiten, einen fĂŒr mich damals ĂŒberaus wichtigen Aufsatz veröffentlicht hatte. Es gehört zu den Witzen dieser Ausgrabung, dass Thomas Schmid, damals Redakteur der Zeitschrift Freibeuter, das Conrad-Kapitel, das ich ihm geschickt hatte, mit einem freundlichen Brief ablehnte, weil der Wagenbach Verlag Conrad nicht sonderlich schĂ€tzte und er meinen in rasender Eile geschriebenen Text »overwritten« fand, ein Lob, fĂŒr das ich mich hiermit 32 Jahre spĂ€ter bedanke.
Wie hat Conrad mit Heart of Darkness die Welt verĂ€ndert? Durch eine ErzĂ€hlung, die auf den Kolonialismus mit einer anderen Lesbarkeit seiner Sprache, Politik und Ăkonomie einging. Eine SekundĂ€rbibliografie hatte schon 1971 in der Conrad-Forschung einen blinden Fleck ausgemacht: Conrads Humor sei auch nach Kubikmetern literaturwissenschaftlicher Arbeit unterbelichtet geblieben. So finden in den hier folgenden Abschnitten Marxâ elfte Feuerbach-These und ein VerstĂ€ndnis von Interpretation als Praxis der VerĂ€nderung zusammen. 85 Jahre nach der ersten Veröffentlichung von Heart of Darkness rekonstruierte ich, wie Conrad die ErzĂ€hlung semantisch so aufgeladen hatte, dass ihre AmbiguitĂ€t fĂŒr die Zeitgenossen nur auf der Metaebene ihres Schreckens Bedeutung gewann. Die Sprache, ihr Bedeutungsreichtum, ihre Konnotationen verleihen der ErzĂ€hlung den Charakter eines epischen Traums. Conrads Zeitgenossen aber und ĂŒber 100 Jahre literaturwissenschaftlicher Erforschung haben den »Gorilla im Raum« nicht wahrgenommen.
Framing
Ich begann die Arbeit mit dem Versuch, ihren analytischen Rahmen zu beschreiben. Sie nahm ihren Ausgang von einer historischen und philologischen Einordnung von Reiseliteratur, spannte einen Bogen von der Reise als literarischem Thema zu Reiseberichten als eigenem ErzĂ€hlgenre, als Medien der Differenz. Als Leitmotiv hatte ich mich fĂŒr ein Zitat aus den Araucana aus dem 16. Jahrhundert entschieden: »Eine von den Dingen, daran man die GröĂe der Seele des Menschen und daĂ sie zur Unsterblichkeit strebt, erkennt, ist, daĂ sie sich an einem Ort nicht zufrieden geben noch begnĂŒgen kann, sondern ihr Verlangen zur Mannigfaltigkeit zu befriedigen, die Welt durchstreift und durch die Verschiedenheit der Ărter dem Eckel des Lebens auszuweichen sucht.«
Von den frĂŒhen Weltreisenden bis zu den Reisen, fĂŒr die es reicht, die eigenen Augen zu schlieĂen, ging es darum, zu erzĂ€hlen, was man sieht. Mindestens ebenso interessant sind die Bilder, die ein Reisender gesehen haben könnte, ohne ĂŒber sie geschrieben zu haben. Die Arbeit untersucht drei Texte: Joseph Conrads ErzĂ€hlung Heart of Darkness, AndrĂ© Gides Voyage au Congo suivi du Retour du Tchad, ĂŒber die ich im Juli 2005 nach einer Reise in die BibliothĂšque national de France fĂŒr die SĂŒddeutsche Zeitung ein Feature schreiben sollte, und Louis-Ferdinand CĂ©lines Roman Voyage au bout de la nuit. Was erzĂ€hlen die innere HistorizitĂ€t der Texte und ihre BezĂŒge zueinander ĂŒber die Geschichte des Kolonialismus? Tragen sie dazu bei, den Blick auf die Epoche und ihr VerstĂ€ndnis zu verĂ€ndern?
Der »Kollektivsingular Geschichte« hat seine eigene Geschichte. In ihrem Verlauf wird die Grenze zwischen res factae und res fictae porös. Ihnen gemeinsam sind die Sprachlichkeit und die Entscheidung ĂŒber die Schreibweisen, die sich, wie Roland Barthes schrieb, spĂŒrbarer mit der Geschichte als irgendein anderer Schnitt durch die Literatur berĂŒhren.
Eine ganz andere Frage verbindet sich mit der Lesbarkeit der Texte. Fiktion und Wirklichkeit können als MitteilungsverhĂ€ltnis begriffen werden. Dieses VerhĂ€ltnis ist keineswegs deterministisch. Roland Barthes erinnert an Orpheus und Eurydike: »Solange sie geradeausgeht, allerdings wissend, dass sie jemand fĂŒhrt, lebt, atmet, geht das Wirkliche, das hinter ihr ist und das von ihr allmĂ€hlich aus dem Ungesagten gezogen wird, und bewegt sich auf die Klarheit eines Sinnes zu. Sobald sie sich jedoch umwendet zu dem, was sie liebt, bleibt nichts anderes als ein benannter, das heiĂt ein toter Sinn.« Der literarische Text geht aus seiner Zeit hervor und wendet sich zugleich als Widerstand, als Form gewordenes Ereignis, gegen sie.
Die Lesbarkeit der Texte verdankt sich ihrer Zeichenhaftigkeit, ihrer Kraft, Fragen an die Welt zu stellen, ohne jemals darauf zu antworten. Die LektĂŒre der Texte sieht sich einer »Ontologie der AktualitĂ€t« verpflichtet. Sie sucht in den Quellen nicht nach Belegen fĂŒr das, was sie schon weiĂ, sondern lĂ€sst die Texte sagen, was sie von ihrer Zeit wissen oder nicht wissen.
Ăbertragen auf die Historiografie geht es darum, den Kolonialismus als »HintergrundphĂ€nomen« in den Blick zu rĂŒcken. »Africa is to Europe as the picture is to Dorian Gray â a carrier onto whom the master unloads his physical and moral deformities so that he may go forward, erect and immaculate.« Meine LektĂŒre der Texte verfolgt das Ziel, ihre AktualitĂ€t dadurch zu bestimmen, dass sie die psychischen Mechanismen, Erfahrungen, Vorstellungen und Bilder des Kolonialismus aufzuspĂŒren versucht, die sich einer institutionellen Dekolonisierung erfolgreich widersetzen konnten und bis ins frĂŒhe 21. Jahrhundert mit erstaunlicher ZĂ€higkeit ĂŒberlebt haben.
Heart of Darkness â ein literarisches Monument
Joseph Conrads ErzĂ€hlung gehört seit ihrem Erscheinen 1899 in Blackwoodâs Magazine zu den meistinterpretierten Texten der Literaturgeschichte. Von Orson Welles bis...