Holzschnitt v. Hans Burgkmair
Musikalische Migration in Renaissance und Barock
»Oltremontani« und »Italianità«: Wie zwei Wanderbewegungen die abendländische Musikgeschichte prägten. Reinhard Strohm
Musikgeschichtliche Darstellungen verstehen geografischen Raum meist als Distanz oder als Differenz, welche die Einheit oder Identität behindern. Solche Differenzen können durch »Einfluss«, zum Beispiel zwischen Komponisten, oder durch »Migration« zwischen Nationen überwunden werden. Die zeitliche Dimension von Musik baut auf einem ähnlichen Prinzip auf: Je weiter etwas zeitlich entfernt ist, desto mehr Unterschiede müssen überbrückt werden. Dies geschieht meist durch »Rezeption« oder alternativ durch »Tradition«. Aber was implizieren all diese Begriffe? Wie nützlich sind sie wirklich? Die Termini »Migration« und »Reise« brauchen eine eigene Definition, wenn sie auf Musikgeschichte bezogen werden. Denn wer wandert eigentlich: Menschen, Produkte oder Klang?
Die Wanderung der Oltremontani
Das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert wurden Zeuge eines der größten kulturellen Transferprozesse unserer Geschichte: der Renaissance. Von den eigenen Akteuren als »Wiedergeburt« betitelt, war es eigentlich mehr eine Übernahme oder ein »download« aus fremden Kulturen, und dabei wurde weniger aus weit entfernten Orten als vielmehr aus der vergangenen Zeit geschöpft.1 Führende Institutionen und Gelehrte behaupteten ihre weltliche Autorität, indem sie sich in großem Stil an den Überresten der vergangenen Kultur bedienten: ihre Bücher kopierten, ihre Statuen wegtrugen, ihre Sprache lernten, ihre Architektur ausgruben und ihre Gedanken neu dachten. Der Versuch, ihre Musik wieder aufzuführen, scheiterte allerdings.
Während Gilles Binchois (rechts) vor allem in Burgund tätig war, verschlug es Guillaume Dufay bis nach Rom und Florenz. Bild: Aus Martin le Franc, Champion des Dames, ca. 1440, Bibliothèque nationale de France Ms Fr 12476
Unter den vielen Künsten und Wissenschaften, die das mittelalterliche Europa entwickelte hatte, ehe es sich bevorzugt der klassischen Antike zuwandte, war die Musik wohl die meist geschätzte und interaktivste Praxis; ihre großen Wanderungen setzten bereits vor dem Beginn der italienischen Renaissance ein. Die erste und größte dieser Migrationen war die frühmittelalterliche Verbreitung des Gregorianischen Chorals, die zweite die sogenannte franko-flämische Schule oder niederländische Vokalpolyphonie, die gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts begann. Als Grund für die Migration der musikaffinen Niederländer und Nordfranzosen hat der Musikwissenschaftler Andrew Tomasello die Politik der konkurrierenden Pontifikate während des Abendländischen Schismas (1367–1415) identifiziert:2 Musiker, besonders aus den nördlichen Diözesen und speziell den Niederlanden, scharten sich in Avignon und Rom, wo die konkurrierenden Päpste ihre Rechte über die kirchlichen Ämter konzentrierten, um ihre beschädigten Autoritäten zu stärken. Die Inhaber dieser Ämter waren häufig ausgebildete Musiker.
Musiker aus dem Norden kamen jedoch auch unabhängig vom kirchlichen Netzwerk nach Italien, darunter flämische und deutsche Instrumentalisten, die sich in Florenz zur Bruderschaft von St. Barbara, auch »dei Fiamminghi«3 genannt, zusammenschlossen, oder die deutschen, tschechischen und polnischen Musiker, die nach Italien gingen, um die Universität zu besuchen.4
Die Diaspora der italienischen Musik
Die Migration der niederländischen Musiker in der Renaissance und die Verbreitung der italienischen Musik und Musiker vom 16. bis zum 18. Jahrhundert können zwar miteinander verglichen werden, doch sind die beiden Prozesse nicht im direkten Sinne von Aktion und Reaktion miteinander verbunden: Während die Oltremontani überwiegend in eine Richtung zogen (nämlich nach Süden), verbreitete sich die Diaspora der Italiener sternförmig auf nahezu alle europäischen Länder, darunter Spanien, England, Russland und Schweden. Des Weiteren war die Diaspora der Italiener an ihre Sprache gebunden. Sie transportierte nicht nur Musik, sondern fast alle Formen der Kunst, viele Wissenschaften, Literatur, Handwerk, Politik und natürlich Religion. Auf diese Weise gab Italien dem Rest Europas die Künste und Fähigkeiten zurück, die es zuvor aus der Antike geborgt hatte, plus Musik.
»Für den Export ›produziert‹«: Der Kastrat Farinelli sang unter anderem in Madrid, London, Paris und Wien. Bild: Gemälde von Jacopo Amigoni, Staatsgalerie Stuttgart/wikimedia.org
Innerhalb der italienischen Diaspora sind zwei große Spannungen oder Widersprüche zu beobachten. Erstens wurde – lange nach der Einführung von Notenschrift und Notendruck – die persönliche Überlieferung von Musik wieder wichtiger, denn die italienische Musik des 17. Jh. wurde von Musikern in die Welt hinaus getragen. Kurz zuvor war diese noch eher über Drucke, speziell Madrigale mit italienischem Text, verbreitet worden. Mäzene wie Georg Knoff aus Danzig konnten im frühen 17. Jahrhundert große Sammlungen solcher Musik anlegen, ohne Italien jemals besucht zu haben.5 Italienische Musiker wurden aber selten geholt, um Madrigale aufzuführen. Anders war es mit dem Interesse europäischer Höfe an Opern und Oratorien: Für diese importierte man Librettisten, Architekten, Bühnenbildner, Instrumentalisten, Komponisten und vor allem Sänger.
Zweitens existierte offenbar eine größere Sehnsucht nach Assimilation, Absorption oder »Anverwandlung« der transalpinen Kultur als in früheren Zeiten: eine Sehnsucht vergleichbar der humanistischen Faszination von der antiken Kultur. Es ergab sich eine Essentialisierung italienischen Denkens und Fühlens (als »Italianità«), die ästhetischer und psychologischer Natur war. Andererseits wurden dynastischer Stolz und die Konkurrenz zwischen den Herrscherhäusern maßgebend, und mit Importen aus dynastischen Gründen kamen praktisch-politische und ökonomische Motivationen ins Spiel. So darf die »Heranholung« italienischer Künstler und ihrer Arbeit als eine Art höfische Monopolbildung gedeutet werden. Man verfolgte sie in der Musik unter anderem durch die Weitergabe von geheimen Techniken der Gesangslehrer, durch Nepotismus und Familien-Seilschaften, und sogar durch (mehrfach belegte) gewaltsame Entführungen und Gefangennahmen italienischer Opernkünstler durch deutsche Fürsten. Letztlich war solche Transferpolitik wieder ganz irrational. Denn viele begabte Sänger nördlich der Alpen lernten den Operngesang genauso gut wie die Italiener. Aber vielleicht war ihre Aussprache nicht so, wie die der echten Italiener, sie sahen nicht so aus wie diese, bewegten sich nicht so wie diese, benahmen sich bei Tisch nicht so wie diese oder hatten nicht dieselben Namen. Wie vertrauenswürdig ist wohl eine Sängerin, die italienische Arien singt und » Döbricht«, »Schwartzmann« oder »van Oploo« heißt?6 Ein weiteres Monopol bildeten die Kastraten, die in den südlichen Regionen der Halbinsel vor allem für den Export »produziert« und ausgebildet wurden. War die »Italianità« ein soziales oder ein ästhetisches Konzept? Und waren Kastratenarien in Zentral- und Nordeuropa beliebt, weil sie von Kastraten gesungen wurden, oder war es genau umgekehrt? Die Beliebtheit der Kastraten überlebte jedenfalls das Ende des »ancien régime«, möglicherweise nicht aufgrund von sozialen Aspekten, sondern von ästhetischen, musikalischen Vorlieben.
Transportmöglichkeiten
Wie zuvor angedeutet, gab es einen möglichen Widerspruch zwischen dem erstarkten menschlich-persönlichen Element der musikalischen Diaspora und der Art und Weise, wie Musik wirklich wanderte. Schon seit der Zeit um 1500 wurde Musik auch per Brief und Paket verschickt. Mit der zunehmenden Bedeutung der Notation und des Notendruckes mussten im 17. Und 18. Jahrhundert auch reisende italienische Musiker ihr Publikum im Norden mit Noten versorgen. Und als ob sie sich geradezu überflüssig machen wollten, lehrten sie ihr Publikum die Sprache, den Gesang und auch die Komposition der italienischen Musik. Die reisenden Operngesellschaften von Mingotti und Locatelli verkauften Kopien der Arien an die Zuschauer;7 in London wurde nahezu jede neue Arie, die man im Opernhaus gehört hatte, veröffentlicht. Breitkopf in Leipzig entwickelte nicht nur den Operndruck, sondern erschloss auch den Markt des Klavierauszuges. Diese Waren wurden schnell unabhängig von den reisenden Musikern und bildeten eine eigene Diaspora italianisierter Musik, die sich an die bürgerlichen Opernliebhaber in den Städten Europas richtete.
In vergangenen Jahrhunderten war »Pendeln« zwar weit weniger bequem, aber doch möglich: Wiener Zeiselwagen (um 1830). Bild: Kupferstich von Eduard Gurk nach Johann Nepomuk Hoechle/wikimedia.org
Die verschiedenen Möglichkeiten der Verbreitung der italienischen Oper durch Komponisten waren unter anderen folgende: Die Künstler konnten Noten einer kompletten Oper mit auf den Weg nehmen, diese im Ausland aufführen und nach dem Ende einer Spielzeit wieder heimkehren. Kann dies schon als Migration bezeichnet werden, oder war es nur ein Besuch? In einer anderen Variante pendelten Komponisten zwischen ihren Heimatländern und entfernten Arbeitgebern hin und her – wie zum Beispiel Hasse, Galuppi, Jommelli, Sarti und viele andere.
Fast das umgekehrte Phänomen waren deutschsprachige Komponisten wie Händel, Gluck oder Mozart, die nicht wirklich an der Diaspora teilnahmen: Zwar verbrachten sie prägende Jahre in Italien, entwickelten ihre italianisierte Musik aber nördlich der Alpen. Und natürlich gab es auch bedeutende italienische Opernkomponisten, die in ihrem Land blieben und trotzdem viele Bewunderer in nördlichen Zentren hatten, wie Alessandro Scarlatti, Leonardo Vinci und Giambattista Pergolesi. Hier zeigt sich auf verschiedene Weise, dass das Wandern der Musik, selbst wenn es bisweilen Musiker als Vehikel benützte, letztlich ein Vorgang war, der sich in den Köpfen abspielte. //
Reinhard Strohm lehrte an der Yale University und am Londoner King’s College, 1996 bis 2007 war er Professor an der University of Oxford.
Der Beitrag basiert auf der Bearbeitung seines Artikels aus dem bislang nur online verfügbaren Buch Music Migrations in the Early Modern Age, hg. v. Jolanta Guzy Pasiak und Aneta Markuszewska. Übersetzung von Julia Jaklin.
Anmerkungen
1 Reinhard Strohm, »›Medieval Music‹ or ›Early European Music‹?« in: The Cambridge History of Medieval Music, hg. v. Mark Everist, Cambridge 2016 (in Vorb.).
2 Andrew Tomasello, Music and Ritual at Papal Avignon 1309–1403, Ann Arbor 1983.
3 Reinhard Strohm, The Rise of European Music, 1380–1500, Cambridge 1993, S. 567.
4 Mirosłav Perz, »Il carattere internazionale delle opere di Mikołaj Radomski«, in: 1380–1430: An international style?, hg. v. Ursula Günther (= Musica Disciplina 41), S. 153–159.
5 Martin Morell, »Georg Knoff: Bibliophile and devotee of Italian music in late sixteenth-century Danzig«, in: Music in the German Renaissance: sources, styles and contexts, hg. v. John Kmetz, Cambridge 1994, S. 103–126.
6 Reinhard...