Szene 1 / FlĂŒchtlinge!
Eine Frage der IdentitÀt
Aufblende
Eine Million FlĂŒchtlinge in einem Jahr. Das Land ist in Aufruhr. Die Ăffentlichkeit kennt kein anderes Thema mehr. Aus Strebern und MeisterschĂŒlern in Sachen Offenheit und Hilfsbereitschaft werden Zauderer, Angsthasen und DefĂ€tisten, die warnend erklĂ€ren, »das« sei eben doch nicht zu schaffen. Konfrontiert mit dem Fremden stellt Deutschland weniger den anderen als sich selbst die perfide Frage nach der eigenen IdentitĂ€t â und beantwortet sie so vielschichtig und nichtssagend, so undeutlich und deutlich zugleich, dass sich wenigstens die Differenz zwischen möglichen IdentitĂ€ten eindeutig zeigt. Jedenfalls lĂ€sst sich an der zur Krise erklĂ€rten Situation gut studieren, wie eine Gesellschaft mit verteilten Rollen auf eine sichtbare Irritation reagiert â sich auf diese Irritation stĂŒrzt, weil sie so schön sichtbar ist. Nicht nur die Fremden werden dabei sichtbar, sondern Deutschland wird im Laufe der »Krise« als »Deutschland« sichtbar â und weiĂ nicht, was es mit sich anfangen soll â ganz so, als gehe das Eigene verloren, wenn man zu genau danach fragt.
Akteure
- âą Eine Million FlĂŒchtlinge
- âą MĂŒnchner Linksautonome
- âą Bundesfinanzminister
- âą Bundeskanzlerin
- ⹠Französischer Philosoph
- âą GroĂsoziologe aus Bielefeld, verstorben
- âą GroĂsoziologe und GroĂphilosoph aus Frankfurt am Main, verstorben
- âą MĂŒnchner Soziologin
- âą Pegida
- âą AfD
- âą Rechter, der weiĂ, dass er ein Rechter ist
- âą AfD-Politiker
- âą Redakteur einer ĂŒberregionalen Tageszeitung
- âą Philosoph, berĂŒchtigt fĂŒr eine Ăsthetik der Andeutung
- âą Kulturchef eines Magazins
- âą MĂŒnchner Hauptbahnhof
- ⹠WelterklÀrer
- âą Ehemaliger Fernsehmann
- âą Blogger
- ⹠Kölner Hauptbahnhof
- âą Israelisch-arabischer Psychologe
- âą Feministische Antifeministin
- âą Grundgesetz
- âą Deutscher Politikwissenschaftler, aus Syrien stammend
- ⹠Französischer Nestor der identitÀren Bewegung
- âą Kursbuch-Autor
- ⹠NiederlÀndischer Migrationsforscher
- âą Hausphilosoph der AfD
- âą FĂŒhrungsfrau einer Nach-Nachfolgepartei
- ⹠Französischer Soziologe
- âą Linker deutscher Philosoph
- âą SĂŒddeutsche Regionalpartei
Incipit tragoedia!
Manche meinen, das 21. Jahrhundert werde das Jahrhundert der Flucht sein. Wanderungen â geplante und ungeplante, organisierte und wildwĂŒchsige, kontinuierliche und plötzliche â haben die Menschheitsgeschichte geprĂ€gt. Die nur im ersten Blick stationĂ€r wirkenden »Völker« sind ihrerseits das Ergebnis von Wanderungen. Der Hinweis, die Menschwerdung selbst sei das Ergebnis von wahrscheinlich vom afrikanischen Kontinent ausgegangenen Wanderungsprozessen, erĂŒbrigt sich fast â insofern: nichts Neues also. Und dennoch: Wanderungen sind immer anstrengend, schon weil das Leben eben nicht in welthistorischen, sondern in biografischen oder lebenszeitlichen Dimensionen gelebt wird. Wer bleibt, kann weitermachen wie bisher. Demnach sind sesshafte Gesellschaften solche, die genug Zeit haben, sich an sich selbst und an ihre Gewohnheiten zu gewöhnen. Zu Wanderungen kommt es stets dann, wenn sich Anpassungsprobleme einstellen â materielle Versorgung, Raumknappheit, interne Konflikte, Kriege, Neugier, klimatische VerĂ€nderungen, Naturkatastrophen usw. â wenn man also nicht einfach weitermachen kann.
Die Moderne ist stationĂ€r und beweglich zugleich. Wir haben inzwischen einen EchtzeitĂŒberblick ĂŒber die unterschiedlichen stationĂ€ren RĂ€ume auf dem Globus â medial vermittelt und von Wechselseitigkeit geprĂ€gt. Erst diese Wechselseitigkeit ermöglicht die unfassbare Beweglichkeit, in der wir nicht nur Bilder, Informationen und Waren um den Globus verschieben, sondern auch Menschen â und das vor den Augen einer Weltöffentlichkeit, die selbst als Push- und Pull-Faktor fĂŒr Wanderungen fungiert: aus Bildern und Berichten entstehen konkrete Erwartungen an die Fremde, in die man dann wandert â oder auch nicht.
Deutschland hat eine lange Erfahrung als Zielort fĂŒr FlĂŒchtende: Ăber elf Millionen Menschen kamen noch vor GrĂŒndung der Bundesrepublik aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, nach 1950 circa 4,5 Millionen Aussiedler und SpĂ€taussiedler aus Ă€hnlichen Gebieten. Asylsuchende spielten erst nach dem Kalten Krieg eine quantitativ bedeutende Rolle. Im Spitzenjahr 1992, wĂ€hrend des Jugoslawienkrieges, stellte eine halbe Million Menschen einen Antrag auf Asyl in der Bundesrepublik â das Spitzenjahr 2015 wartet mit höheren Zahlen auf. Nun kommen die Menschen aus den Krisengebieten der Levante, aus Nordafrika, aber auch vom Balkan.
Bis ins Jahr 2015 hat nicht nur Deutschland von einer findigen europĂ€ischen Rechtsregel profitiert, die als »Dublin-III-Abkommen« bekannt ist und sinngemÀà besagt, dass illegale Einwanderer und FlĂŒchtlinge ihren Asylantrag in dem Land stellen sollen, in dem sie den Boden der EuropĂ€ischen Union betreten. Das können naturgemÀà nur LĂ€nder sein, die entweder direkt an WestbalkanlĂ€nder angrenzen oder eine KĂŒste am Mittelmeer unterhalten. Flucht und Asyl aus den Krisengebieten der Levante â infolge der Kriege und Krisen in und um Irak, Afghanistan, Syrien, PalĂ€stina, Maghreb â waren zunĂ€chst also ein italienisches und griechisches Problem. In den BinnenlĂ€ndern Europas wurden FlĂŒchtlinge erst dann sichtbar, als man die Bilder von gekenterten Booten, ertrinkenden Menschen und purer Not und auch an der logistischen und quantitativen Ăberforderung der Mittelmeeranrainer und der BalkantransitlĂ€nder nicht mehr ĂŒbergehen konnte. Einer der wichtigsten Akteure in diesem Zusammenhang waren die eindrĂŒcklichen Bilder von Körpermengen, denen nicht mehr zu entkommen war.
Immer wieder tauchte in der öffentlichen Diskussion das Motiv auf, mit dem Ankommen der FlĂŒchtlinge erlebe Deutschland â spĂ€ter als andere LĂ€nder â eine Begegnung mit der Globalisierung und den damit zusammenhĂ€ngenden Konflikten der Welt. Mit der Ăffnung der Grenzen, also dem AuĂerkraftsetzen der so bequemen Dublin-III-Regeln, kam diese Globalisierung in Gestalt von circa einer Million Menschen tatsĂ€chlich in Deutschland an. Und dann begann ein LehrstĂŒck ĂŒber die Rollenverteilung öffentlicher Sprecher, das Kaskaden entfesselter Kommunikation erzeugt hat: Das FlĂŒchtlingsthema wurde zum bestimmenden Themengenerator in allen Bereichen der Gesellschaft.
Reflexe
Wirklich ĂŒberraschend war die spontane Hilfsbereitschaft in Deutschland. Gerade noch der böse Bube Europas, der ökonomische und politische Streber, der die anderen EU-Staaten auf angemessene öffentliche Finanzen, auf SparmaĂnahmen und Rettungspakete eingeschworen hat, zeigte Deutschland sich als Hort universalistischer Moral und grenzenloser Hilfsbereitschaft. Es ging so weit, dass die MĂŒnchner Polizei per Twitter und ĂŒbers Radio irgendwann darum bitten musste, keine HilfsgĂŒter mehr zum Hauptbahnhof zu bringen. Der Höhepunkt dieser Ausnahmesituation ist ĂŒbrigens fast untergegangen. Linksautonome Gruppen haben nach kurzer, basisdemokratischer Entscheidungsfindung beschlossen, aus ihrer »VolxkĂŒche« auch die helfenden Polizeibeamten zu versorgen, ihren natĂŒrlichen Feind im gemeinsamen Habitat.
TiefenschÀrfe
Im Gegensatz zu den geradezu feindseligen Diskussionen der 1990er-Jahre zeigte sich vor allem eine junge Generation, die kaum mehr prinzipielle Unterschiede zwischen den Menschen machen will, ganz und gar weltoffen. Vielleicht auch deswegen, weil sie so weit von Not in den Dimensionen der FlĂŒchtlinge entfernt ist, dass die Willkommenskultur wie ein Selbstauslöser wirkte.
Dass dieses »Rendezvous mit der Globalisierung«, von dem ein Bundesfinanzminister halb sĂŒffisant, halb analytisch in dem Zusammenhang sprach, auch von einer gewissen Unbeholfenheit in der EinschĂ€tzung der Lage und von sozialromantischen Utopien offener Grenzen und grenzenloser Offenheit begleitet wurde, soll nicht die Erkenntnis schmĂ€lern, dass die Grunderfahrung von Sicherheit und Selbstbewusstsein die beste Voraussetzung dafĂŒr ist, Fremdes und Differenzen nicht bedrohlich zu finden â wenigstens ist das der Umkehrschluss aus zahlreichen Studien, die belegen, dass Fremden- und Europaskepsis eindeutig mit Angst vor ökonomischem Abstieg korreliert. Der Katalysator fĂŒr diese Reaktion war sicher die Bildlichkeit des PhĂ€nomens â Bilder von vollen Booten (weit jenseits der dazugehörigen Metapher) und Bilder von Körpern, von vielen Menschen, von wandernden Gruppen. Die FlĂŒchtlingskrise hat sich zunĂ€chst geradezu drehbuchhaft in filmtauglichen Bildern dargestellt.
Insgesamt ist die Globalisierung dieser jungen Generation vor allem in Form filmischer Ăsthetik bekannt â als filmisches Bild der ganzen Welt, zugleich aber auch in dem Sinne, dass hier eine reisende Generation die Erfahrung macht, dass sie das Neue nicht entdeckt, sondern wiedererkennt, weil sie fast alles bereits vorher in filmischer und bildlicher Ăsthetik gesehen hat. Das Willkommen war jedenfalls stark moralisch induziert, ohne Frage. Aber diese Moral der Augenhöhe und der Neugier ist die einer Generation, die eben nicht mehr in einer Welt hierarchischer Unterschiede lebt, sondern daran gewöhnt ist, dass jeder Sprecher dasselbe Recht hat, gehört zu werden.
Es ist schwierig, das so zu beschreiben, denn zum Drehbuch gehört auch, dass eine solche Beschreibung des Geschehens bereits als feindselig angesehen werden könnte, was beileibe nicht so gemeint ist. Die Ăffnung der Grenze war ohne Zweifel ein Gebot der Not â man mag sich kaum vorstellen, was sich fĂŒr Szenen abgespielt hĂ€tten, hĂ€tte man den Druck aus den Wanderbewegungen nicht herausgenommen. Das stellen sich all jene nicht mit vor, die sich reflexhaft im Vorwurf eingerichtet haben, die Bundeskanzlerin habe die Migrationsströme dadurch erst ausgelöst, dass sie anders geredet hat, als es in den 1990er-Jahren angesichts von FlĂŒchtlingsbewegungen geschehen ist.
Das Problem charismatischer Ereignisse und Situationen ist es, dass sie nicht wirklich von Dauer sind. So gesehen, hielt die euphorische Mobilisierung von Hilfe und Hilfsbereitschaft sehr lange an und hat die Akteure zum Teil selbst ĂŒberrascht. Es war einfach, sich zu positionieren und auf der richtigen Seite zu stehen, und es war interessanterweise eine Erfahrung, die in unterschiedlichen sozialen Milieus der Republik ganz Ă€hnlich wahrgenommen worden ist.
Reflexe
Es waren vor allem Theater, die in den FlĂŒchtlingen gewissermaĂen ein »Rendezvous mit den BĂŒhnen der Welt« erlebt haben. FlĂŒchtlinge, die dann irgendwann wegen des angeblich pejorativen Gehalts des Begriffs GeflĂŒchtete hieĂen, wurden als sprechende FlĂŒchtlinge protegiert. Es mag sich böse anhören, aber es war schon so etwas wie eine zweite BĂŒhnenĂ€sthetik, die sich am Fremden schadlos hĂ€lt. Es ist nichts dagegen zu sagen, dass sich die Leute fĂŒr Schicksale von FlĂŒchtlingen interessiert und mit den abverlangten Geschichten die groĂe Masse individualisiert haben. Aber es erinnerte an jenen GestĂ€ndniszwang, ...