Spuren im Sand
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Spuren im Sand

Roman einer Jugend

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Spuren im Sand

Roman einer Jugend

About this book

Ein Chronist Deutschlands: Hans Werner RichterAls Gründer der einflussreichen Gruppe 47 ist Hans Werner Richter aus der deutschen Literaturgeschichte nicht wegzudenken. Nun sind zwei Werke wieder lieferbar, die seinen engen Bezug zu Vorpommern, wo er geboren wurde, zeigen. 'Spuren im Sand' aus dem Jahr 1953 erzählt, weitgehend autobiografisch, die Geschichteeiner Jugend auf Usedom. 'Mag die Zeit, von der der Autor erzählt, auch vorbei sein, verloren ist sie keineswegs', schreibt Siegfried Lenz in seinem Nachwort. Im 1990 erschienenen Band 'Deutschland deine Pommern' macht sich Hans Werner Richter auf die humorvolle Suche nach 'den' Pommern und spürt Erlebnisse, Anekdoten und erdachte Gespräche auf.

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Information

Publisher
Hinstorff
Year
2015
Print ISBN
9783356019919
eBook ISBN
9783356020076
Als ich geboren wurde, machte der Kaiser noch seine Nordlandfahrten, trugen die Männer des Dorfes, in dem ich den ersten Schrei ausstieß, den Es-ist-erreicht-Schnurrbart, gab es noch die klingenden Taler und das goldene Zwanzigmarkstück. Der Ort war ein aufblühendes Seebad, und wenn der Kaiser Ende August, nicht weit davon entfernt, von seiner kaiserlichen Jacht an Land stieg (damals stieg man noch an Land), versäumte er es nie, unseren Ort zu besuchen und sich huldvoll seinen Untertanen zu zeigen. »Der Kaiser kommt!« hieß es dann, und alles lief auf die Straße. »Ta-tü-tata«, schrie die kaiserliche Autohupe, wobei »ta« »der«, »tu« »Kaiser« und »tata« »kommt« hieß.
Damals stand meine Mutter noch an einem Waschzuber und wusch Tag für Tag die feine Leinenwäsche der adligen Gäste unseres Ortes; mein Vater war Bademeister und rettete in jedem Sommer ein oder zwei leichtsinnige Personen, meist weiblichen Geschlechts, vor dem Tod des Ertrinkens. Der Tod des Ertrinkens war die einzige Art des Todes, die ich damals kennenlernte, und jahrelang schien es mir so, als könne man nur ertrinkend ums Leben kommen. Zwar jagte mein Vater mich immer davon, wenn er gerade wieder einen Halbtoten an den Strand zog; aber es gelang mir fast immer, zwischen seine Beine zu kriechen, um von dort aus einen Blick auf das grün und blau angeschwollene Gesicht des Halbertrunkenen zu werfen.
Mein Vater hatte bei den Ulanen in Prenzlau gestanden, und auch er trug den wachsgezwirbelten kaiserlichen Schnurrbart, dessen zitternde Spitzen bis an die Augenwinkel reichten. Er hielt sich stramm, wie sich alle damals stramm hielten, mit durchgedrücktem Kreuz und stolzem, geradeaus gerichtetem Blick. Etwas von dem Stolz und der Macht des Kaiserreichs war um ihn. Er konnte nicht schwimmen und war doch Bademeister – aber was machte das schon, angesichts von soviel Haltung und Würde, die damals überall zum Ausdruck kam. Mit aufgekrempelten Hosen stand er barfuß auf der Treppe der Badeanstalt, eine Art Autohupe in der linken Hand, und sah aufs Meer hinaus. Wenn jemand zu weit hinausschwamm, führte er die Hupe an den Schnurrbart, plusterte die Backen auf und gab einen schauerlichen Ton von sich. Mir erschien es dann, als beruhige sich das Meer unter diesem gewaltsamen, herrischen Ton meines Vaters augenblicklich.
Damals war das Meer, das heißt ein Stück des Meeres, noch für die Badenden abgezäunt und mit Stacheldraht und Planken begrenzt, so dass eigentlich niemand weit hinausschwimmen konnte; aber es war anscheinend eine Zeit der verbotenen Wege, und so gelang es immer einigen Verwegenen, das offene Meer zu erreichen. Meinem Vater missfielen diese Leute außerordentlich, denn er hatte nun einmal bei den Ulanen in Prenzlau gestanden und das Gehorchen gelernt. Er amtierte in einem Familienbad. Es gab außerdem noch ein Herren- und ein Damenbad, denn damals wurden die Geschlechter noch säuberlich voneinander getrennt.
Das war mein Vater. Er hatte, wie die meisten Väter im Ort, acht Kinder, und einige hatten zehn oder zwölf. Es war eine Zeit des Überflusses. Der Kaiser ging mit einem gesunden Geburtenüberschuß voran – und alle, alle folgten ihm. Es herrschte Ruhe und Ordnung, und auch in unserem Ort gab es eine feststehende Hierarchie, die mit dem Gemeindevorsteher und Feuerwehrhauptmann begann und mit dem ärmsten Waldarbeiter endete.
Eines Nachmittags, und dieser Nachmittag gehört zu meinen ersten unklaren Erinnerungen, saß ich zu Füßen meiner Mutter, die an einem Plättbrett stand und bügelte, als eine Frau mit einem hochgeschnürten Busen eintrat und mit meiner Mutter ein Gespräch begann.
»Anna«, sagte sie, »was ist denn nun mit Richard?«
»Was soll schon mit Richard sein?«
»Der Großherzog ist doch dagewesen?«
»Du meinst den Großherzog von Mecklenburg?«
»Ja … und die Tochter … ?«
»Die …«, sagte meine Mutter, »… die hatte zu viel Wasser geschluckt, und Richard hat sie rausgeholt.«
»Na, nun werdet ihr ja reich werden.«
»Einen Taler hat er bekommen«, sagte meine Mutter, zuckte die Schultern und stellte das Bügeleisen auf einen Teller.
»Ach Rosa«, begann sie wieder, »jetzt bin ich mal wieder soweit.«
»Was ist denn?«
»Na ja, du weißt doch, die Männer lassen einen nicht in Ruh’.«
»Was«, sagte die hochgeschnürte Rosa, »schon wieder? Seit wann denn?«
»Im dritten Monat«, sagte meine Mutter.
So erfuhr ich, dass es einen Großherzog von Mecklenburg gab, dessen Tochter mein Vater für drei Mark gerettet hatte, dass die Männer die Frauen nicht in Ruhe lassen und dass man im dritten Monat sein konnte. Jene hochgeschnürte Frau namens Rosa hieß School mit Nachnamen, und ihr Mann Heinrich hatte nicht weit von uns einen Kolonialwarenladen und fast eben so viel Söhne und Töchter wie mein Vater.
Der Ort lag am Meer, in einer weitgeschwungenen Bucht, mit Steilküsten, Buchen- und Tannenwäldern, und einer, wie im Badeprospekt stand, ozonreichen Luft. Es war ein kleiner Ort, mit etwa 500 Einwohnern, und seine Häuser, am Strand noch drei- und vierstöckig, wurden etwa einen Kilometer landeinwärts immer kleiner, bis hin zu den armseligen Hütten der Fischer. Die Sozialdemokratie, damals noch eine revolutionäre Partei, war noch nicht bis ans Meer gedrungen. Mein Vater war noch stolz darauf, herrschaftlicher Diener auf einem Gut in Hinterpommern gewesen zu sein, und meine Mutter wusch mit Hingabe die Unterwäsche der Baroninnen und Komtessen, die im Sommer kamen, um sich unter der Aufsicht meines Vaters und seiner Kollegen ins salzhaltige Ostseewasser zu begeben. Damals gab es noch keine Strandkörbe, sondern nur Badehütten, und der Strand war deshalb nur spärlich beflaggt. Aber auf den drei Bädern – schlossähnlichen Bretterbauten mit Zinnen und Türmen – wehte die schwarzweißrote Flagge und die Reichskriegsflagge. Sie kündeten von der kaiserlichen Macht und von der Ruhe und Ordnung im Lande, und oft kam es mir vor, als ständen sie ebenso wachssteif im Wind wie der Schnurrbart meines Vaters, der jeden Morgen vor dem Spiegel balsamiert und hochgezwirbelt wurde.
An jenem Nachmittag nun, an dem ich erfahren hatte, dass man im dritten Monat sein konnte und dass der Großherzog von Mecklenburg meinem Vater einen Taler für die Errettung aus Badenot gegeben hatte, erschien auch unser Gemeindevorsteher, ein ehemaliger Offizier niederen Ranges, und gratulierte meinem Vater, der dabei verlegen an seinen Schnurrbartenden zupfte. »Sie haben sich um das Reich verdient gemacht«, sagte der Gemeindevorsteher, wobei seine Lippen unter dem Bart feucht wurden. Er trug einen anderen, anscheinend älteren Bart als mein Vater. Er spross an den Backen entlang und nannte sich noch nach Kaiser Wilhelm dem Ersten. Nachdem der Gemeindevorsteher gegangen war, zog mein Vater sich die Feuerwehrlitewka an und wollte hinausgehen.
»Wo willst du hin?« fragte meine Mutter, die immer noch am Plättbrett stand und bügelte.
»Mal sehen«, antwortete mein Vater, »ist ja ein großer Tag heute.«
»Wieso großer Tag? Für einen Taler hast du die aus dem Wasser gezogen – und jetzt auch noch feiern?«
»Lass man, Anna, war ja auch die Tochter des Großherzogs. So ein Glück, was? Ganz weiß war sie wie die Wand.«
»So hochgeboren«, sagte meine Mutter, »und so geizig.«
»Geizig?«
»Na, ist das nicht geizig, das ganze Leben für einen Taler?«
Aber mein Vater ließ sich nicht beirren. Er ging hinaus, die Kellertreppe empor, und ich sah ihn an unserem Hause entlangschreiten, aufgerichtet, mit durchgedrücktem Kreuz, ein Bademeister und Ulan vom Scheitel bis zur Sohle.
»Lass ihn gehen«, sagte meine Mutter, »er wird sich schon noch die Hörner abrennen.«
Ich merkte, dass sie traurig war, und versuchte deshalb, von unten in ihr Gesicht zu sehen, aber ich konnte es nicht erkennen. Vor mir hing, von dem Plättbrett herab, ein Damenbeinkleid, mit Spitzen und Rüschen reich besetzt, und es sah wie eine lange, ornamentierte Röhre aus. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als dass es der Tochter des Großherzogs gehöre. Ich zupfte an dem Rock meiner Mutter und sagte:
»Gehört das der Tochter des Großherzogs, Mutti?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie, »irgend so einer wird es schon gehören, irgendeinem von diesen Dämchen, die sich für drei Mark aus dem Wasser ziehen lassen und die hochgeborenen Augen verdrehen, als ob sie etwas Besonderes wären. Aber sie sind gar nichts Besonderes; sie kriegen auch Kinder, sind dann auch im dritten Monat und schreien genauso wie wir dabei.«
Meine Mutter hatte anscheinend vergessen, dass ich unter dem Plättbrett saß. Sie sprach wie zu sich selbst und setzte dabei das Bügeleisen hart und energisch auf das Damenbeinkleid.
Es mag ein Jahr später gewesen sein, als Rosa School mit wogendem Busen und hochgeröteten Backen in d...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhalt
  5. Spuren im Sand
  6. Nachwort von Siegfried Lenz
  7. Impressum