Die letzte Stunde der Wahrheit
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Die letzte Stunde der Wahrheit

Kritik der komplexitÀtsvergessenen Vernunft

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Die letzte Stunde der Wahrheit

Kritik der komplexitÀtsvergessenen Vernunft

About this book

KomplexitĂ€t – mehr als ein Schlagwort!Eindimensionales Denken regiert eine mehrdimensionale Welt. Doch die Ära der Eindeutigkeiten geht zu Ende. An ihre Stelle tritt ein neues vernetztes Denken, das die KomplexitĂ€t der Gesellschaft versteht und wĂŒrdigt, statt sie zu bekĂ€mpfen.Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten: Das Vertrauen in Politik schwindet, MĂ€rkte sind nur schwer zu bĂ€ndigen, gesellschaftlicheKonflikte werden kaum mehr zivilisiert gefĂŒhrt, Demokratie verliert ihre Integrationskraft, gesellschaftliche SelbstverstĂ€ndlichkeitenlösen sich auf. Wir bleiben verfangen in politischen und gesellschaftlichen Konzepten des 19. Jahrhunderts und scheitern damit an der erreichten KomplexitĂ€t unserer Gesellschaft – im richtigen Leben ebenso wie auch in unseren Theorien und Denkkonzepten.Worum es geht, ist ein vernetztes Denken zu entwickeln, das mit InstabilitĂ€t rechnet und Abweichungen liebt, das KomplexitĂ€t nicht vermeidet und wegredet, sondern versteht und entfaltet und sie mit ihren eigenen Mitteln schlĂ€gt.Aktualisierte Neuausgabe

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Drittes Kapitel / KomplexitÀt / Die Heliozentrik dezentriert die Welt
Die beiden dargestellten Diagnosen sind paradigmatisch dafĂŒr, wie wir uns den Zugriff auf die Lösungen jener Krise vorstellen, die uns in öffentlichen Zeitdiagnosen angeboten werden, hier prĂ€sentiert an zwei Beispielen, die dies vielleicht am deutlichsten auf den Begriff bringen. Die Imagination einer kollektiven Einheit beziehungsweise der Appell an die bessere Einsicht sind gewissermaßen die beiden Enden einer Unterscheidung, die unmittelbar mit dem Problem zu tun hat, das ich oben behelfsweise am Beispiel des Milchpreises dargestellt habe.
Bezieht man diese beiden grundsĂ€tzlichen Perspektiven auf konkrete Politikstile, fĂ€llt auf: Auch die Politikstile der Mitte mit ihrer eher linken und eher konservativen Form sind imprĂ€gniert von diesen beiden Beschreibungstraditionen, vor allem in aktuellen Politikfeldern. Die eher linke Perspektive wird zu zentralistischen Lösungen neigen, wenn man an Quotierungen denkt oder an eine stĂ€rkere Regulierungspolitik. Die eher konservative Seite dagegen vertraut lĂ€nger auf die EinsichtsfĂ€higkeit der Akteure und wartet lĂ€nger ab, bis sie dann in sich selbst sozialdemokratischer wird. Die wenigen Konflikte, die GroßkoalitionĂ€re haben, hören auf diese Differenz, werden aber in einem moderierenden Politikstil aufgehoben.
Ich halte sowohl die Idee des Umbaus des Kapitalismus als auch die Idee der Änderung der Welt durch VerhaltensĂ€nderung fĂŒr, ja, man muss es so sagen, unterkomplex. Was mich eher interessiert, ist die Frage, warum sich Diagnosen der gesellschaftlichen Krise so enttĂ€uschungsfest geben, warum also einerseits immer wieder ein Gesamtumbau angestrebt und theoretisiert wird, andererseits an Einstellungen appelliert wird – nur um dann festzustellen, dass sich mit der Kritik die Rahmenbedingungen des Kritisierten mitverĂ€ndern und die Dinge doch weiterlaufen wie bisher.
Es scheint so etwas wie eine merkwĂŒrdige Selbstkorrektur der gesellschaftlichen Krise zu geben, eine merkwĂŒrdige Form der Resilienz, die mit bisweilen hohen Kosten, aber ganz ohne Kollaps dazu fĂŒhrt, dass die Dinge einfach weitergehen. Deshalb wĂ€re es vielleicht doch einen Versuch wert, sich auf diesen so merkwĂŒrdigen Selbstanpassungsmechanismus der Gesellschaft einzustellen, um ihrer Funktionsweise auf den Grund zu gehen und ausgehend davon andere Formen der Beschreibung zu entwickeln.
Die Problemformel lautet also: KomplexitÀt. Ihr gilt es sich zu nÀhern.
Wovon kann man reden?
In einem ersten Schritt möchte ich mich mit der Frage beschĂ€ftigen, wovon wir eigentlich reden, wenn wir von etwas reden, denn das scheint inzwischen nicht mehr so einfach, wie es einmal war. Niemand spricht mehr in Substanzen, nichts ist so, wie es ist. Alles ist Ergebnis von Unterscheidungen, Differenzen. DarĂŒber scheint es eine erstaunliche Einigkeit zu geben. Man trifft auf kaum eine theoretische Innovation, die nicht mit der Hilfe von Differenzen das auszudrĂŒcken versucht, was sie als theoretisches Credo bereitstellt. Und selbst wenn wir unsere eigene Denkgeschichte beobachten, stoßen wir auf eingefĂŒhrte, alles erklĂ€rende Differenzen.
Dass der Krieg, das Gegeneinander von Unterschiedlichem, der Vater aller Dinge sei, wussten schon die ganz alten Griechen; dass der Kosmos in eine eigentliche und eine uneigentliche Welt, in eine unbewegte und eine bewegte Welt differenziert sei, lehren die nicht ganz so alten Griechen; dass die Differenz von Heil und Verdammnis beziehungsweise von Glaube und SĂŒnde die Dynamik des irdischen Lebens ausmache, lehrt die christliche Tradition, die dies ĂŒbrigens stets im Hinblick auf die Differenz zum ewigen Leben leistet; dass Gott wie bei Nikolaus Cusanus als Ununterschiedenheit zu denken sei, macht die Unterschiedenheit alles Geschaffenen umso sichtbarer und prekĂ€rer; dass sich Synthesen dem dialektischen Zusammen-/Gegenspiel von Thesen und Antithesen verdanken, lĂ€sst Differenzen als Motor der Geschichte des Geistes offenbar werden; dass diese Hegel’sche Geschichte – von Marx vom Kopf auf die FĂŒĂŸe gestellt – stets eine Geschichte von Differenzen sei, die in KlassenkĂ€mpfen ausgetragen werden, lĂ€sst Einheitsdenken als falsches Bewusstsein erscheinen; die Diagnose, dass die Geschichte der abendlĂ€ndischen Metaphysik von Seinsvergessenheit geprĂ€gt sei, verdanken wir Heidegger, dem Denker der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem; dass die morgenlĂ€ndische Metaphysik schon immer von der Differenz von Yin und Yang wusste, scheint sie fĂŒr enttĂ€uschte EuropĂ€er seit dem 19. Jahrhundert so attraktiv zu machen; ebenso die buddhistische Unterscheidung von Zeitlichkeit und Enthobenheit von Zeit.
Das Charakteristische an den genannten Unterscheidungen ist, dass sie ganze Welten aufspannen. Sie haben die FĂ€higkeit, die ganze Welt in sich aufzunehmen, weil es die Unterscheidung selbst ist, welche die Welt erzeugt, die sie da aufspannt. Die Welt ist eine Funktion der Unterscheidung – nicht umgekehrt. Wird also – um ein Beispiel aufzugreifen – die Welt mit der Unterscheidung von Heil und Verdammnis beobachtet, dann greift man keineswegs auf GegenstĂ€nde zu, die entweder Heil oder Verdammnis versprechen oder erwarten lassen. Andersherum: Alle GegenstĂ€nde, alles, was geschieht, fĂŒgt sich dann dem Schema Heil und Verdammnis – am radikalsten vielleicht in der ErbsĂŒndenlehre, wie sie von Augustinus im 5. Jahrhundert entwickelt wurde: Der Mensch selbst ist Ausdruck der Spannung zwischen der SĂŒnde, die er durch seine Zeugung erfahren hat, und dem Heil, weil er gottesebenbildlich geschaffen wurde. So wird alles, was ein Mensch tut beziehungsweise was in einer Gesellschaft geschieht, von dieser Unterscheidung absorbiert.
Insofern bildet die Unterscheidung von Heil und Verdammnis die ganze Welt ab – weil es nichts geben kann, das nicht in die Unterscheidung passt –, bis man auf konkurrierende Unterscheidungen stĂ¶ĂŸt. Dies ist nun der erste KomplexitĂ€tsaspekt. Die Unterscheidung von Heil und Verdammnis kann in der Tat alles qualifizieren. Alles kann unter dem Aspekt dieser Unterscheidung betrachtet werden. Wenn man so denkt, dann bewegt man sich in der Tat in der Geschlossenheit dieser Unterscheidung, ohne dass irgendetwas verloren geht – es sei denn, ich wiederhole es, man stĂ¶ĂŸt empirisch auf andere Unterscheidungen, also auf etwas, das die Welt auch ordnet, aber nun eben anders.
Der historische Klassiker dafĂŒr, wie solche Welten aufeinandertreffen, ist sicher die von den Naturbeobachtungen von Galileo Galilei und Nikolaus Kopernikus ausgehende Kritik des ptolemĂ€ischen Weltbildes, welche die theologische Idee der Erde als Zentrum der Schöpfung Gottes stark in Mitleidenschaft gezogen hat – ĂŒbrigens erst dann, als die Forschungen des Kopernikus, die man zunĂ€chst nicht als Ketzerei angesehen hatte, mit Galileo Galilei an PlausibilitĂ€t gewannen.1
Warum die kopernikanische Wende die Welt dezentriert
Das Epochale dieser heliozentrischen Wende bestand freilich gar nicht darin, dass hier ein Weltbild einem anderen gegenĂŒberstand. Man hĂ€tte es ja dabei belassen können, das heliozentrische Weltbild als Ketzerei abzutun, es also im Schema von Heil und Verdammnis aufzuheben und somit die Ordnung wiederherzustellen – eine Praxis, die sich ja historisch durchaus bewĂ€hrt hat. Man zwingt dann den Ketzer zu widerrufen, und wenn er es nicht tut, ĂŒberlĂ€sst man ihn eben pyrotechnisch oder auch nur psychotechnisch der Verdammnis. Das mag Ă€rgerlich sein, aber Ă€ndert nichts an den VerhĂ€ltnissen und ist sehr effizient. Letztlich haben solche Verunsicherungen dann sogar einen stabilisierenden Effekt, weil man sie innerhalb der gebotenen Unterscheidung, also innerhalb der gegebenen Kategorien vollstĂ€ndig lösen kann. Man braucht sogar das Verderbte, damit das Heil ĂŒberhaupt unterscheidbar ist, wie ja erst die SĂŒnde das GottgefĂ€llige wirklich charakterisieren kann.
Das KomplexitĂ€t Generierende, darin Epochale der heliozentrischen Wende freilich bestand darin, dass sich die Beobachtungen von Galileo und Kopernikus nicht mehr so einfach dem vorherigen Schema subordinieren ließen – und das weniger aus logischen als aus empirischen GrĂŒnden und aus GrĂŒnden einer sich irgendwie entwickelnden PlausibilitĂ€t. Es kam nun nicht einfach WidersprĂŒchliches, sondern Inkommensurables zum Vorschein: Ob die Erde sich um die Sonne oder diese um jene dreht, war nun eine Frage der (wissenschaftlichen) Wahrheit. Die Unterscheidung, die sich Bahn brach – im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ging um Planetenbahnen –, war die zwischen wahren und falschen SĂ€tzen. Sie verhĂ€lt sich im Hinblick auf die experimentellen und theoretischen Bedingungen der Naturbeobachtung letztlich indifferent zur Unterscheidung von Heil und Verdammnis. Die bloße Naturbeobachtung konnte sich unabhĂ€ngig machen von der Frage, ob die kopernikanische Beobachtung stimmt oder nicht. Die beiden Seiten begannen, fĂŒreinander indifferent zu werden, schon weil die wissenschaftlichen Beobachter sich selbst der Frage enthalten konnten. Sie haben sich schlicht dafĂŒr interessiert, was man denn da eigentlich sehen kann.
Die Kirche hat auf diese Herausforderung sehr intelligent reagiert. Sie hat s...

Table of contents

  1. Vorwort / Ein Vademecum fĂŒr den Umgang mit KomplexitĂ€t
  2. Erstes Kapitel / Welterschaffung / Die Konsistenz des weißen Blattes und die Inkonsistenz der Welt
  3. Zweites Kapitel / WeltverÀnderung / Zwischen kollektiver Einheit und besserer Einsicht
  4. Drittes Kapitel / KomplexitÀt / Die Heliozentrik dezentriert die Welt
  5. Viertes Kapitel / Zwei Welten. / Gibt es analoges Leben in digitalisierten Welten?
  6. FĂŒnftes Kapitel / It’s the society, stupid! / Ökonomisierung als Metapher gesellschaftlicher KomplexitĂ€t
  7. Sechstes Kapitel / Übersetzungskonflikte / Vom Umgang mit Perspektivendifferenz
  8. Über den Autor
  9. Impressum