Der Bibelraucher
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Der Bibelraucher

Die knallharte Lebensgeschichte eines Ex-Knackis

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Der Bibelraucher

Die knallharte Lebensgeschichte eines Ex-Knackis

About this book

Als Jugendlicher fĂ€hrt er einen Mann tot. Jugendarrest, Gerichtssaal, BewĂ€hrung – der gewohnte Lebensrhythmus von Wilhelm Buntz. 1983: In einer Zelle greift Buntz zur Bibel. Er liest eine Seite, reißt sie heraus, rollt sich eine Kippe. So qualmt er sich bis zum Neuen Testament. Da packt ihn der Text. Gott sagt: "Ich bin treu wie ein liebender Vater." Ist das möglich? Noch im Knast gibt Buntz diesem Gott eine Chance und merkt schnell: Das Leben mit Gott ist auch knallhart. Knallhart voller Wunder.

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Information

1. TEUFEL

Bruchsal, 1984

Die Klappe krachte herunter – Holz auf Holz. Es war geschehen. Unumkehrbar. Der Brief, den ich soeben eingeworfen hatte, fiel im Inneren des Briefkastens eine gefĂŒhlte Ewigkeit. Und als er dann mit einem dumpfen GerĂ€usch auf dem Boden aufschlug, nunmehr ohne jede Chance fĂŒr mich, ihn auf seiner Reise noch aufzuhalten, da war ich sicher: Ich hatte den grĂ¶ĂŸten Fehler meines Lebens gemacht.
Denn der Briefkasten stand – genau wie ich – mitten in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal, hinter hohen Mauern und schwer bewachten Toren. Sobald der Kasten geleert wĂŒrde, wĂ€re mein Brief auf dem Weg zum Staatsanwalt. Ich war nach vierzehn Jahren Knast meinem Entlassungstermin zum Greifen nah – und doch hatte ich gerade dem Staatsanwalt in sĂ€uberlicher Handschrift dargelegt, warum ich eigentlich noch zwanzig Jahre lĂ€nger sitzen mĂŒsste: »Sie können sich sicherlich an mich erinnern«, hatte ich begonnen und war mir sicher: Das tat er. 148 Straftaten hatte ich begangen. Ein Marathonprozess. Von hundert war ich am Ende aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. »Doch ich muss bekennen: Auch bei diesen hundert bin ich schuldig im Sinne der Anklage«, hatte ich geschrieben. Die Worte hallten in meinem Kopf nach. Ich fĂŒhlte mich so elend.
Aber ich hatte es tun mĂŒssen. Mein neues Leben hatte es von mir verlangt. Zum ersten Mal in meiner bis dahin erbĂ€rmlichen Existenz wollte ich wirklich ehrlich sein. Das durchzuziehen, war fĂŒr mich genauso schrecklich wie es mir guttat. Das sollte ich jedoch erst sechs Wochen spĂ€ter spĂŒren. Die Tage bis dahin waren eine Achterbahnfahrt zwischen Entschlossenheit und Verzweiflung.
Mein Name ist Wilhelm Buntz. Willkommen in meinem Leben!
Ich habe viel Böses getan, manches Dumme, eine Menge Waghalsiges und in meinen spÀteren Jahren vielleicht auch einiges Gutes. Vor allem aber hat jemand anderes etwas in meinem Leben getan: Gott.
Wer mich heute trifft, der erkennt höchstens noch an meinen Tattoos, dass ich nicht immer der nette Nachbar von nebenan war: 148 sind es, fĂŒr jede Straftat eines. Doch dieser Wandel ist kaum meine eigene Leistung. Es war die Liebe Gottes, die mich so radikal verĂ€nderte: vom zweifachen Mörder mit ĂŒbelster Kindheit und waschechter Ganovenkarriere hin zu einem, der keiner Fliege etwas zuleide tut.
Der Brief an den Staatsanwalt war eine erste waghalsige Folge dieses Wandels. Denn kurz davor noch hatte ich die Bibel – die Worte dieses Gottes – in der Arrestzelle Seite fĂŒr Seite zu Zigarettenpapier verarbeitet. In die Arrestzelle kommt man, wenn man als Insasse gegen die GefĂ€ngnisregeln verstĂ¶ĂŸt, zum Beispiel sich mit anderen Gefangenen prĂŒgelt, beim Dealen erwischt wird oder einen WĂ€rter mit Essen bewirft. All das und viel mehr hatte ich immer wieder getan.
In so einer Arrestzelle gibt es ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, ein Klo – und unendliche Einsamkeit. Es gibt keinen Hofgang, keinen Kontakt mit anderen Gefangenen, keine Arbeit, nichts, was Abwechslung bringen könnte. GĂ€hnende Langeweile. Der einzige Gegenstand, den man mitnehmen darf, ist eine Bibel. Wie gut, dass Bibelseiten so dĂŒnn sind. Sie eignen sich hervorragend dafĂŒr, Zigarettenpapier daraus zu drehen, um den in den Socken eingeschmuggelten Tabak zu genießen.
Ich war oft in der Arrestzelle – sehr oft. Und entsprechend viel Zeit verbrachte ich mit dem Wort Gottes – wenn auch auf etwas unkonventionelle Art und Weise. Und als sich dann mein Leben verĂ€ndert hatte – wie, dazu kommen wir noch –, wollte ich den Worten dieses Gottes so genau gehorchen, dass ich meine Schuld, fĂŒr die es keine Beweise gab, dem Staatsanwalt beichtete. Ich hatte den Brief abschicken mĂŒssen. Und trotzdem fĂŒhlte ich mich wie der dĂŒmmste HĂ€ftling aller Zeiten.
Um wirklich zu verstehen, wie ich in diese Situation in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal vor diesem Briefkasten kam, muss ich ein wenig ausholen. Am besten gehen wir ganz an den Anfang. Denn mein Leben hatte von Beginn an keine guten Vorzeichen.

Ulm, 1954

Als meine Mutter erfuhr, dass sie schwanger war, sagte sie in breitestem SchwĂ€bisch zu meinem Vater: »Des Kend will i net.« Sie hatte bereits zwei MĂ€dchen zur Welt gebracht und entschied, sich nach meiner Geburt einfach nicht um mich zu kĂŒmmern: kein FĂŒttern, kein Wickeln, kein Trösten. Und das machte sie wahr: Ab dem Moment, als wir vom Betesda-Krankenhaus in Ulm zurĂŒck in unsere kleine Dreizimmerwohnung in Wieblingen kamen, legte mich meine Mutter ins Kinderbett und wĂŒrdigte mich fortan kaum noch eines Blickes.
Mein Vater musste 14 Stunden am Tag bei Magirus-Deutz arbeiten. Er fuhr frĂŒhmorgens die zehn Kilometer mit dem Fahrrad hin und spĂ€tabends wieder zurĂŒck, schlief sofort ein und hetzte am nĂ€chsten Morgen sofort wieder auf die Arbeit. So bekam er nicht wirklich mit, wie es mir erging. Ich lag die meiste Zeit des Tages einsam in meinem Bettchen im kleinen Kinderzimmer, das ich mir mit meinen beiden Schwestern teilte. Da ich fĂŒr meine Mutter nicht existierte, kĂŒmmerte sich meine Ă€lteste Schwester Sabine um mich – mehr schlecht als recht natĂŒrlich, wie VierjĂ€hrige das eben können. Sie guckte sich ab, was meine Mutter mit der einjĂ€hrigen Claudia machte, und tat es ihr an mir gleich. Ich war fĂŒr sie sicher eine tolle Puppe, mit der sie Mama spielen durfte. Nur dass ich lebendig war und eigentlich andere BedĂŒrfnisse hatte. Meine Mutter stillte mich nicht, also fĂŒtterte mich Sabine mit irgendetwas, was Babys wohl besser nicht bekommen sollten. Sie cremte mich mit irgendetwas ein, was Babyhaut nicht guttut. Und weil sie zwar sah, wie meine Mutter die kleine Claudia wickelte, aber von ihr keine Windeln fĂŒr mich bekam, wickelte sie mich in Zeitungspapier. Ich schrie wie am Spieß – fast durchgehend.
Nach wenigen Wochen hielt meine Mutter das Geschrei nicht mehr aus, schnappte mich und ging zu einem Feld in der NĂ€he. Dort legte sie mich kurzerhand am Wegrand ab, ließ mich schreien und ging weiter. Ich weiß heute nicht mehr, wie kalt oder warm es war, ob ich etwas anhatte oder nackt war. Das lĂ€sst sich auch nicht mehr recherchieren. Meine damals vierjĂ€hrige Schwester kann sich natĂŒrlich nicht mehr daran erinnern, und auch mein Vater wusste es nicht mehr genau, als ich viele, viele Jahre spĂ€ter mit ihm darĂŒber sprach.
Aber wie auch immer: Da lag ich nun am Feldrand und brĂŒllte mir die Seele aus dem Leib. Frau Hornung, unsere Nachbarin, war mit ihren Kindern und dem Hund spazieren, als sie Babyschreie hörte und mich armes BĂŒndel fand. Wie lange ich dort lag, weiß keiner, vielleicht waren es ein paar Minuten, vielleicht auch mehrere Stunden. Frau Hornung wusste natĂŒrlich sofort, wer ich war, nahm mich mit zu sich nach Hause und rief die Polizei. Die brachte mich ins Betesda-Krankenhaus.
Die Schwestern dort mĂŒssen einen ziemlichen Schreck bekommen haben. Ich war völlig unterernĂ€hrt, mein Bauch total aufgeblĂ€ht. Sicherlich von der falschen ErnĂ€hrung durch meine Schwester, die ja ĂŒberhaupt nichts dafĂŒr konnte und mir nur etwas Gutes tun wollte. Mein ganzer Körper war mit Ausschlag ĂŒbersĂ€t – vermutlich von irgendwelchen Salben, mit denen meine Schwester mich eingerieben hatte, vielleicht hatte sie mich auch fleißig mit Mehl eingepudert. Ich war so krank, dass ich mehr als ein halbes Jahr in der Klinik behandelt werden musste.
Als mein Vater auf der Arbeit einen Anruf vom Krankenhaus bekam, mich so sah und hörte, was passiert war, fuhr er wutentbrannt nach Hause und warf meine Mutter aus der Wohnung. Kurze Zeit spĂ€ter reichte er die Scheidung ein. Mein Vater war ein ziemlich harter Kerl und sehr gewalttĂ€tig. WĂ€re sie noch einmal ins Haus zurĂŒckgekehrt, hĂ€tte mein Vater sie vermutlich umgebracht.
Die Zeit im Krankenhaus war fĂŒr mich Ă€ußerlich gesehen eine Wohltat. Ich wurde körperlich aufgepĂ€ppelt, richtig ernĂ€hrt und gepflegt. Man kĂŒmmerte sich um meine körperlichen BedĂŒrfnisse, aber das, was ein kleines Baby ebenfalls so dringend braucht, nĂ€mlich NĂ€he, Liebe und ZĂ€rtlichkeit, bekam ich kaum. Die Schwestern und Ärzte guckten zwar regelmĂ€ĂŸig nach mir, aber wie das eben damals so war: sauber und satt genĂŒgte. FĂŒr mehr hatte niemand die KapazitĂ€t. Mein Vater konnte mich nur ab und zu besuchen – schließlich hatte er neben der anstrengenden Arbeit jetzt auch noch zwei Kinder zu Hause zu versorgen. TagsĂŒber passte eine Helferin vom Jugendamt auf meine Schwestern auf, doch nachts war er zustĂ€ndig.
Eines Tages wurde mein Vater vom Krankenhaus angerufen, er solle bitte vorbeikommen, er mĂŒsse sich etwas ansehen. Mein Vater trat in das Zimmer, in dem mein Bettchen stand, und erschrak zutiefst. Ich lag auf der Matratze, starrte nach oben, und ĂŒber das Gesicht lief mir Blut. Im ersten Moment dachte mein Vater, Mutter sei hier gewesen und hĂ€tte mich wieder misshandelt. Aber dann hieß ihn die Schwester abwarten und beobachten. Nach einiger Zeit drehte ich mich, klammerte mich mit meinen kleinen PatschhĂ€ndchen an das Gitter und fing an, meinen Kopf an das Holz zu schlagen – immer wieder. Die eigentlich weißen Gitter waren an dieser Stelle blutverschmiert. Ich wollte wohl etwas spĂŒren – irgendetwas, wenn mich schon niemand in den Arm nahm und liebkoste. Heute wĂŒrde man mein Verhalten wohl unter Hospitalismus verbuchen und jeder könnte das bei meinen UmstĂ€nden nachvollziehen (und wĂŒrde mir entsprechend helfen).
Damals jedoch fragten die Ärzte meinen Vater nur: »Haben Sie noch weitere Kinder, Herr Buntz? Denn es wĂ€re besser, sie hĂ€tten keine weiteren. Mit diesem Kind sind Sie ausgelastet – es wird Sie Ihr ganzes Leben lang auf Trab halten. Es ist geistig behindert, es wird nie lachen können und Sie werden Ihr ganzes Leben lang Probleme mit ihm haben.« Mit Letzterem sollten sie (fast) recht behalten, mit den anderen Diagnosen Gott sei Dank nicht.
Viele Jahrzehnte spĂ€ter, nachdem wir uns versöhnt hatten und ĂŒber einige Dinge der Vergangenheit halbwegs offen reden konnten, sagte mir mein Vater einmal: Helme, wenn ich gewusst hĂ€tte, was mit dir alles passieren wĂŒrde und welchen Weg du einschlagen wĂŒrdest, ich glaube, ich hĂ€tte dir damals den Hals umgedreht. Aus einem merkwĂŒrdigen Grund bin ich meinem Vater nicht böse fĂŒr diesen Satz – ich kann ihn sogar verstehen. Vor allem war er ehrlich, und dass er das irgendwann mir gegenĂŒber sein konnte, bewegt mich bis heute.

Bruchsal, 1984

Da stand ich nun vor diesem Briefkasten in der Justizvollzugsanstalt und starrte ihn verzweifelt an. Es war kein offizieller Briefkasten der Post aus gelb lackiertem Metall mit schwarzem Posthorn auf der Seite und einem Schild mit den Leerungszeiten. Nein, es war ein einfacher Holzkasten mit einem großen Deckel. Hob man den Deckel an, so kam ein schmaler Schlitz zum Vorschein, gerade groß genug fĂŒr die dĂŒnnen braunen oder weißen UmschlĂ€ge, die man sich im GefĂ€ngnisladen kaufen konnte. Jeder der vier GefĂ€ngnisflĂŒgel von Bruchsal hatte einen solchen Briefkasten am Ende des langen Hauptgangs im Erdgeschoss. Seine Briefe durfte man nur offen in den Kasten werfen. Einmal am Tag, morgens um acht, wurde der Briefkasten geleert und alles grĂŒndlich von Beamten untersucht: Geburtstagskarten, Nachrichten an Freunde, Liebesbriefe. Erst danach wurde es an die echte Post draußen ĂŒbergeben. Nur Behörden- und Anwaltspost blieb ungelesen.
Es war kurz vor acht, als ich an diesem denkwĂŒrdigen Tag meinen verhĂ€ngnisvollen Brief in den Kasten geworfen hatte und nun verzweifelt davorstand – schließlich hatte ich quasi mein Leben besiegelt. In wenigen Minuten wĂŒrde der Kasten geleert werden. Meine Gedanken rasten: Wie konnte ich das Geschehene ungeschehen machen? Die Beamten abpassen und sie um die Herausgabe bitten? Zu peinlich. Und vermutlich wĂŒrden sie es auch nicht tun. WĂŒrde ich es schaffen, den Brief mit einem KleiderbĂŒgel wieder herauszuangeln? Einen Versuch war es wert. Ich sah mich um, dann machte ich kehrt und ging zĂŒgig den langen Flur des ersten Bruchsaler FlĂŒgels entlang bis ganz ans andere Ende. Ich zog meine ZellentĂŒr auf und trat ein: Zehn Quadratmeter, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Klo hinter einer spanischen Wand, ein kleines Waschbecken mit einem Spiegel, der seinen Namen nicht verdiente – es war nur ein poliertes Blech. Glas wĂ€re zu gefĂ€hrlich gewesen.
Aber die karge Einzelzelle war mein persönliches Reich – hier konnte ich mich zurĂŒckziehen und war allein. Ein seltsames Privileg von Menschen, die wegen Verbrechen einsaßen: Mord, Totschlag, Raub. Ganz im Gegensatz zu den HĂ€ftlingen im anderen FlĂŒgel, die »nur« wegen sogenannter Vergehen hier waren, also wegen Betrug, Diebstahl oder Vergewaltigung. Viele dieser »Leichtmatrosen« mussten sich eine Zelle mit einem anderen teilen. Die meisten von uns empfanden das als viel schlimmer als Einzelhaft: Man hatte keine Ruhe, keine PrivatsphĂ€re, war nicht einmal auf dem Klo alleine. Und denjenigen, mit dem man sich das Leben Tag und Nacht teilen musste, konnte man im Normalfall nicht einmal gut leiden. Die Einzelzelle war dagegen wahrer Luxus. Ich war froh ĂŒber sie.
Ich ging zu dem schmalen, hohen Schrank, in dem ich meine WĂ€sche, den Kaffee, Tabak und andere kleine Habseligkeiten aufbewahrte, zog die TĂŒren auf, nahm einen KleiderbĂŒgel von der Stange, drehte mich um und verließ die Zelle. TagsĂŒber waren die Zellen meistens offen, und man konnte sich innerhalb des FlĂŒgels halbwegs frei bewegen – natĂŒrlich immer unter den strengen Augen der Wachleute.
Ich trat wieder den Weg zurĂŒck in Richtung des Postkastens am anderen Ende des FlĂŒgels an, den KleiderbĂŒgel fest umklammert. Ich war fĂŒrchterlich aufgeregt, aber zwang mich, nur so schnell zu gehen, wie ich es, ohne Verdacht zu erregen, tun konnte. Es wĂ€re mir furchtbar peinlich gewesen, wenn meine Mitinsassen diese Geschichte mitbekommen hĂ€tten! Ich, der coole Willi Buntz, der zwei Menschen getötet hatte, angelte seinen eigenen Brief aus dem Briefkasten. Wie hĂ€tte ich mir diese BlĂ¶ĂŸe geben können? Trotzdem war ich fest entschlossen, meinen Fehler zu korrigieren.

Ulm, 1955

Als die Ärzte mich fĂŒr fit genug hielten, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, gab mich mein Vater zunĂ€chst fĂŒr ein halbes Jahr zu Pastor Theurer und seiner Frau. Theurer war Pastor der Zionskirche, damals eine methodistische Freikirche in Ulm. Die Theurers sorgten fĂŒr mich, nahmen mich in den Arm und boten mir zum ersten Mal die emotionale NĂ€he, die ich so dringend brauchte.
Bei ihnen lernte ich, meine ersten kleinen Schritte zu laufen und meine ersten Worte zu sprechen. Vermutlich war ich ein putziger Anblick, wenn ich an der Hand meiner Pflegemutter in meinem kleinen LodenmĂ€ntelchen durch die Ulmer Innenstadt stapfte. Es muss eine glĂŒckliche Zeit gewesen sein – aber auch wenn Krankenhaus und Pflegeeltern die Ă€ußeren Verletzungen heilen und die inneren lindern konnten –, die ersten Monate meines Lebens hatten tiefe Narben hinterlassen, die mein Leben lange Zeit bestimmen sollten.
Mein Vater besuchte mich meistens an den Wochenenden, wenn er sowieso in den Gottesdienst kam. Er war aufgrund der Situation zwar verzweifelt, aber als Mann der Tat und Ex-Soldat war er es gewohnt, die Dinge in die Hand zu nehmen. Er hatte seine Frau aus dem Haus geworfen und die Scheidung eingereicht. Auch wenn er selbst ein knallharter Typ war – und ich sollte das noch leidvoll zu spĂŒren kriegen –, so war es doch fĂŒr ihn inakzeptabel, einfach das eigene Kind auszusetzen. FĂŒr die drei Kinder alleine verantwortlich zu sein, ging aber auch nicht. Weder war es praktisch möglich – er musste 14 Stunden am Tag arbeiten – noch kam es zu der Zeit gesellschaftlich infrage. Und so nahm er kurzerhand Kontakt zu seiner frĂŒheren Verlobten auf, Else ZĂŒffle, ein BauernmĂ€dchen von einem Dorf in der NĂ€he von Calw.
Else stammte aus der Evangelischen Gemeinschaft, einem strengglĂ€ubigen Zweig der methodistischen Freikirche. Daher war sie nicht bereit gewesen, einen Mann zu heiraten, der kein Christ war, und mein Vater wollte sich partout nicht bekehren. So trennte sie sich 1944 schweren Herzens von ihm und ließ sich als Diakonisse in der Bad Liebenzeller Mission aufnehmen, so richtig mit HĂ€ubchen und GelĂŒbde.
Kurze Zeit spÀter wurde mein Vater zum Kriegsdienst eingezogen, wurde aber verletzt und landete im Lazarett. Eine der dortigen Pflegehelferinnen war meine Mutter, und wie das so ist, heirateten die beiden 1950. Ein Jahr spÀter erblickte Sabine das Licht der Welt.
Doch mein Vater vergaß Else nie – und Else ihn offensichtlich auch nicht. Nachdem er sich von meiner Mutter getrennt hatte, schrieb er einen Brief an das Diakonissenmutterhaus und schilderte seine Lage. Else sah das Elend, und ihr war klar, dass sie helfen musste – und wollte. FĂŒr sie kam es jedoch nicht infrage, sich in die »gefĂ€hrliche« Lage zu begeben, sich im Diakonissenstand um die Kinder ihres Ex-Verlobten zu kĂŒmmern. Es wĂ€re einfach ungehörig gewesen – und die Diakonissen-Haube schĂŒtzt vielleicht vor vielem, aber nur bedingt vor den eigenen GefĂŒhlen oder denen eines Mannes. Die Kinder aus dem elterlichen Haus zu nehmen, war ebenso undenkbar. So traf sie eine weitreichende Entscheidung: Sie gab den Diakonissenstand auf und heiratete ihren Ex-Verlobten.
Else stĂŒrzte sich in das, was sie als ihre neue Lebensaufgabe ansah und was sich bald als ihr schlimmster Albtraum entpuppen sollte. Sie wollte uns dreien eine gute Mutter sein. Sie kĂŒmmerte sich jahrelang aufopferungsvoll um uns. Doch fĂŒr eine lange Zeit war ihr unsere Gunst nicht vergönnt. Wir waren alle drei traumatisiert – nicht nur ich, sondern auch meine beiden Schwestern, jeweils auf ihre eigene Art und Weise: Sabine hatte ihre Mutter verloren, aber in ihr auch gleichzeitig eine negative Mutterrolle mitbekommen. Und Claudia sah in Else jemanden, der ihr ihre Mutter weggenommen hatte. Wir alle drei konnten unserem Vater eine neue Frau im Haus nie so recht verzeihen. Stattdessen projizierten wir all unseren Hass und unsere EnttĂ€uschung der Mutter gegenĂŒber auf Else. Sie konnte sich jede MĂŒhe geben und uns die liebevollste Stiefmutter sein – wir ließen sie dennoch stets spĂŒren, wie sehr wir sie ablehnten. Meine Ă€lteste Schwester sprach jahrelang kaum ein Wort mit ihr. Claudia behandelte sie leidlich gut und ich schien sie sogar die ersten 18 Monate ein wenig ins Herz geschlossen zu haben. Endlich war jemand da, der sich um mich kĂŒmmerte, mich aufrichtig liebte (wenn ich denn verstehen konnte, was das war) und der nur Gutes fĂŒr mich wollte. Kurze Zeit sah alles so aus, als ob es mit mir eine gute Wende nehmen könnte.
Doch dann wurde Else 1957 schwanger. Ein neues Geschwisterchen ist fĂŒr die anderen Kinder der Familie immer zugleich Faszination wie auch Quell der Eifersucht. FĂŒr mich als schwer traumatisiertes Kind, das gerade anfing, wieder zartes Vertrauen zu einem Menschen und zur Welt um mich herum zu fassen, war meine erste Halbschwester wie eine KriegserklĂ€rung. Die kleine Petra nahm plötzlich die ganze Aufmerksamkeit von Else in Beschlag. Der kleine Helme, so wurde ich genannt, stand nicht mehr im Mittelpunkt und musste oft genug zurĂŒckstecken. Das schmeckte mir gar nicht. Meine neue Welt drohte in sich zusammenzustĂŒrzen, n...

Table of contents

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Über den Autor
  6. Zitate
  7. 1. TEUFEL
  8. 2. FLUCHT
  9. 3. CHANCE
  10. 4. SCHULD
  11. 5. ERLÖSUNG
  12. 6. VERSÖHNUNG
  13. 7. VERSUCHUNG
  14. 8. VERTRAUEN
  15. 9. VATER
  16. Epilog
  17. Anmerkungen
  18. Leseempfehlungen