Aufgabe 9 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2008/1
(Arbeitszeit: 5 Stunden)
In der Kanzlei von Rechtsanwältin Dr. Caroline von Carsten, (...) München, erscheint am 18. 6. 2008 der Vorstandsvorsitzende der Clean & Dry Ground AG, Dipl.-Ing. Waldemar Wendel, übergibt die nachfolgend auszugsweise als Anlage 1 bis Anlage 4 abgedruckten Unterlagen und unterbreitet folgenden Sachverhalt:
„Ich bin allein vertretungsberechtigter Vorstandsvorsitzender der Clean & Dry Ground AG mit Sitz in München. Wir sind eines der führenden Unternehmen in Europa in Sachen Sanierung mit Altlasten verseuchter Flächen, weil wir hierfür ein patentiertes und sehr kostengünstiges Verfahren entwickelt haben. Dabei wird in der Regel wie folgt vorgegangen: Wir erwerben das mit Altlasten belastete Grundstück zu unserem Eigentum, und zwar zu einem sehr günstigen Preis. Anschließend sanieren wir das Grundstück und verkaufen es dann wieder. Da wir darauf achten, dass auf den übernommenen Grundstücken nach der Sanierung gebaut werden kann, konnten wir in der Vergangenheit ganz erhebliche Gewinne erzielen.
Im Norden Münchens betrieb das Unternehmen E.B.K. bis zum Jahr 1995 auf dem Grundstück FlNr. 233, Gemarkung Fröttmaning, eine Chemiefabrik, die sich auf die Herstellung von Autobatterien spezialisiert hatte. Infolge des damals bundesweit in die Schlagzeilen gekommenen extremen und außergewöhnlichen Unwetters über Bayern im Juni 1995 mit Hagelkörnern in Golfballgröße und verheerenden Blitzeinschlägen kam es in der Fabrik zu einem Großfeuer, durch das die Fabrikanlage zerstört worden ist. Erhebliche Mengen an Batteriesäure, d. h. verdünnte Schwefelsäure, gelangten dabei ins Erdreich. Da die E.B.K. infolge des Unglücksfalls Insolvenz anmelden musste, wurde das ehemalige Betriebsgelände, das im rechtsgültigen Bebauungsplan als Industriegebiet ausgewiesen ist, vom Freistaat Bayern übernommen, abgesperrt, aber aus Kostengründen nicht saniert.
Anfang des Jahres 2001 haben wir uns an den Freistaat Bayern gewandt, um festzustellen, ob wir bezüglich des ehemaligen Betriebsgeländes mit dem Freistaat ins Geschäft kommen können. Der Freistaat Bayern, vertreten durch das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie, zeigte Interesse. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Während der Verhandlungen zeichnete sich ab, dass mit der Sanierung und dem anschließenden Verkauf dieses Grundstücks kein Gewinn zu erzielen sein würde. Da der Freistaat Bayern uns aber eine Subvention in Form eines Zuschusses versprochen hat, die nach unserer Kalkulation zur kostendeckenden Sanierung einschließlich Verkauf genügt hätte, und unser Unternehmen bei der Sanierung von mit Altlasten verseuchten Flächen eine Vorreiterrolle hat, wurde am 2. 3. 2005 zwischen dem Freistaat Bayern und uns ein Kaufvertrag geschlossen, in dem auch diese Subvention in Form eines Zuschusses vereinbart wurde (Anlage 1). Für das Grundstück wurde nur ein geringer Preis vereinbart, weil es zum Zeitpunkt des Verkaufs praktisch keinen Wert hatte. Der Preis entspricht dem vorab gutachtlich festgestellten objektiven Verkehrswert. Der Freistaat Bayern war an dem Geschäft interessiert, weil so die umweltschützende Sanierung sichergestellt werden konnte.
In der Folgezeit sind wir an die Kommission der Europäischen Union herangetreten und haben im Hinblick auf die versprochene Subvention die Einleitung eines Beihilfeprüfverfahrens nach Art. 87, 88 EG [jetzt Art. 107, 108 AEUV] beantragt. Mit Entscheidung vom 1. 7. 2005 hat die Kommission der Europäischen Union den Vertrag vom 2. 3. 2005 im Ganzen als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt. Daraufhin haben wir am 21. 7. 2005 mit der Sanierung begonnen; der Freistaat Bayern hat am 9. 9. 2005 die Subvention gemäß Ziffer 3 des Vertrages in voller Höhe an uns gezahlt.
Anfang des Jahres 2006 stellte sich dann allerdings heraus, dass das Grundstück stärker altlastenverseucht war als erwartet. Hierdurch erhöhten sich unsere Kosten um cirka fünf Millionen Euro, womit die Gesamtkosten auf 25 Millionen Euro anwuchsen. Der Freistaat Bayern war leider nicht bereit, weitere Zuschüsse zu bewilligen. Allerdings sagte er im Wege der Ergänzung des Vertrages vom 2. 3. 2005 die kostenlose Übernahme einer selbstschuldnerischen Bürgschaft über fünf Millionen Euro zu. Hierzu wurde am 19. 1. 2006 eine Zusatzvereinbarung zum Vertrag vom 2. 3. 2005 aufgenommen (Anlage 2). Normalerweise sind für selbstschuldnerische Bürgschaften 1,99 % der Bürgschaftssumme als Gebühr an den Bürgen zu zahlen, worauf der Freistaat Bayern in dieser Vereinbarung verzichtet hat. Die selbstschuldnerische Bürgschaft wurde noch am 19. 1. 2006 ausgestellt. Die Europäische Kommission wurde bei dieser Vereinbarung über die Zusage der kostenlosen Bürgschaftsübernahme nicht beteiligt.
Die Sanierungsarbeiten wurden im Februar 2008 erfolgreich abgeschlossen. Das Grundstück konnte anschließend verkauft werden, und zwar zu einem Preis, der unter Berücksichtigung der Hilfen vom Freistaat Bayern gerade kostendeckend war. Letztlich haben der Zuschuss und die Zusage der kostenlosen Bürgschaftsübernahme nur den Schaden ausgeglichen, der durch das Unwetter entstanden war.
Mit Schreiben vom 10. 3. 2008 wurde uns vom Freistaat Bayern mitgeteilt, dass die Kommission der Europäischen Union bezüglich der Bürgschaftszusage ein Beihilfeprüfverfahren eingeleitet habe. Am 10. 4. 2008 erhielten wir vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie eine Entscheidung der Kommission der Europäischen Union vom 7. 4. 2008 (Anlage 3). Gegen diese Entscheidung haben wir am 14. 4. 2008 Klage zum Gericht erster Instanz erhoben, da wir der Meinung sind, dass die Zusage der kostenlosen Bürgschaftsübernahme schon keine Beihilfe ist, hilfsweise zumindest Art. 87 Abs. 2 EG [jetzt Art. 107 Abs. 2 AEUV] eingreift. Hierüber ist derzeit noch nicht entschieden; eine Entscheidung des Gerichts wurde für Mitte Juli 2008 angekündigt.
Nichtsdestotrotz erhielten wir am 23. 5. 2008 per Postzustellungsurkunde einen Bescheid des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie (Anlage 4), mit dem von uns die Zahlung von 99 500,00 € gefordert wurde. Das Staatsministerium hat mit Schreiben vom 3. 6. 2008 angekündigt, dass es die Forderung nunmehr vollstrecken w erde, wenn wir nicht bis spätestens 23. 6. 2008 bezahlen. Eine Bezahlung kommt für uns auf keinen Fall in Betracht. Ich bitte Sie, sofort entsprechende gerichtliche Schritte zu unternehmen, um zu verhindern, dass wir bezahlen müssen. Das Ganze muss schnell gehen, da die Vollstreckung droht. Sollten solche Schritte nicht erfolgversprechend sein, bitte ich um entsprechende Darstellung der Rechtslage.
Teilen Sie uns bitte ferner mit, wie Sie die Erfolgsaussichten unserer Klage gegen die Entscheidung der Kommission vom 7. 4. 2008 hinsichtlich der Vereinbarung vom 19. 1. 2006 zum Gericht erster Instanz einschätzen.
Angenommen die Vereinbarung vom 19. 1. 2006 wurde im Ergebnis zu Recht beanstandet: Könnten wir etwas unternehmen, damit wir das Geld nicht zahlen müssen?
Schließlich bitte ich Sie zu klären, ob unser Vertrag vom 2. 3. 2005 unwirksam sein könnte. Dieser steht mit der Vereinbarung vom 19. 1. 2006 im Zusammenhang und der Vertrag enthält keine Klausel zur Frage der Teilunwirksamkeit; besteht die Gefahr, dass wir die dort bewilligten sieben Millionen Euro zurückzahlen müssen? Sehen Sie andere Gesichtspunkte, die einer Wirksamkeit des Vertrages vom 2. 3. 2005 entgegenstehen?“
Rechtsanwältin Dr. von Carsten übernimmt das Mandat und Dipl.-Ing. Waldemar Wendel unterschreibt eine ordnungsgemäße Vollmacht, bevor er die Kanzlei verlässt.