Auf dem Laufband
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Auf dem Laufband

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Auf dem Laufband

About this book

Er möchte perfekt sein. Mehr als perfekt. Um sich das zu beweisen, spricht er auf der Heimfahrt von der Arbeit wĂ€hrend Monaten in sein Diktaphon, erklĂ€rt sich seinen Alltag, sich selbst. Es ist etwas vorgefallen, was eine gefĂ€hrliche Wunde in sein Selbstbewusstsein geschlagen hat. Jemand hat ihn im Supermarkt als "armes Schwein" bezeichnet, und zwar in einem Tonfall, der "die BrutalitĂ€t einer unumstösslichen Tatsache hatte", wie er feststellen muss. Da ist nun also Selbstverteidigung angesagt, und der gibt er sich hin. Der Mann ist Bibliothekar. In leitender Stellung. Er kann auch auf sein Bildungsgut zurĂŒckgreifen, zur Verteidigung, und das tut er gern. Doch ach, in einem gewissen Sinn wird dieses ganze Unternehmen zum Gegenteil dessen, was der Sprecher bezweckt. Die Rechtfertigung wird zur Blossstellung. Hinter den Tugenden, die er sich zuschreibt, scheinen seine Feigheit, seine Unsicherheit, sein manchmal niedertrĂ€chtiges Lavieren hervor, wahrhaftig: das "arme Schwein". Und wie in einem Spiegel, der uns das eigene Bild mehrfach vergrössert zurĂŒckwirft, mĂŒssen wir ­lesenderweise immer wieder ĂŒberlegen: Sind wir frei von den GemĂŒtsregungen und Strategien, die uns Michel Layaz' Ich-ErzĂ€hler hier so freimĂŒtig schildert? So ganz fremd, so ganz anders als wir alle ist es leider nicht, dieses arme Schwein."Le Tapis de course" erschien 2013 in den Editions ZoĂ©. AUF DEM LAUFBAND ist die deutsche ErstĂŒbersetzung.

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Information

1. Juni

Die Silhouette hatte sich mir eingeprĂ€gt, und selbst wenn ich die Hoffnung und die Lust verloren hatte, den jungen Mann wiederzufinden, schoss mir doch ein Schweissausbruch in den Nacken und ein anderer in die Kreuzgegend, als ich ihn in meiner Blickachse erkannte. Ich fuhr langsamer. Er lebte also weiter, nahm weiterhin seine Mahlzeiten ein, ging weiterhin spazieren, traf sich mit jungen Frauen, hörte Musik, ging durch die Stadt, als wĂ€re nichts geschehen. Der junge Mann war allein, er wartete an einem FussgĂ€ngerstreifen, dass die Ampel auf grĂŒn schaltete. Ich habe abgebremst und auf seiner Höhe angehalten. Ich habe mein Wagenfenster hinuntergekurbelt, als ob ich ihn um eine Auskunft bitten möchte. Er hat sich zu mir heruntergebeugt. Eine Sekunde lang glaubte ich, er wĂŒrde mich wiedererkennen. Mit der gleichen Stimme, die er im Supermarkt gehabt hatte, etwas beschwingter vielleicht, sagte der junge Mann: Kann ich Ihnen helfen? Ich habe ihm bedeutet, ich höre schlecht. Wie gewĂŒnscht, steckte der junge Mann den Kopf ins Wageninnere und wiederholte, immer noch lĂ€chelnd, seine Frage. Eine sympathische Miene aufsetzen und ihn dann am Kragen packen und zu mir heranziehen. Ihn schön direkt im Auge haben, schön gegenĂŒber, schön im Griff, ein paar wenige Zentimeter von mir weg, und ihm aus vollen KrĂ€ften feucht in die Schnauze belfern: Arschloch. Der junge Mann hĂ€tte sich heftig losgerissen, wĂ€re mit dem Kopf gegen die WagentĂŒr geprallt, in einem dumpfen, starken Knall. Blut wĂ€re hinausgespritzt. Mit einem einzigen, blutigen Wort, einem Wort, das gleich in der ersten Sekunde hĂ€tte kommen mĂŒssen, wĂ€re alles wieder an seinen Platz gerĂŒckt. Ich hĂ€tte ihm nachgeschaut, hĂ€tte ihn weggehen sehen, verstört, Rotes auf dem Gesicht, auf den Kleidern, taumelnd, ein aufgeplatzter Augenbrauenbogen, Besseres vielleicht. Der junge Mann hĂ€tte sich mulmig gefĂŒhlt in seiner Haut, meine Stimme in ihn eingeĂ€tzt. Ich wĂ€re losgeprescht wie ein Held aus der Krimiserie, mit diesem wohltuenden Arschloch, das im WagengehĂ€use getrĂ€llert, auf den Sitzen herumgetanzt hĂ€tte, und der andere wĂ€re zu Boden gestĂŒrzt, darniederliegend, unrĂŒhmlich ungeniert, so hĂ€tte ich ihn zum letzten Mal in meinem RĂŒckspiegel gesehen.
Die Stimme war wieder da, liebevoll: Kann ich Ihnen helfen? Ich habe den jungen Mann angeschaut, seine blendende Weisse, sein freundschaftlich auf mich gerichteter Blick, seine schwarzen HaarstrĂ€hnen, seine Augen, die grau waren wie der See vor einem Gewitter, seine schmalen Handgelenke, seine schlanke Gestalt. Doch vor allem hörte ich den Klang seiner Stimme, eine schöne Stimme, ehrlich gesagt, eine sinnliche Stimme, die weiterhin fragte, ob sie mir helfen könne, diese Stimme, die man nur lieben konnte, wie Yannis das LĂ€cheln seines Clochards nur lieben konnte. Ich erkannte diese Stimme, sie war mir vertraut, sie Ă€hnelte zum Verwechseln der Stimme meines Sohnes, die Stimme dieses jungen Mannes verschmolz mit der Stimme von Gustave, dasselbe Timbre, derselbe Atem. Ich habe dem jungen Mann gedankt, habe ihm zugelĂ€chelt, ich habe es geschafft, ihm zu sagen, ich hĂ€tte mich geirrt, vollkommen geirrt, doch ich sei froh. Er hat gelacht und sich wieder auf den Weg gemacht. Ich habe ihm nachgeschaut, wie er die Strasse ĂŒberquerte, seine grazile Gestalt, sein prinzlicher Gang. Ich hoffte, er wĂŒrde sich umdrehen. Er hat sich umgedreht und mir zugewinkt.
1 Emil Michel Cioran (1911 – 1995), rumĂ€nischer Schriftsteller und Philosoph, lebte ab 1937 in Paris: Aveux et anathĂšmes
2 Mario Trejo (1926 – 2012), argentinischer Poet und Dramatiker
3 Joseph Joubert (1754-1824), fanzösischer Moralist, u.a. SekretÀr von Diderot
4 Berthold Brecht (1898 – 1956), deutscher Dramatiker und Lyriker
5 RĂ©my de Gourmont (1858 – 1915), französischer Schriftsteller und Journalist
6 Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865), französischer Ökonom und Soziologe
7 Joseph de Maistre (1753 – 1821), französischer Staatsmann, Schriftsteller und Philosoph
8 Emil Michel Cioran (1957-1972), rumĂ€nischer Philosoph und Aphoristiker: Carnets 1957–1972
9 Fernando Pessoa (1888 – 1935), portugiesischer Dichter und Schrifsteller: Erostrate
10 Shakespeare (1564 – 1616), englischer Dramatiker, Lyriker und Schauspieler: Hamlet
11 Aischylos (525 v. Chr. – 465 v. Chr.), Dichter der griechischen Tragödie: Agamemmnon
12 Gustave Flaubert, (1821 – 1880), französischer Romancier: Lettre Ă  Louise Colet
13 Primo Levi (1919 – 1987), italienischer Schriftsteller und Holocaust-Überlebender: Si c’est un homme
14 Die Wortspiele, mit der sich der ErzĂ€hler an dieser Stelle ĂŒber seine weniger »gebildeten« Mitmenschen lustig zu machen beliebt, wĂ€ren ihm im Deutschen um einiges schwerer gefallen. Wie die in Klammer hinzugefĂŒgte Übersetzung deutlich macht, sind die Verwechslungsmöglichkeiten aufgrund einer teilweisen Homophonie (wie bei cahoteux und chaotique) oder aufgrund der diskreten Variante eines Lehnworts aus dem Lateinischen (immutabilitĂ© und immuabilitĂ©), wie auch aufgrund der wenig ĂŒblichen Bildung eines Adjektivs oder eines Substantivs im Deutschen viel weniger gegeben, vor allem deshalb, weil die meisten Lehnwörter fĂŒr den gĂ€ngigen Sprachgebrauch ins Deutsche ĂŒbersetzt worden sind. Nur in der Fachterminologie haben sich die Lehnwörter erhalten.
Damit werden die Begriffe im Deutschen fĂŒr jedermann unmittelbar, konkret verstĂ€ndlich – demokratisiert könnte man sagen! Das Französische, als eine lateinische, aber auch höfische Sprache verrĂ€t hier ein geschichtlich gewachsenes Potenzial der HerrschaftsausĂŒbung durch das Vokabular, fĂŒr das es im Deutschen keine derart in den Begriffen selbst verankerte Parallele gibt. Entsprechend wird die Übersetzung dem deutschsprachigen Leser diese Erfahrung also nicht adĂ€quat vermitteln können. Daher auch die Entscheidung, die französischen Begriffe beizubehalten und ihnen nur eine wörtliche Übersetzung hinzuzufĂŒgen. (Anm. d. Übers.)
15 Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), deutscher klassischer Philologe: Menschlich Allzumenschliches – Ein Buch fĂŒr freie Geister
16 Flaubert (1821 – 1880), französischer Schriftsteller: Briefe an Louise Colet
17 Raoul Vaneigem (*1934), belgischer Autor und Kulturphilosoph
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Der Autor

Michel Layaz, geboren 1963 in Fribourg, lebt in Lausanne und Paris. Seit 1993 hat er in regelmĂ€ssiger Folge Romane und ErzĂ€hlungen veröffentlicht. Darunter Les larmes de ma mĂšre (2003), der mit dem Prix Dentan ausgezeichnet wurde, Cher Boniface (2009), Les deux soeurs (2011), Le Tapis de course (2013) und 2016 Louis Soutter, probablement, alle bei Editions ZoĂ© erschienen. Er gilt als einer der wichtigsten Westschweizer Autoren seiner Generation. 2014 erschien Die fröhliche Moritat von der Bleibe (La joyeuse complainte de l’idiot), ĂŒbersetzt von Yla M. von Dach. Auf dem Laufband ist der zweite Roman im verlag die brotsuppe.

Die Übersetzerin

Yla M. von Dach lebt als freischaffende Autorin, journalistische und literarische Übersetzerin in Biel und Paris. Sie hat zahlreiche Westschweizer Autorinnen und Autoren (u.a. Nicolas Bouvier, Sylviane Chatelain, François DebluĂ«, Marie-Claire Dewarrat, Sandrine Fabbri, Henri Roorda, Alexandre Voisard) sowie Lyrik und dramatische Texte ĂŒbersetzt. FĂŒr ihre Übersetzung Melken mit Stil von Jean-Pierre Rochat erhielt sie 2016 den Terra-Nova Schillerpreis fĂŒr literarische Übersetzung. Eigene Veröffentlichungen: Geschichten vom FrĂ€ulein, Niemands Tage-Buch (Prosa), PhiloZoo (Verse).
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Michel Layaz
Die fröhliche Moritat von der Bleibe
Roman
ĂŒbersetzt von
Yla M. von Dach
128 Seiten, gebunden
CHF 25 /
ISBN 978-3-905689-51-8
www.diebrotsuppe.ch

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 22. August
  6. 23. August
  7. 26. August
  8. 30. August
  9. 3. September
  10. 7. September
  11. 9. September
  12. 12. September
  13. 17. September
  14. 19. September
  15. 24. September
  16. 26. September
  17. 28. September
  18. 5. Oktober
  19. 12. Oktober
  20. 17. Oktober
  21. 20. Oktober
  22. 12. November
  23. 15. November
  24. 18. November
  25. 22. November
  26. 24. November
  27. 2. Dezember
  28. 4. Januar
  29. 11. Januar
  30. 28. Januar
  31. 5. Februar
  32. 9. Februar
  33. 18. Februar
  34. 20. Februar
  35. 22. Februar
  36. 24. Februar
  37. 2. MĂ€rz
  38. 3. MĂ€rz
  39. 6. MĂ€rz
  40. 7. MĂ€rz
  41. 14. MĂ€rz
  42. 20. MĂ€rz
  43. 27. MĂ€rz
  44. 5. April
  45. 9. April
  46. 11. April
  47. 14. April
  48. 20. April
  49. 21. April
  50. 22. April
  51. 23. April
  52. 26. April
  53. 2. Mai
  54. 4. Mai
  55. 11. Mai
  56. 15. Mai
  57. 18. Mai
  58. 19. Mai
  59. 21. Mai
  60. 24. Mai
  61. 26. Mai
  62. 27. Mai
  63. 1. Juni
  64. Notes
  65. Der Autor
  66. Die Übersetzerin
  67. Weitere E-Books von Brotsuppe