Stephan Rammler
Stadt ohne Wagen
Eine kleine Geschichte urbaner MobilitÀt
Man kann die These vertreten, dass die in weiten Teilen verkehrsbedingte Unwirtlichkeit der StĂ€dte zum Misslingen unserer Gesellschaft beitrĂ€gt. Die Stadt als politische Arena, ökonomischer Schauplatz und kulturelles Labor lebt von der QualitĂ€t ihrer öffentlichen RĂ€ume. Anders formuliert: Je weniger die öffentlichen RĂ€ume von den negativen externen Effekten der fossilen MobilitĂ€t beeintrĂ€chtigt werden, desto besser gelingt die offene BĂŒrgergesellschaft. StĂ€dte waren schon immer MobilitĂ€tslaboratorien. Heute sind sie die BĂŒhne, auf der der Abgesang von der (Auto-)MobilitĂ€t, wie wir sie kennen, inszeniert wird. Ob dieser am Ende als Drama oder als Lustspiel aufgefĂŒhrt wird, ist eine noch offene Frage. Als Dienstleister fĂŒr LebensqualitĂ€t werden die StĂ€dte sich aber zukĂŒnftig ganz sicher verstĂ€rkt um die Ermöglichung einer nachhaltigen MobilitĂ€t bemĂŒhen mĂŒssen. Der öffentliche Verkehr als Garant der kollektiven Daseinsvorsorge war und wird in diesem Sinne auch in Zukunft Teil einer funktionierenden öffentlichen Kultur und zugleich das RĂŒckgrat aller integrierten und nachhaltigen urbanen Verkehrskonzepte sein.
Die Stadtmaschine â MobilitĂ€t im Spannungsfeld von Urbanisierung und nachhaltiger Entwicklung
»Am Anfang dieses Buches steht eine Stadt, die das Symbol einer Welt war. Es endet bei einer Welt, die in vieler Hinsicht eine Stadt geworden ist.« Treffender als mit diesem ersten Satz zu Mumfords Klassiker der Stadtgeschichte und Stadtforschung lĂ€sst sich auch heute noch die Gegenwart unserer Zivilisation nicht auf einen Nenner bringen: Es ist eine urbane Zivilisation mehr denn jemals zuvor. Immer schon waren die StĂ€dte die wichtigsten ExperimentierrĂ€ume gesellschaftlicher Modernisierung und Motoren der zivilisatorischen Entwicklung. StĂ€dte waren in allen Phasen gesellschaftlicher Entwicklung eine verbreitete, wenn auch nicht immer dominante Lebensform. Mit Beginn der industriellen Moderne und den mit ihr verbundenen, rapide wuchernden rĂ€umlichen, sozialen und mentalen Urbanisierungsprozessen tritt die stĂ€dtische Lebensform dann ins Zentrum der gesellschaftlichen Produktions- und Wohnweise. Die Stadt wird zum Forum und Medium der industriellen Wirtschaftsform schlechthin. Mit allen bekannten Schattenseiten und kulturellen Erosions- und Verwahrlosungstendenzen. Sie ist in diesem Sinne eine »Stadtmaschine«: ein logistischer Apparat, ein gigantisches RĂ€derwerk ineinandergreifender Systeme, Infrastrukturen und Funktionen zur gesellschaftlichen und individuellen BedĂŒrfnisbefriedigung. Heute hat diese Entwicklung einen Höhepunkt erreicht. Das Bevölkerungswachstum der nĂ€chsten Jahre konzentriert sich fast vollstĂ€ndig in den Stadtregionen der Welt. Seit 2008 leben erstmals in der Menschheitsgeschichte weltweit mehr Menschen in StĂ€dten als auf dem Land, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Das Leben in urbanen BallungsrĂ€umen wird also im 21. Jahrhundert die typische Existenzform fĂŒr den ĂŒberwiegenden Teil der Weltbevölkerung sein.
Damit wird auch ĂŒber die Frage einer nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung vor allem in den StĂ€dten der Zukunft entschieden. Seit Beginn der 1990er-Jahre bestimmt das Konzept der »Nachhaltigkeit« oder »ZukunftsfĂ€higkeit« die gesellschaftspolitischen Debatten ĂŒber den richtigen Weg in die Zukunft. Die in diesem Zusammenhang wĂ€hrend des ersten entscheidenden Nachhaltigkeits- und Klimagipfels in Rio 1992 entstandene kommunalpolitische Weltbewegung der »Lokalen Agenda 21« stellte die Stadt bereits ins Zentrum der BemĂŒhungen um gesellschaftliche ZukunftsfĂ€higkeit. Die Stadt ist heute prominenter Ort der Problementstehung und Problemaushandlung gleichermaĂen. Hier werden die ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme verursacht, hier werden sie in der Lebenswirklichkeit manifest und schlagen sich sozial ungleich verteilt in einer hĂ€ufig frappierend verminderten »DaseinsqualitĂ€t« nieder, und hier ist der Ort ihrer politischen BewĂ€ltigung. Die Suche nach Möglichkeiten zur Integration der ökonomischen, ökologischen und sozialen Zieldimensionen einer zukunftsfĂ€higen Gesellschaftsentwicklung spielt sich dementsprechend im Spannungsfeld der Neujustierung kommunaler Grundfunktionen ab: In der Vision einer sustainable city werden MobilitĂ€t, Energiesicherheit, gesundes Wohnen und Essen, Sicherheit, soziale und kulturelle Teilhabe mit wenig negativen externen Effekten fĂŒr Umwelt und Gesellschaft bereitgestellt.
Global betrachtet sind die Ausgangsbedingungen hierfĂŒr allerdings denkbar schlecht: In den hoch industrialisierten LĂ€ndern Europas und Nordamerikas stagniert die VerstĂ€dterung quantitativ auf hohem Niveau und ist qualitativ durch den Begriff der höchst energieverbrauchsintensiven Suburbanisierung charakterisiert; gleichzeitig wachsen die StĂ€dte der Regionen nachholender Modernisierung in Asien, SĂŒdamerika, im Nahen und Mittleren Osten oft ziellos und ungeplant, organischem Wuchern gleich. WĂ€hrend der industrialisierte Norden in absehbarer Zeit mit massiven demografischen Schrumpfungs- und Alterungsprozessen â und allen damit eng verbundenen Problemen des Erhalts sozialstaatlicher und kommunaler Daseinsvorsorgesysteme â umzugehen hat, sind die Regionen rapider Urbanisierung vor die Herausforderung gestellt, solche Systeme ĂŒberhaupt erst einmal zu installieren und dauerhaft funktionsfĂ€hig zu erhalten. Die ökologischen und energiepolitischen Probleme, die soziale Frage gesellschaftlicher Exklusion und armutsbedingter Verwahrlosung und KriminalitĂ€t, schlieĂlich massive Wert- und Traditionsverluste sind vielfach Ă€hnlich gelagert, nur unterscheiden sich die Ausgangsbedingungen zwischen Norden und SĂŒden mitunter massiv, insbesondere auch hinsichtlich der Frage politischer Steuerung und Intervention.
Dennoch werden Urbanisierungsprozesse auch heute gemeinhin als zivilisatorischer Fortschritt verstanden und von den Regierungen weltweit angestrebt und befördert. UrbanitĂ€t und MobilitĂ€t gelten weiterhin als Signum der ModernitĂ€t von Gesellschaften. TatsĂ€chlich liegt in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften der Prozentsatz der in StĂ€dten lebenden Bevölkerung mit 80 bis 90 Prozent auch im Vergleich mit anderen Gesellschaften am höchsten. Die Stadt verspricht weiterhin die Chance zur Partizipation an der gesamtgesellschaftlichen Reichtumsentwicklung. Um diese Teilhabe zu erreichen, setzen sich heute weiterhin immer mehr Menschen in Bewegung als jemals zuvor. Die damit verbundene Mobilisierung immer gröĂerer Bevölkerungsteile, die sich aus den engen lĂ€ndlich geprĂ€gten LebensverhĂ€ltnissen befreien, um sich in den stĂ€dtischen AgglomerationsrĂ€umen neue Perspektiven zu erschlieĂen, wird auch in Zukunft mit einem enorm gesteigerten Verkehrsaufkommen wegen massiver Pendelbewegungen verbunden sein. Die aus der Verbindung von Stadt- und Verkehrsentwicklung resultierenden problematischen Effekte werden dabei oftmals nicht gesehen oder nicht thematisiert. Ein Problembewusstsein fĂŒr negative Begleiteffekte der Urbanisierung haben insbesondere jene entwickelten LĂ€nder, die auf die historische Erfahrung eines dynamischen Urbanisierungsprozesses im Rahmen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zurĂŒckblicken können. Dieser Epoche des Umbruchs Ă€hnelt in vieler Hinsicht die heutige Situation in den sich entwickelnden LĂ€ndern, die seit einigen Jahren rapide Stadtentwicklungsprozesse erleben, welche allerdings den Urbanisierungsprozess des 19. Jahrhunderts in Geschwindigkeit und AusmaĂ vielfach noch ĂŒbertreffen.
Genau aus dieser historischen Erfahrung heraus erscheint es heute mehr als angebracht, die Zukunft der Stadt insbesondere von diesem Blickwinkel der MobilitĂ€tsentwicklung aus neu zu ĂŒberdenken. Die weltweit wachsende Bevölkerung, vor allem in den asiatischen und sĂŒdamerikanischen Metropolen, macht ein Nachdenken ĂŒber den Personen- und GĂŒtertransport der Zukunft unerlĂ€sslich. Die stĂ€dtische MobilitĂ€t von morgen ist ein Kernthema, das eingehender Diskussion und neuer LösungsansĂ€tze bedarf, um zu tragfĂ€higen Gesamtkonzepten nachhaltiger Stadtentwicklung ĂŒberhaupt vorzudringen.
Denn Stadt und Verkehr, ImmobilitĂ€t und MobilitĂ€t stehen sich nicht prinzipiell unversöhnlich gegenĂŒber, vielmehr verbinden sie sich miteinander und entfalten eine eigentĂŒmliche, einander bedingende Entwicklungsdynamik. Dementsprechend ist die Geschichte von StĂ€dten auch und vor allem die Geschichte ihrer Transportsysteme. Sie sind die Blut- und Nervenbahnen der Stadtkörper, von fundamentaler Bedeutung fĂŒr jegliche weitere Entwicklung.
»Im Omnibus in die Moderne« â Urbane Verkehrssysteme im Spiegel gesellschaftlicher Modernisierung
»In Berlin gab es noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts keine Fiaker [âŠ]. Und gar das KulturphĂ€nomen: der Omnibus, dieses Wahrzeichen unserer aufgeklĂ€rten Zeit, in dem deren Eigenart wie kaum in einer anderen Einrichtung zum prĂ€gnanten Ausdruck kommt, der Omnibus gehört einer viel spĂ€teren Zeit an. [âŠ] Ich möchte sagen: wenn der Omnibus und heute elektrische StraĂen-, Hoch- und Untergrundbahnen Wahrzeichen der modernen GroĂstadt sind, so war eine Art von Symbol altstĂ€dtischen Wesens, wie es sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erhielt: der NachtwĂ€chter mit SpieĂ und Horn.«
Werner Sombart
FĂŒr Werner Sombart, einem bekannten deutschen Nationalökonomen und Soziologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war die Entstehungsgeschichte der modernen Gesellschaft und ihrer wachsenden MobilitĂ€t ein Lebensthema. In immer wieder ĂŒberraschenden Beschreibungen, Analysen und treffsicheren Metaphern umkreist er seinen Gegenstand ĂŒber die Jahre in einem eindrucksvollen Ćuvre. In der Gesamtschau seines Werkes zeigt sich, dass der Entwicklungsstand und die Bedingungen rĂ€umlicher MobilitĂ€t und technischer Verkehrssysteme fĂŒr ihn zentrale Indikatoren, ja Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung waren. »Der Verkehr ist ein Spiegel der Gesellschaft, in der er stattfindet«, dieses nur vermeintlich triviale Diktum des spĂ€teren Berliner Soziologen Dieter Claessens galt erst recht fĂŒr die Arbeits- und Betrachtungsweise Sombarts. Das erklĂ€rt auch, warum ihm der Versuch, den Ăbergang von der traditionellen Gesellschaft zur industriellen Moderne zu beschreiben und zu erklĂ€ren, in weiten Teilen auch zu einer Kultur- und Sozialgeschichte des Verkehrswesens geriet. Der gleichmĂ€Ăig, gelassen und stetig wiederkehrend auf den eigenen FĂŒĂen dahinschreitende NachtwĂ€chter galt Sombart als Symbol fĂŒr soziale StabilitĂ€t, Regelhaftigkeit und VerlĂ€sslichkeit. Er beschrieb damit Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Knapp 100 Jahre spĂ€ter hatte sich mit der industriekapitalistischen auch die groĂstĂ€dtische Lebensweise etabliert. Zum Wahrzeichen fĂŒr die ineinander verwobene »Massen- und Wechselhaftigkeit« dieser neuen modernen Gesellschaft erhob der Soziologe nun den Omnibus. Ihn wie Sombart als KulturphĂ€nomen zu begreifen und so seiner Lesart zu folgen, ist ...