TEIL 1: INDUSTRIE
TRIEBFEDER DER INDUSTRIALISIERUNG: WERTVOLLE ROHSTOFFE
VON DER NATUR BEGÜNSTIGT
Die entscheidenden Impulse für die Industrialisierung der späteren Region gingen von der reichen Fülle verschiedener Rohstoffe in Hannovers Umland aus. Während Kohle und Kalisalze aufwendig unterirdisch abgebaut werden mussten und auch Asphalt nur anfänglich im Tagebau gewonnen wurde, waren Torf, Kalkmergel, Tone, Sande, Kiese und Natursteine an diversen Stellen oberirdisch relativ leicht zugänglich. Insbesondere das Calenberger Land, das sich von Hannover aus südwestlich zwischen Leine und Deister erstreckt, bot überaus reichlich Bodenschätze. Größter Rohstofflieferant war der Deister selbst. Der gut 20 Kilometer lange Höhenzug barg nicht nur tief in seinem Inneren Steinkohle, sondern lieferte auch Baumaterial sowie Brenn- und Werkstoffe wie Holz, Stein oder Kalk.
Die industrielle Gewinnung von Bodenschätzen hat(te) ihren Preis. In Orten, deren Untergrund vom Bergbau unterhöhlt war, konnten die Häuser durch Erdrutsche unbewohnbar werden. Der Tagebau von Rohstoffen hingegen vernichtete Natur und landwirtschaftliche Nutzflächen, störte oft den Grundwasserhaushalt und schmälerte damit weiträumig die Ertragskraft der umliegenden Ländereien. Nach Aufgabe eines Tagebaus blieben mehr oder minder tiefe Narben im Boden, deren (kostspielige) Renaturierung erst seit den 1960er-Jahren als wichtig erachtet wird. Ehemalige Kies- und Sandgruben sind voller Grundwasser gelaufen und heute als Bade- oder Angelseen bzw. als Naturschutzgebiete attraktive Freizeitziele. Eine solche Nachnutzung gelang bei Lehm- und Tonkuhlen nur vereinzelt. Sie eigneten sich allenfalls noch als minderwertiges Grünland.
Zum Baden freigegebener Kiessee im Wietzepark, Isernhagen
An manche Rohstoffe knüpften sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein blühende Industrien. Andere Branchen gingen mit sinkender Nachfrage oder Erschöpfung der Lagerstätten unter.
KOHLE, DAS SCHWARZE GOLD DES DEISTERS
GEMÄCHLICHE ANFÄNGE
Ohne Kohle wäre die Industrialisierung schlicht undenkbar. Mit den Steinkohlevorkommen des Deisters verfügte die Region über einen äußerst wertvollen Bodenschatz, den sie gut zu nutzen wusste. Noch bevor der Deisterbergbau überhaupt seinen Zenit erreicht hatte, bescheinigte ihm der „Gewerbeverein für Hannover" 1867, den „Impuls zu den Anfängen der Hannoverschen großen Industrie" gegeben zu haben. Dabei genoss die Deisterkohle, obwohl sie sich zeitweise auch überregionale Märkte erschloss, kaum mehr als regionale Bedeutung. Das schwarze Gold aus dem Raum Hannover zählt nämlich zur Wealdenkohle, die nach einem gleichartigen Vorkommen im Südosten Englands benannt ist. Sie enthält weniger Kohlenstoff, aber einen höheren Anteil Wasser und flüchtiger Gase als beispielsweise Ruhrkohle und hinterlässt mehr Asche, Schlacke und Ruß. So wurde der Bergbau im Deister nach einer ansehnlichen Erfolgsgeschichte mangels Rentabilität in den 1950er-Jahren eingestellt.
Die Ursprünge der Deisterkohle reichen etwa 140 Millionen Jahre zurück. Damals, im Übergang von der Jura- zur Unteren Kreidezeit, zersetzten sich abgestorbene Pflanzen in einem flachen, großen Binnenmeer, das sich über weite Teile des norddeutschen Raums erstreckte. Im Laufe von Jahrmillionen wurden diese abgestorbenen Pflanzen mit Ablagerungen späterer Zeiten bedeckt und durch den Druck dieser Schichten „inkohlt".
Vermutlich schon im Mittelalter wurde im Deister dicht unter der Oberfläche liegende Kohle durch einfache Kuhlengräberei gewonnen. Für das erste urkundlich belegte Bergwerk am Bröhn südwestlich von Wennigsen hatte man erfahrene Bergleute aus dem Harz geholt, es bestand allerdings nur von 1639 bis 1642. Dann bauten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die Grafen von Platen unter dem Bröhn und dem Hülsebrink in bescheidenem Umfang Kohle ab. Dafür ließen sie niedrige Schächte, sogenannte Pingen, niederbringen und nach der Ausbeute wieder zuwerfen. Trotz ihres besseren Brennwerts setzte Kohle sich in Haushalten und Gewerbebetrieben zunächst nicht gegen die traditionellen Brennstoffe Holz und Torf durch, denn sie war teurer und erforderte andere Öfen. Fuß fasste sie hingegen in neuen, im Wachstum begriffenen Gewerbe- und frühindustriellen Betrieben wie Branntweinbrennereien, Schmieden oder Salinen. Im späten 18. Jahrhundert setzte eine intensivere wirtschaftliche Nutzung ein. Zunächst errichtete der Landesherr Kohlengruben am Daberge bei Volksen und am Süerßer Brink in Wennigsen. Ab 1804 ließ Freiherr Wilhelm Carl Ernst Knigge (1771–1839) in seinem Bredenbecker Forst Kohle abbauen – und zwar, ohne zuvor eine Schürferlaubnis eingeholt zu haben, obwohl die Ausbeutung von Grundschätzen zu den landesherrlichen Hoheitsrechten gehörte. Das hannoversche Staatsministerium billigte im Nachhinein Knigges Vorgehen. So entstand das besondere Calenberger Bergrecht. Es gestand fortan jedem Grundeigentümer zu, die in seinem Boden lagernden Rohstoffe auf eigene Rechnung abzubauen oder das Recht dazu Dritten zu überlassen. 1807 pachtete Johann Egestorff (1772–1834) die Schürfrechte am Bröhn. Damit sicherte er sich frühzeitig den Einsteig in einen neuen, lukrativen Gewerbezweig und sorgte in Zeiten zunehmender Holzknappheit dafür, dass ihm für seine jüngst vor den Toren Hannovers und in Ronnenberg gegründeten Kalkbrennereien und Ziegeleien genug Brennstoff zu guten Konditionen zur Verfügung stand. Auch Knigge vereinte Kohlengruben und einen Kohle verwertenden Betrieb in seiner Hand, als er 1809 die Glashütte Steinkrug gründete, die zur wichtigsten Abnehmerin seines Bergwerks wurde. (Abb. auf S. 38)
VORAUSSCHAUENDE INVESTITIONEN
Als sich abzeichnete, dass Industrie und Eisenbahn einen schier unersättlichen Hunger nach Kohle entwickeln würden, interessierten sich zunehmend private Investoren für das schwarze Gold des Deisters. 1831 errichtete der Steinhauermeister August Wilhelm Blume aus Barsinghausen gemeinsam mit Johann und Georg Egestorff (1802–1868) das Klosterbergwerk mit dem Sammannstollen. Im gleichen Jahr bildeten die Barsinghäuser Hofbesitzer eine Interessentengemeinschaft, um gemeinschaftlich ein Bergwerkzu betreiben. Sie siedelten ihr Gemeindebergwerk genanntes Unternehmen in dem Teil des zum Kloster gehörenden Waldes an, den ihnen die Klosterkammer Hannover seit Längerem zur Nutzung überlassen hatte. Diese Landesbehörde, die seit der Reformation den Besitz der einst katholischen Klöster verwaltet, untersagte jedoch nach erfolgreichen Probebohrungen weitere Arbeiten. Nach ihrer Auffassung hatte sie der Gemeinde lediglich die Holznutzung erlaubt; die Schürfrechte hingegen wollte sie nur gegen die landläufig übliche zehnprozentige Gewinnbeteiligung verpachten. Nach einem 17-jährigen Rechtsstreit obsiegte schließlich 1848 die Interessentengemeinschaft. Bereits zwei Jahre zuvor hatte sie trotz der unsicheren Rechtslage begonnen, am oberen Bullerbach einen Schacht abzuteufen, also niederzubringen, aus dem sie seit 1847 Kohle förderte.
Glashütte Steinkrug, eine wichtige Abnehmerin des „schwarzen Goldes"
Auch der hannoversche Staat verstärkte sein Engagement im Deisterbergbau. Ab 1831 fuhr er den Feggendorfer und den Hohenbosteler Stollen auf, 1845 nahm er den Hohe-Warte-Stollen in Betrieb. Eine eigens eingerichtete Königliche Bergwerks-Administration am Deister, die dem Königlichen Finanzministerium unterstellt war, verwaltete die staatlichen Bergwerke. Sie nahm ihren Sitz in Egestorf, und zwar im Fachwerkhaus in der heutigen Stoppstraße 20.
Nachdem die ersten Dampfmaschinen 1836 die im heutigen hannoverschen Stadtteil Linden gelegene Maschinenfabrik von Georg Egestorff, die spätere Hanomag, verließen und rasch ein unentbehrliches Hilfsmittel in vielen Fabriken wurden, zeigte sich, dass die Bergwerksgründer den richtigen Riecher gehabt hatten: Sie konnten die steigende Nachfrage nach Kohle nicht decken. Noch 1860 musste das Königreich Hannover mehr als die Hälfte seines Kohlebedarfs gegen hohe Frachtkosten per Schiff aus England oder auf der Schiene aus anderen deutschen Staaten einführen. Um das hierfür aufgewendete Geld dem heimischen Wirtschaftskreislauf zu erhalten, baute der Staat gezielt den Steinkohlenbergbau im Deister aus. Er kaufte großflächig bislang nicht ausgebeuteten Kohlenuntergrund auf und bemühte sich zudem um den Erwerb der bestehenden privaten Bergwerke, um sie mit den eigenen Stollen zu einem Bergbaugroßbetrieb zu vereinigen. Den Barsinghäuser Landwirten zahlte er 1857 für ihr Gemeindebergwerk mit seinem Ministerstollen und die Schürfrechte im Gemeindeforst eine stolze sechsstellige Summe. Jeder Interessent erhielt, je nach Größe seiner Hofstelle, einen vierstelligen Anteil davon. Angeblich musste mancher die in einer Gaststätte ausgezahlten Münzen mit einem Karren abtransportieren. Auch die Werke am Suerßer Brink gingen in staatlichen Besitz über.
Der preußische Staat setzte ab 1866 die Kohlepolitik des annektierten Königreichs – im Übrigen unter Beibehaltung des Calenberger Bergrechts – mit dem Ankauf weiterer Abbauflachen und kleinerer, privater Bergwerke fort. Alle staatlichen Bergwerke und den in Barsinghausen entstehenden Klosterstollen vereinigte er zu den Königlichen Steinkohlenbergwerken am Deister in Barsinghausen- und unterstellte sie der Königlich Preußischen Berginspektion am Deister als Nachfolgerin der hannoverschen Bergwerksadministration. Sie bezog 1873 das ehemalige Klosteramtshaus in der Barsinghäuser Bergamtsstraße, das heutige Rathaus I.
Eingang zum Stollen Hohenbostel
Rathaus I, Barsinghausen, früher Berginspektion
DER SIEGESZUG OER KOHLE BEGINNT
Im Fahrwasser der liberalen preußischen Wirtschaftspolitik und der Gründerjahre gedieh auch der Deisterbergbau prächtig. Allein in den staatlichen Bergwerken förderten 1875 mehr als 1 200 Bergleute 180 000 Tonnen Kohle und erwirtschafteten hohe Gewinne. Hauptabnehmer waren die Industriebetriebe in Hannover und Linden. Hier hatte sich die Zahl der Dampfmaschinen zwischen 1859 und 1872 von 36 auf 182 verfünffacht; die meisten wurden ausschließlich mit Deisterkohle befeuert. 1872 wurde der Zechenbahnhof neben dem Mundloch (Eingang) des Klosterstollens über ein Nebengleis an die gerade erbaute Eisenbahnstrecke Hannover-Haste, die sogenannte Deisterbahn, angeschlossen. Der Transport auf der Schiene löste die Auslieferung per Pferdefuhrwerk ab. Dank des neuen Verkehrsmittels erschlossen sich die Deisterbergwerke Abnehmer in Braunschweig, Bremen, Hamburg und Berlin. Sie lieferten sogar nach Westfalen, das ja selbst über ein bedeutendes Kohlerevier verfügte. Allerdings hatte es die Deisterkohle schwer, sich überregional gegen die qualitativ hochwertigere englische und westfälische Konkurrenz zu behaupten.
Das Geschäft mit der Kohle folgte den allgemeinen wirtschaftlichen Höhen und Tiefen. Infolge der 1873 einsetzenden Rezession mit dem Produktionsrückgang in Fabriken, Ziegeleien und Kalköfen sank der Absatz der Deisterkohle um ein Drittel, zumal zunehmend höherwertige Ruhrkohle per Bahn nach Hannover gelangte. Ihr Verkaufspreis fiel in kürzester Zeit um fast 40 Prozent. Einzelne Stollen wurden vorübergehend ganz oder teilweise stillgelegt. Durch Lohnsenkungen und unbezahlte Feierschichten halbierte sich das Einkommen der Bergleute nahezu. Die 1890er-Jahre zeichneten ein vergleichbares Bild, während die Absatzkurven des davor liegenden Jahrzehnts vorübergehend wieder nach oben wiesen. Dazu trugen wesentlich die neu gegründeten Zuckerfabriken in Weetzen und Groß Munzel bei, aber auch eine privat betriebene Kokerei, die 1880 am Mundloch des Klosterstollens errichtet worden war. Hier verschmolz der feste Kohlenstoff bei Temperaturen über 1 000 Grad Celsius zu schwefel-, ruß- und raucharmem Koks für die Hochöfen der Eisen- und Stahlindustrie. Die ausgetriebenen flüchtigen Bestandteile der Kohle, nämlich sogenannte Kohlenwertstoffe wie Teer, Benzol, Ammoniak oder Schwefel, nahm die chemische Industrie zur weiteren Verarbeitung ab. Das übrig gebliebene Kokereigas fand Verwendung als Brennstoff. Des Weiteren wirkten sich Streiks in anderen Bergbaurevieren wie beispielsweise ein großer Ausstand im Ruhrgebiet imjahr 1889 günstig auf den Verkauf von Deisterkohle aus.
Nachdem sich am Ende der 1880er-Jahre abzeichnete, dass die oberflächennahen Flöze in den bestehenden Stollen bald ausgebeutet sein würden, kaufte der Staat weiteren Kohlenuntergrund in Eckerde, Egestorf, Großgoltern, Kirchdorf und Langreder. Außerdem arbeiteten sich die Bergleute zunehmend in die Tiefe vor, denn hier lag sogenannte Fettkohle, die sich wegen ihres höheren Gasgehalts besser verkoken ließ. Ab 1888 teuften die Männer nahe dem Mundloch des Klosterstollens den Wilhelmschacht genannten Tiefbauschacht I ab. 1892 erreichten sie nach 115 Metern die erste Tiefbausohle und vier weitere Jahre später durch einen von hier aus vorgetriebenen Querschlag mit fast 700 Meter Länge das Kohleflöz. Schnell wurde der Wilhelmschacht zur Hauptförderanlage der staatlichen Bergwerke, während kleinere Schächte aufgegeben wurden. Bis 1903 erschlossen die Bergleute eine weitere Abbausohle in über 200 Meter Tiefe und teuften in unmittelbarer Nähe zu Schacht I einen ...