Aufgabe 5 der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2011/1
(Arbeitszeit: 5 Stunden)
Die Bundesregierung möchte die Integration von Ausländern verbessern. Sie plant daher unter anderem neue Pflichten für Einbürgerungsbewerber, insbesondere die Einführung von verpflichtenden Sprachkursen mit Abschlusstests.
Der Gesetzentwurf ist umstritten. Nach langer Debatte beschließt der Bundestag Mitte 2010 den durch die Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf mit knapper Mehrheit. Der Bundesrat, der ordnungsgemäß am Verfahren beteiligt wird, ruft den Vermittlungsausschuss an.
Der Vermittlungsausschuss findet nach langer Verhandlung einen Kompromiss. Der vom Bundestag beschlossene Gesetzentwurf soll akzeptiert werden. Im Gegenzug – so der Vorschlag des Vermittlungsausschusses – sollen auch „positive Signale gesetzt werden“, um Ausländern zu zeigen, dass Integration „keine Einbahnstraße“ sei und der Gesetzgeber bereit sei, den „vielfältigen Besonderheiten der in Deutschland lebenden Kulturen“ Rechnung zu tragen. Der Vermittlungsausschuss schlägt daher – erstmals – vor, das bislang geltende und nur unter einem engen Erlaubnisvorbehalt stehende Verbot des Schächtens aufzugeben. „Völlig freigegeben“ werden soll das Schächten aber nicht, weil befürchtet wird, dass gerade in kleinen Gemeinden Konflikte dadurch entstehen könnten, dass Schächtungen den vor Ort dominierenden Moral- und Wertvorstellungen widersprechen. Immerhin hielten Teile der Öffentlichkeit das Schächten für eine „unverantwortbare und brutale Tötungsmethode“, die mit den „hiesigen gesellschaftlich-ethischen Werten“ unvereinbar sei.
Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses enthält daher – erstmals – folgende neue Fassung (n. F.) des bisherigen § 4 a des Tierschutzgesetzes (TierSchG):
„(1) Das Schlachten von warmblütigen Tieren ohne Betäubung (Schächten) durch sachkundige Personen ist gestattet.
(2) (…) [verfassungsrechtlich unbedenkliche Bestimmungen zur erforderlichen Sachkunde und zu Bußgeldtatbeständen für Abs. 3].
(3) Die Landesregierung kann das Schächten durch Rechtsverordnung für das gesamte Gebiet oder für Teile des Gebietes einer Gemeinde mit bis zu 5.000 Einwohnern verbieten, wenn dies im Einzelfall nach den örtlichen ethischen Anschauungen für ein gedeihliches Miteinander der in der Gemeinde lebenden Menschen unerlässlich ist“.
Obwohl die in § 4 a TierSchG n. F. enthaltenen Regelungen weder Bestandteil des durch die Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfes waren noch im Gesetzgebungsverfahren bislang thematisiert worden sind, stößt der vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagene Kompromiss bei Bundestag und Bundesrat Ende 2010 auf Zustimmung. Der Bundestag fasst über den Gesetzentwurf und § 4 a TierSchG n. F. daher einen Beschluss nach Art. 77 Abs. 2 Satz 5 GG. Der Bundesrat stimmt ebenfalls zu. Nach Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung treten der Gesetzentwurf und § 4 a TierSchG n. F. in Kraft.
In der bayerischen Gemeinde Kuhberg (4 500 Einwohner) beabsichtigt der spanische Staatsangehörige und Metzger Miguel Mendez, der selbst katholischen Glaubens ist, künftig (auch) zu schächten, um für muslimische und jüdische Kunden attraktiv zu werden. Diese kaufen bislang bei einem ausschließlich schächtenden muslimischen Konkurrenten in der Gemeinde ein. Als die Pläne von Miguel Mendez bekannt werden, protestiert eine große Zahl der Einwohner von Kuhberg. Das Schächten sei eine „ethisch unvertretbare Tötungsmethode“ und dürfe in Kuhberg nicht länger toleriert, geschweige denn noch häufiger vorgenommen werden.
Als Reaktion auf die anhaltenden hitzigen Debatten in Kuhberg erlässt die Bayerische Staatsregierung die Bayerische Schächtverordnung (SchächtVO), nach deren § 1 das „Schächten warmblütiger Tiere im Gebiet der Gemeinde Kuhberg verboten“ ist. Verstöße können nach § 2 SchächtVO mit einem Bußgeld geahndet werden.
Miguel Mendez, der sich rechtmäßig in Deutschland aufhält, möchte sich mit dem Verbot in § 1 SchächtVO nicht abfinden. Er wendet sich ohne Erfolg an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und an das Bundesverwaltungsgericht. Sodann erhebt er form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen. Er macht unter anderem geltend, dass § 1 SchächtVO verfassungswidrig sei, weil § 4 a TierSchG n. F. Art. 80 GG nicht beachte. Art. 80 GG lasse die Verwendung von unbestimmten Begriffen nicht zu. Zudem sei vollkommen unklar, was etwa für ein „gedeihliches Miteinander“ „unerlässlich“ sei; solche unbestimmten Begriffe kenne die deutsche Rechtsordnung bislang nicht. Außerdem beschränke § 1 SchächtVO die Berufsausübung unverhältnismäßig, zumal gerade typischerweise muslimische Metzger, die ausschließlich schächten, von dem Verbot betroffen seien. Ferner sei § 4 a TierSchG n. F. schon formell verfassungswidrig, da dieser auf einem Vorschlag des Vermittlungsausschusses (Art. 77 GG) beruhe; dies sei mit Art. 76 Abs. 1 GG unvereinbar.
Vermerk für die Bearbeiter:
In einem Gutachten, das auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen eingeht, sind die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde von Miguel Mendez zu prüfen.
Es ist davon auszugehen, dass dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für § 4 a TierSchG n. F. zusteht.
Auf andere Vorschriften des TierSchG als die hier abgedruckte (fiktive) Norm des § 4 a TierSchG n. F. ist nicht einzugehen.
Art. 3 GG und Art. 4 GG bleiben bei der Bearbeitung außer Betracht.
Schächten ist das im Islam und im Judentum verbreitete Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung; die schächtende Person muss nicht diesen Religionen angehören. Bei der Bearbeitung ist – ungeachtet religionswissenschaftlicher Streitigkeiten – das vorgenannte Verständnis zugrunde zu legen. Ferner ist zu unterstellen, dass wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt ist, dass sachgerechtes Schlachten mit vorheriger Betäubung Tieren weniger Qualen bereitet als ohne vorherige Betäubung.
Lösungsskizze zur Aufgabe 5 der Ersten Juristischen
Staatsprüfung 2011/1
(Text s. BayVBl. 2014, 31)
Die nachfolgenden unverbindlichen Hinweise zur Lösung behandeln die nach Auffassung des Erstellers maßgeblichen Probleme der Aufgabe. Sie stellen keine „Musterlösung“ dar und schließen andere vertretbare, folgerichtig begründete Ansichten selbstverständlich nicht aus. Der Inhalt und der Umfang der Lösungshinweise, die Ausführlichkeit und die Detailgenauigkeit der Darlegungen sowie die wiedergegebene Rechtsprechung und Literatur enthalten insbesondere keinen vom Prüfungsausschuss vorgegebenen Maßstab für die Leistungsanforderung und -bewertung.
Vorbemerkung:
Der Schwierigkeitsgrad der Klausur ist, soweit sie staatsorganisationsrechtliche Probleme (Vermittlungsausschuss, Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) beinhaltet, hoch. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in den letzten Jahren in mehreren Entscheidungen1 zu den Kompetenzen des Vermittlungsausschusses und auch jüngst wieder zu den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG Stellung genommen2. Der Sachverhalt enthält zudem zahlreiche Hinweise.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Zuständigkeit des BVerfG
Die Zuständigkeit des BVerfG folgt aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 13 Nr. 8 a, §§ 90 ff. BVerfGG.
II. Beschwerdefähigkeit
Miguel Mendez (M) ist als natürliche Person Grundrechtsträger und damit beschwerdefähig i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG.
III. Beschwerdegegenstand
Tauglicher Beschwerdegegenstand kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein, d. h. jede Maßnahme der Exekutive, Legislative oder Judikative (§ 90 Abs. 1 BVerfGG).
Hier wendet sich M gegen die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) und damit gegen Akte der Judikative. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand liegt vor. Darüber hinaus kann offenbleiben, ob in dem Fall eines instanzgerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine Rechtsverordnung (Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, Art. 5 Satz 1 AGVwGO) letztlich nicht Gegenstand des Verfahrens die Norm selbst ist.3
IV. Beschwerdebefugnis
Weiterhin müsste M beschwerdebefugt sein. Entgegen dem Wortlaut des § 90 Abs. 1 BVerfGG genügt die bloße Behauptung einer Grundrechtsverletzung zur Annahme der Beschwerdebefugnis nicht. „Behauptung“ ist vielmehr i. S. v. „plausible Geltendmachung“ zu verstehen. Aus dem Vortrag des Beschwerdeführers muss sich danach zumindest die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben; eine solche darf jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen erscheinen. Die geltend gemachte Grundrechtsverletzung muss M zudem selbst, unmittelbar und gegenwärtig betreffen.
Es erscheint nicht schlechthin ausgeschlossen, dass das gerichtlich bestätigte Verbot, im Gebiet der Gemeinde Kuhberg (K) zu schächten, einen ungerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich der Berufsfreiheit von M (Art. 12 Abs. 1 GG) oder jedenfalls in seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) darstellt. Die mögliche Grundrechtsverletzung betrifft M auch selbst. Die Belastung dauert zudem nach wie vor an, so dass die mögliche Grundrechtsverletzung auch gegenwärtig ist. Da es keines weiteren Vollzugsaktes bedarf, ist die mögliche Beschwer auch unmittelbar. M ist beschwerdebefugt.
Hinweis: Es ist vertretbar, wenn die Bearbeiter schon hier auf den persönlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit und den Unionsbürgerstatus von M eingehen.
V. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
Der Rechtsweg nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, Art. 5 Satz 1 AGVwGO sowie §§ 132 ff. VwGO ist erschöpft. Möglichkeiten, die Grundrechtsverletzung auf andere Weise zu beseitigen (Grundsatz der Subsidiarität), sind nicht ersichtlich.
Hinweis: Zwar wäre denkbar, von M zu verlangen, gegen das Verbot in § 1 SchächtVO zu verstoßen, hierdurch einen Untersagungsverwaltungsakt „zu provozieren“ und diesen im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens überprüfen zu lassen; das Verwaltungsgericht müsste die zugrunde liegende Norm dann inzident prüfen und ggf. – da sich das Verwerfungsmonopol des BVerfG nicht auf die Verordnung erstreckt – unangewendet lassen. Allerdings ist diese Vorgehensweise bereits wegen des drohenden Bußgelds (§ 2 SchächtVO) unzumutbar. Ferner ist ein verwaltungsgerichtlicher Rechtsbehelf schon gegen die Norm selbst gegeben, so dass der Verweis auf eine lnzidentkontrolle eine Verdoppelung darstellte, die vom Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgedankens nicht getragen wird.
VI. Form und Frist
Frist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG) und Form (§§ 92, 23 Abs. 1 BVerfGG) wurden gewahrt.
VII. Zwischenergebnis
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn M in seinen Grundrechten verletzt ist.
Hinweis: Nicht abwegig ist auch ein Aufbau, der dem der Begründetheitsprüfung einer unmittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde angeglichen ist, da vorliegend die vorangegangene Entscheidung auf § 47 VwGO beruhte und die Gültigkeit der Verordnung alleiniger Gegenstand des Urteils war. Völlig überzeugend ist dies zwar nicht, da die Verfassungsbeschwerde dennoch der Abhilfe von Grundrechtsverletzungen dient und gerade kein objektives Normenkontrollverfahren ist. Wenn jedoch der Alternativaufbau gewählt wird, sollte bei Stringenz desselben gewürdigt werden, dass für diese Aufbauvariante zumindest auch Argumente sprechen.
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