Aufgabe 5 der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2010/1
(Arbeitszeit: 5 Stunden)
Anton und seine Ehefrau Frieda betreiben im Zentrum des Marktes Schwangau (Landkreis Ostallgäu), der unterhalb des Schlosses Neuschwanstein liegt, eine Pension mit 20 Betten. Das Pensionsgrundstück gehört beiden als Miteigentümern je zur Hälfte.
Die nähere Umgebung des Pensionsgrundstückes ist geprägt durch kleine Ladengeschäfte, Büros, Gaststätten, das Rathaus, eine Kirche und Wohnbebauung. Es gibt mehrere Häuser, die ausschließlich dem Wohnen dienen. Im Übrigen findet die Wohnnutzung in den Obergeschossen der Häuser statt. Die meist aus dem 19. Jahrhundert stammenden Fachwerkhäuser haben höchstens drei Stockwerke. Sie sind in geschlossener Bauweise errichtet und haben Straßenfronten von maximal 20 Metern. Für das Zentrum des Marktes Schwangau besteht kein Bebauungsplan. Das Ortszentrum ist im Flächennutzungsplan als Mischgebiet ausgewiesen.
Unmittelbar auf dem Nachbargrundstück zu dem Pensionsgrundstück will Ingo, ein Großinvestor, ein fünfgeschossiges Hotel mit Türmen errichten, das unter dem Namen „Ludwig hoch zwei“ betrieben werden und 200 Gästen Übernachtungsplätze bieten soll. Das in historisierendem Stil geplante Gebäude soll eine Straßenfront von 40 Metern aufweisen und doppelt so viel Platz in Anspruch nehmen wie das Rathaus, das das größte Gebäude im Umkreis ist. Als Ingo Frieda den Lageplan und die Bauzeichnungen des Hotels zur Durchsicht vorlegt, unterschreibt Frieda diese als Nachbarin.
Am 3. 9. 2009 reicht Ingo den Bauantrag einschließlich der Bauvorlagen beim Markt Schwangau ein. Der Gemeinderat berät in einer sehr turbulenten Sitzung am 7. 10. 2009 öffentlich über den Hotelneubau und beschließt mit sieben zu sechs Stimmen, dem „zukunftsweisenden Projekt“ das Einvernehmen zu erteilen. Dabei stimmt auch das Gemeinderatsmitglied Martin für das Vorhaben, ohne den Gemeinderat darüber zu informieren, dass er als ortsansässiger Metzgermeister mit Ingo bereits einen Vertrag über die Belieferung des Hotels mit Fleischwaren abgeschlossen hat. Der erste Bürgermeister legt den Bauantrag und die Niederschrift über die Gemeinderatssitzung dem Landratsamt Ostallgäu vor.
Am 19. 11. 2009 erteilt das Landratsamt Ostallgäu eine Baugenehmigung für das Hotel. Darin wird durch eine Auflage sichergestellt, dass bei den Nachbarn keine unzumutbaren Lärm- oder Geruchsimmissionen auftreten. Die Baugenehmigung wird Anton nicht zugestellt. Er erfährt von ihr am 20. 11. 2009 aus der Tageszeitung. Am 1. 12. 2009 beginnt Ingo mit dem Bauvorhaben. Anton hält zunächst rechtliche Schritte für wenig sinnvoll und verhandelt mit Ingo über eine Zusammenarbeit.
Nachdem diese Gespräche scheitern, unter anderem, weil Ingo meint, Anton sei an die Unterschrift von Frieda gebunden, geht Anton am 15. 3. 2010 zu seinem Rechtsanwalt. Er möchte wissen, ob er noch Chancen hat, das Bauprojekt so schnell wie möglich zu stoppen. Das Hotel passe überhaupt nicht in das Ortsbild. Ingo habe bereits das ursprünglich vorhandene Nachbargebäude abgerissen und eine Grube ausgehoben.
Vermerk für die Bearbeiter:
In einem Gutachten, das auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen eingeht, ist zu prüfen, ob ein Antrag von Anton auf verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutz Erfolg hätte. Vorschriften des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) sind nicht zu prüfen.
Lösungsskizze zur Aufgabe 5 der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2010/1
(Text s. BayVBl. 2013, 95)
Die nachfolgenden unverbindlichen Hinweise zur Lösung behandeln die nach Auffassung des Erstellers maßgeblichen Probleme der Aufgabe. Sie stellen keine „Musterlösung“ dar und schließen andere vertretbare, folgerichtig begründete Ansichten selbstverständlich nicht aus. Der Inhalt und der Umfang der Lösungshinweise, die Ausführlichkeit und die Detailgenauigkeit der Darlegungen sowie die wiedergegebene Rechtsprechung und Literatur enthalten insbesondere keinen vom Prüfungsausschuss vorgegebenen Maßstab für die Leistungsanforderung und -bewertung.
Ein Antrag von Anton (A) hat Erfolg, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und der Antrag begründet ist.
I. Sachentscheidungsvoraussetzungen
1. Verwaltungsrechtsweg
Der Rechtsweg für das Eilverfahren bestimmt sich nach dem Rechtsweg der Hauptsache. Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Im vorliegenden Fall wird eine Baugenehmigung im Sinne von Art. 68 Abs. 1 BayBO angegriffen. Insbesondere wird um deren planungsrechtliche Rechtmäßigkeit nach § 34 Abs. 1 BauGB gestritten. Da die Erteilung von Baugenehmigungen den Bauaufsichtsbehörden vorbehalten ist, ist der Streit öffentlich-rechtlich. Mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit ist er auch nicht verfassungsrechtlicher Art. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Mithin ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet.
2. Statthaftigkeit
Für die Wahl des Antrages ist nach § 88 VwGO das Begehren des Rechtsschutzsuchenden maßgeblich. A möchte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen Baustopp erreichen. Insoweit könnte ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO oder ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaft sein. Gemäß § 123 Abs. 5 VwGO hat ein Antrag nach § 80 a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO Vorrang, wenn es sich in der Hauptsache um eine Anfechtungsklage handelt.
Die Baugenehmigung ist ein Verwaltungsakt. Sie regelt die Zulassung eines konkreten Bauvorhabens mit Außenwirkung. Die Baugenehmigung ist mit ihrer Bekanntgabe gegenüber Ingo (I) wirksam geworden (Art. 43 Abs. 1 BayVwVfG). Für die rechtliche Existenz eines Verwaltungsaktes genügt es, wenn der Verwaltungsakt mindestens einem Betroffenen bekannt gegeben wird.
Die Baugenehmigung ist nach § 212 a Abs. 1 BauGB kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Nach § 212 a Abs. 1 BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Dies gilt insbesondere für Nachbarwidersprüche und Nachbarklagen. In der Hauptsache ist eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO statthaft, weil A die Aufhebung der I erteilten Baugenehmigung anstrebt. Somit ist ein Eilantrag nach § 80 a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft.
Problematisch könnte sein, dass A bislang keinen Nachbarwiderspruch bzw. keine Nachbarklage erhoben hat. Da im Freistaat Bayern das Vorverfahren in Bausachen abgeschafft worden ist, besteht nach Art. 15 Abs. 2 AGVwGO ohnedies nur die Möglichkeit der Nachbarklage. Ob der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage schon gestellt werden kann, bevor die Anfechtungsklage erhoben worden ist, ist umstritten. Argumentiert wird, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung begrifflich das Vorhandensein des Hauptsacherechtsbehelfs voraussetze. Der Wortlaut des § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO spricht allerdings eher dafür, dass der Antrag schon vor Erhebung der Anfechtungsklage gestellt werden darf. Jedenfalls kann vorliegend durch gleichzeitige Klageerhebung die Statthaftigkeit des Antrages herbeigeführt werden.
3. Antragsbefugnis
Antragsbefugt ist analog § 42 Abs. 2 VwGO, wer geltend machen kann, in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein. Dabei genügt es nach der so genannten Möglichkeitstheorie, wenn nach dem Vortrag des Beteiligten eine Verletzung seines geschützten Rechtskreises bei unterstellter Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zumindest als möglich angenommen werden kann.
Im vorliegenden Fall kann die Antragsbefugnis von A nicht mit Hilfe der Adressatentheorie hergeleitet werden. A ist nicht Adressat der Baugenehmigung. Diese begründet ihm gegenüber keine Handlungs- oder Unterlassungspflichten, so dass eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG nicht inmitten steht.
Art. 14 Abs. 1 GG führt in diesem Zusammenhang gleichfalls nicht weiter; denn das Eigentumsgrundrecht verpflichtet den Gesetzgeber, Inhalt und Schranken des Eigentums auszugestalten. Ob und inwieweit der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Grundstückseigentums einen öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch gegen Bauten auf Nachbargrundstücken einräumt, ist eine Frage der Auslegung des einfachen Rechts. Die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie begründet keinen unmittelbaren Anspruch.
Zu prüfen ist daher, ob das öffentliche Baurecht A als Nachbarn Abwehrrechte einräumt. Er muss sich im Rahmen des § 42 Abs. 2 VwGO auf drittschützende Normen berufen können. Eine Norm des öffentlichen Rechts hat nach der Schutznormtheorie nur dann drittschützenden Charakter, wenn sie nicht nur öffentlichen Interessen, sondern – zumindest auch – Individualinteressen derart zu dienen bestimmt ist, dass die Träger der Individualinteressen ihre Einhaltung verlangen können. Dies ist nur bei Rechtsnormen der Fall, aus deren Tatbestandsmerkmalen sich ein Personenkreis bestimmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet. Die Norm muss entweder einen Kreis qualifiziert Betroffener ansprechen oder zumindest in allgemeiner Form Rücksichtnahme gebieten.
Unter Zugrundelegung dieser Theorie lässt sich aus § 34 Abs. 1 BauGB Drittschutz herleiten. Das Gebot des Einfügens in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB beinhaltet eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Nachbarbebauung. Im vorliegenden Fall erscheint es jedenfalls möglich, dass das von I geplante Hotel das Gebot der Rücksichtnahme missachtet.
Ferner kann man aus § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 6 und § 15 BauNVO Drittschutz herleiten. Das Bundesverwaltungsgericht hat den im Geltungsbereich eines Bebauungsplans gelegenen Grundstückseigentümern einen Anspruch auf Erhalt der Eigenart des Baugebiets nach Maßgabe der BauNVO eingeräumt. Dieser Gebietserhaltungsanspruch besteht auch im unbeplanten Innenbereich, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der BauNVO entspricht. Auf den Gebietserhaltungsanspruch, der sich im vorliegenden Fall aus § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 6 und § 15 BauNVO ergeben kann, kann sich A grundsätzlich berufen. Es besteht auch insoweit die Möglichkeit einer Rechtsverletzung.
4. Beteiligten- und Prozessfähigk...