Matthias Hansl
Lüge, Bluff & Co.
Über das Ende tugenddemokratischer Selbstbeherrschung
Dass falsch gewählt wird, ist mittlerweile kein Alleinstellungsmerkmal einer vermeintlich rückständigen arabischen Welt mehr. Machen wir uns nichts vor: Mit der demokratisch lupenreinen Inthronisierung des New Yorker Immobilienmilliardärs, politischen Quereinsteigers und notorischen Wahrheitsverdrehers Donald J. Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten ist der liberaldemokratische Westen am Ende einer Politik angelangt, so wie wir sie kennen und sie uns in den Lebensstilfeuilletons der Qualitätspresse lange Zeit schöngemalt haben. Das Ausgangsszenario der trashigen US-Politserie »Designated Survivor« wirkt deshalb wie eine hochaktuelle Groteske. Der Hollywoodstar Kiefer Sutherland verkörpert darin Tom Kirkman, den gleichermaßen smarten wie sympathischen Typ von nebenan, der als kompetenter und prinzipientreuer Sozialpolitiker im Washingtoner Politdschungel bisher nicht über den vergleichsweise bedeutungslosen Posten als Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung hinausgekommen ist.
Kirkman wurde vom amtierenden Präsidenten zu allem Überfluss gerade auch noch politisch kaltgestellt, weil er es sich mit der reformresistenten Ministerialbürokratie verscherzt hat, und steht deshalb kurz vor seiner Entlassung aus dem Kabinett. Anders als sein machiavellistisches Pendant Francis Underwood (alias Kevin Spacey) in der Erfolgsserie »House of Cards« nimmt Kirkman seine Degradierung sportlich und freut sich auf mehr Zeit mit seiner Familie. Während sich die wirklich wichtige Politelite des Landes im Capitol versammelt, fällt dem künftigen Privatier bei der jährlichen Ansprache zur Lage der Nation durch den Präsidenten nur mehr die historisch bedeutungslose Rolle des designated survivor zu, der an einem geheimen und sicheren Ort verweilt, damit er im mehr als unwahrscheinlichen Ernst- und Katastrophenfall als personelle Notlösung kommissarisch die Regierungsgeschäfte übernehmen kann. Wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind kommt, stolpert Kirkman tatsächlich durch einen hinterhältigen Bombenanschlag, bei dem das Capitol mitsamt der amtierenden Regierung in die Luft fliegt, in das wichtigste politische Amt der westlichen Welt. Kirkman wird Präsident, weil schlichtweg kein anderer übrig geblieben ist.
Die Ironie der Geschichte besteht nun darin, dass die Alternativlosigkeit, die in der liberalen Demokratie ja vermeintlich ein Unding darstellt, dem land of the free in diesem fiktiven Fall keineswegs zum Nachteil gereicht. Denn wie es anno 2017 keine demokratische Wahl, sondern nur noch der Zufall wollen kann, navigiert fortan ein Bilderbuchpräsident sein nie zu großes Schiff in aller Besonnenheit durch ein stürmisches Wellenmeer aus zahllosen innen- wie außenpolitischen Krisen. Kirkman ist der perfekte Präsident, eben weil er kein gewählter Präsident ist.
Der Lügner trifft den richtigen Ton
Vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl waren sich noch alle einig, größere Aussetzer in der politischen Selbstdarstellung seien in der sensibelsten Mediendemokratie der modernen Welt unweigerlich selbstzerstörerisch. Wer hier in Amt und Würden gelangen will, lautete die rückblickend naive Botschaft, muss über ein Mindestmaß an Stilsicherheit auf politischem Parkett verfügen und doch wenigstens auch den Eindruck erwecken, halbwegs zur rationalen Argumentation fähig zu sein. Als wählbar galt, wer kompetent wirkte, sich nicht blamierte und in der Debatte den richtigen Ton traf. Dafür hatte selbst der personifizierte Ausrutscher George W. Bush ein Gespür, zählte er mitsamt seiner Entourage doch immerhin zum ausgefuchsten Establishment der Republikanischen Partei. Man wusste, wie in Washington die Dinge laufen. Dem Außenminister der Bush-Regierung Colin Powell mussten seine Lügen erst aufwendig nachgewiesen werden, nachdem er vor dem UN-Sicherheitsrat anhand gefälschter Beweise behauptet hatte, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen. Dass die amerikanischen Neocons schließlich aufflogen, war auch dem institutionellen Druck einer halbwegs funktionierenden prozeduralen Demokratie geschuldet. Deren Segnungen führte Jürgen Habermas auf einen »sich selbst korrigierende[n] Lernprozess« im Anschluss an die Französische Revolution von 1789 und die seither geschärften Argusaugen der politischen Öffentlichkeit zurück. Auf der entgegengesetzten Seite gingen auch die Apologeten der Staatsräson stets davon aus, dass Lügen zumindest gut kaschiert werden müssen. In der Tradition Machiavellis skizzierten sie den idealen Homo politicus als Kreuzung zwischen Fuchs und Löwe: Politischer Erfolg und Durchsetzungsstärke beruhten demnach zu einem guten Teil auf der Einsicht in die Mechanismen eines selbstreferenziellen politischen Betriebs, in dem die Moral, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Mittlerweile liegen die Dinge völlig anders. Eine Revolution ist im Gange, die Idealisten und Realisten gleichermaßen alt aussehen lässt. Lüge, Bluff, Durchtriebenheit und Zynismus werden dabei vom raunenden Demos geradezu offensiv eingefordert und bei ausreichendem Einsatz im Wahlkampf postwendend akklamiert. Die Lüge gehört auf einmal zum guten Ton. Sie ist kein machiavellistisches Mittel der Politik mehr, das man vor den Augen der Öffentlichkeit besser verborgen hält. Durchtriebenheit und Ruchlosigkeit gelten nun als Ausweis von Cleverness. Dieser Trend, in dem ein Bedürfnis nach sofortiger Befriedigung situativer Bedürfnisse zum Ausdruck kommt – man könnte dies auch im Sinne kollektiv-infantiler Regression als Verlangen nach politischer instant gratification bezeichnen –, entspringt den Untiefen der Gesellschaft selbst und indiziert einen Verfall bürgerlicher Maßstäbe. Politische Klugheit kann nicht mehr im Modus der longue durée gedacht werden, da dies unweigerlich die Tugenden von Abwägen und Kompromiss erfordert. Das unmittelbare Ausagieren politischer Reflexe ist in dem Sinne auf die Lüge angewiesen, um seinerseits das bereits ad nauseam erwartbare Argument der Gegenseite zu kontern. Eine gesellschaftliche Konstellation, in der die klassische bürgerliche Gesellschaft zunehmend in fragmentierte Verwalter gesellschaftlicher Pfründe, mit einem Begriff Max Horkheimers, in »Rackets« zerfällt, begünstigt diese toxische Ökonomie politischer Unmittelbarkeit, für welche die Kommunikationstechnologien weniger als Informationsmittel denn als verstärkende Durchlauferhitzer fungieren.
Die neue Kraft der Lüge mutet auf den ersten Blick paradox an. Niemals zuvor war es möglich, so leicht und schnell an Informationen zu kommen, nie war verfügbares Wissen derart ausgereift, breit gestreut und offen zugänglich wie heute. Gleichzeitig verfängt eine postfaktische Politik, die auf bloße Effekte setzt und sich nicht einmal mehr darum bemüht, ihre perfiden Botschaften durch Pseudoargumente abzusichern, bei den demokratischen Massen mehr denn je. Es wirkt gerade so, als stellten Fakten, Argumente und Begründungen für die wahlkämpferisch umworbenen Mehrheiten mittlerweile einen Affront dar. Daran zeigt sich, dass auch der öffentliche Umgang mit der Wahrheit heute den Gesetzen einer »regressiven Modernisierung« unterliegt, die der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey in seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft eingehend analysiert hat: Einerseits indiziert das »hohe Maß an Konfabulation, also des pathologischen Glaubens an objektiv falsche Aussagen«, dass »Gegenwartsgesellschaften hinter das in der sozialen Moderne erreichte Niveau an Integration zurückfallen«; andererseits werden »wir nicht Zeugen eines eindeutigen Rückschritts hinter das in vermeintlich besseren Zeiten Erreichte«, weil das verfüg- und verwertbare Wissen ja tatsächlich anwächst.
Vom rationalen Liberalismus zur irrationalen Demokratie?
Der Publizist und Netzexperte ...