1Sechs Prinzipien agiler Schulführung
Viele der heutigen Schulstrukturen, Führungskonzepte und Schulmodelle stammen aus Zeiten, als der gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Wandel noch langsamer und weniger ausgeprägt war. Sie basieren auf der Annahme, dass die Welt grundsätzlich stabil und vorhersehbar sei.
Seit rund zwei Jahrzehnten ist man im Bildungswesen dabei, auf den Wandel in der Arbeitswelt und Gesellschaft zu reagieren. Mit verschiedenen Projekten werden Veränderungen auf allen Ebenen des Schulsystems initiiert. Die meisten sind als einmalige Anstrengungen konzipiert und streben mittelfristig eine neue überdauernde Stabilität an. Langfristige Sicherheit ist das implizite Ziel. Dieser Anspruch ist nicht mehr einzulösen. Das Schulsystem ist eng gekoppelt an ein sich ständig veränderndes und zunehmend komplexeres Umfeld. Es kann sich diesen Veränderungen nicht entziehen. Das deckt sich mit einem oft gehörten Bonmot, dass die Veränderung noch die einzige Konstante in der Schule sei. Aber selbst die Veränderung hat die Tendenz, sich zu beschleunigen.
Zukunftsfähige Schulen verfügen über Konzepte, wie sie mit diesen grundsätzlichen Herausforderungen einen passenden Umgang finden. Sie organisieren sich mit den – sich scheinbar widersprechenden – Anforderungen nach Stabilität und Veränderungen, ohne sich damit zu überfordern. Das Konzept der agilen Schulführung zeigt einen Weg, wie Schulen zu einer beweglichen Stabilität und Verlässlichkeit kommen. Dazu werden bekannte Theorien sowie Praxiserfahrungen zu einem Handlungsansatz kombiniert. Agil geführte Schulen zeichnen sich durch sechs Prinzipien aus:
1.Sie organisieren Paradoxien sinnstiftend.
2.Sie pflegen einen bewussten Umgang mit der Zeit in all ihren Aspekten.
3.Sie legen den Fokus ihrer Aufmerksamkeit konsequent auf die Qualität.
4.Sie nehmen interne und externe Veränderungen wahr und reagieren darauf angemessen.
5.Sie fördern die direkte Interaktion und die Selbstorganisation.
6.Sie reduzieren die Komplexität, ohne sie unzulässig zu vereinfachen.
Im Folgenden werden die sechs Prinzipien vertieft und einzelne Leitsätze formuliert, die handlungsleitend für den Alltag in agil geführten Schulen sind.
1.1 Paradoxien managen
Es ist ein Widerspruch, sich als Organisation laufend zu verändern und gleichzeitig langfristig stabil zu sein. Im Führungsalltag kommen solche paradoxen Situationen immer wieder vor. Sie adäquat zu bearbeiten ist eine wesentliche Führungsaufgabe.
Paradoxien zeigen sich in sich widersprechenden Handlungsaufforderungen, wie »Sei spontan!« oder »Lerne freiwillig!«. Die zweite Form von Paradoxien sind Entscheidungen, bei denen die Alternativen offensichtlich beide passend oder beide unpassend sind (die Wahl zwischen Pest und Cholera). Das macht eine Entscheidung zu einer lähmenden Herausforderung. Man kann es nicht richtig machen und muss sich dennoch entscheiden.
Der Auftrag einer Schule ist eine solche Paradoxie. Der Unterricht soll so organisiert sein, dass alle Kinder optimal profitieren. Die Idee, Klassen entlang des Jahrgangs der Kinder zu organisieren, ist eine mögliche Lösung für diesen Auftrag. In der Praxis zeigt sich aber, dass der Auftrag so nicht umfassend erfüllt wird und nicht alle Kinder optimal profitieren. Die Kinder innerhalb eines Jahrgangs sind nicht wie erwartet eine homogene Gruppe. Deshalb werden Kinder, die nicht in die Klassen passen und die besonderen Bedürfnisse haben, in vielen Schulen von Heilpädagogen gefördert. Damit landen wir beim nächsten Paradox. Diese Kinder sollen möglichst in ihrer Klasse mithalten können und gleichzeitig individuell gefördert werden. Soll diese Förderung integrativ oder separativ erfolgen? Jeder Versuch, eine eindeutige Antwort zu finden, liefert neue Probleme. Wir wählen eine Alternative wegen der Sonnenseite der Entscheidung. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Mit den Schattenseiten, den unerwünschten Nebenwirkungen, müssen wir einen sinnvollen Umgang finden – egal, welche Entscheidung wir treffen.
In vielen Schulen hat die Teilzeitarbeit von Lehrpersonen stark zugenommen. Sie bietet die Möglichkeit, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Teilzeitarbeit erlaubt es, weniger zu arbeiten und die berufliche Belastung zu senken. Gleichzeitig steigt damit in der Schule der Koordinationsaufwand und damit wiederum die Belastung, weil immer mehr unterschiedliche Lehrer an einer Klasse arbeiten. Eine Lösung ist nicht einfach zu finden, da die Situation schon im Kern widersprüchlich ist. Unser Alltag und der Führungsalltag im Besonderen sind voller Widersprüchlichkeiten, wie diese zwei Beispiele zeigten.
Agile Führung ist sich der Paradoxien in ihrer Organisation bewusst und thematisiert sie.
Metakommunikation, also das Gespräch über Paradoxien, ist eine wichtige Interventionsmöglichkeit für Führungskräfte. Die Widersprüchlichkeit einer Situation muss allen Beteiligten bewusst werden. Nur so wird deutlich, dass eine einfache Entscheidung kaum zur Lösung führt.
Paradoxien wohnt eine verführerische Kraft inne. Sie verlangen scheinbar nach einer Entscheidung durch die Führung. Sie soll das Pendeln zwischen dem einen und dem anderen beenden, um damit wieder Sicherheit und Stabilität zu gewinnen. Das verleitet manche Führungskräfte zu einer schnellen Entscheidung. Diese kann leicht mehr Schaden anrichten, als sie Nutzen stiftet. Die Entscheidung für das eine schafft Unzufriedenheit bei der unterlegenen Gruppe. Die Führung hat sich gegen das andere, eine ebenfalls sinnvolle Möglichkeit, entschieden. So oder so hat die gewählte Option in aller Regel Nachteile, die fortlaufend Material für Kritik an der Entscheidung liefern.
Agile Führung hält Widersprüchlichkeiten aus, ohne gleich eine Entscheidung zu fällen.
Im Unterschied zum Dilemma mit zwei Alternativen erweitert das Tetralemma (Simon 2007; 2013) den Denkraum auf vier Möglichkeiten und wird auf Deutsch auch Urteils-Vierkant genannt (Sparrer u. Varga von Kibéd 2013). Das Eine (1) und das Andere (2) stellen das eigentliche Dilemma dar. Im Sowohl-als-auch (3) werden das Eine und das Andere geschickt kombiniert. Beim Weder-noch (4) wird das Dilemma aufgelöst, indem man den Kontext verändert. Sparrer und Varga von Kibéd (2010) fügen dem eine fünfte Betrachtungsweise hinzu. Sie nennen sie die »Nicht-Position«. Sie umfasst den Gedanken, dass es gar nicht um die ersten vier Positionen gehe, sondern etwas ganz anderes anstehe. Somit muss man die ursprüngliche Frage gar nicht mehr beantworten, weil sie ihre Bedeutung verliert. Mithilfe des Tetralemmas kann man weitere Lösungsmöglichkeiten auf anderen Ebenen als der ursprünglichen erkennen (s. auch Kap. 7.2.8).
Die Bildung von Organisationen ist eine mögliche Lösung für pragmatische Paradoxien. Simon (2013, S. 23) zeigt anhand eines einfachen Beispiels, worum es geht. Die paradoxe Handlungsaufforderung besteht darin, links zu gehen, aber nicht rechts, und gleichzeitig rechts zu gehen, aber nicht links. Die beiden Aufforderungen sind von einer Person nicht zu erfüllen.
Entweder (das Eine) ich gehe nach links = nicht rechts. | Ich gehe sowohl nach links als auch nach rechts. |
Ich gehe weder nach links noch nach rechts = weder nicht-rechts noch nicht-links. | Oder (das Andere) ich gehe nach rechts = nicht links. |
Tab. 1: Tetralemma: Die vier Optionen einer Entscheidung
Eine Personengruppe, die sich organisiert, kann zwei widersprüchliche Aufträge gleichzeitig wahrnehmen. Während jemand links geht, geht ein anderer rechts, und die dritte Person macht keines von beiden, sondern kümmert sich um andere Aufgaben. Eine Organisation versetzt sich also durch Arbeitsteilung in die Lage, sowohl das Eine wie auch das Andere und zusätzlich weitere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Als Folge davon braucht es eine Instanz, die die unterschiedlichen Arbeitsbereiche koordiniert und sicherstellt, dass das Gesamtergebnis stimmt. So kommt die Führung in die Organisation. Sie erfüllt den Sinn, die Akteure zu koordinieren und das Ganze zu steuern.
Als Beispiel sei hier folgendes Dilemma erwähnt: Wie kann eine Lehrperson gleichzeitig für die Klasse und für einzelne Schüler da sein und diese individuell fördern? Eine Schule lässt sich inhaltlich, räumlich und zeitlich ohne zusätzliche Ressourcen so organisieren, dass eine Lehrperson für die ganze Klasse ansprechbar ist, während eine andere Lehrperson zeitgleich mit einzelnen Schülern individuelle Lerncoachings macht. Der Weg zu solchen Schulmodellen ist komplex und voller Widersprüche, und er stellt viele Annahmen zum Unterricht infrage. Einfache Lösungen oder Entscheidungen gibt es kaum, wenn Paradoxien organisiert werden.
Die Krux jeder Organisationsform ist, dass sie für einen Teil der Paradoxien eine sinnvolle Lösung darstellt. Gleichzeitig entstehen aber neue Probleme. Die perfekte Organisation gibt es nicht. Es braucht zusätzlich zur Grundstruktur in einer Organisation andere Formen der Kooperation und des Austauschs, um die Zielerreichung optimal zu gestalten. Dazu gehören die interdisziplinäre Zusammenarbeit, Arbeitsgruppen mit Mitgliedern aus allen Bereichen der Schule und die Möglichkeit, sich informell auszutauschen.
Agile Führung gestaltet die Organisation mit Blick auf die zu bearbeitenden Paradoxien.
1.2 Zeitmanagement
Unsere Haltungen im Umgang mit der Zeit zeigen sich im Alltag an der Art, wie wir planen, entscheiden und woran wir uns orientieren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind die gängigen Zeiten in unserem alltäglichen Denken. Ergänzt wird das Trio durch die »gegenwärtige Zukunft«. Damit bezeichnen verschiedene Autoren wie Luhmann oder Wimmer unser heutiges Bild der Zukunft in ein paar Jahren. Gemeint ist die Zukunft, wie wir sie uns heute ausmalen. Darunter ist keine Prognose zu verstehen. Diese gegenwärtige Zukunft enthält eine ordentliche Portion Ungewissheit, weil wir die Zukunft nicht vorhersehen können. Hochrechnungen geben nützliche Informationen, aber wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass die Zukunft genau so sein wird. Wir sind nie vor den »schwarzen Schwänen« gefeit, die Taleb (2010) in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Er meint damit nichtvorhersehbare, höchst unwahrscheinliche Ereignisse mit großer Tragweite. Sie kommen häufiger vor, als wir meinen, und wir unterschätzen sie regelmäßig. Weltweite Beispiele sind das Internet und die Erfolge von Unternehmen wie Google, die großen Finanzkrisen oder die Terroranschläge von 9/11 in New York. Der Blick in die vermeintlich stabile Vergangenheit verführt uns dazu zu übersehen, wie überraschend und unberechenbar sich unsere Welt entwickelt hat.
Agile Führung geht davon aus, dass die Zukunft unvorhersehbar ist.
Dennoch müssen Schulen etwas schaffen, an dem sich alle Mitarbeitenden orientieren können. Ein von allen mitgetragenes Zukunftsbild gibt eine Ausrichtung und setzt Energie frei. Es entsteht als Teil eines Strategieprozesses, an dem möglichst viele beteiligt sind. Sie entwerfen das Zukunftsbild mit dem gegenwärtigen Wissensstand und dem Blick in die Zukunft. Dabei ist den Beteiligten bewusst, dass sich die Dinge anders entwickeln könnten als angenommen. Ein Zukunftsbild wird mit Blick auf die Detailgenauigkeit in einer mittleren Körnigkeit verfasst. Ist es zu detailliert, enthält es keinen Spielraum, um künftige Veränderungen integrieren zu können. Ein sehr detailliertes Zukunftsbild ginge von einer vorhersehbaren Zukunft aus. Diese Annahme teilt die agile Führung nicht. Ist das Zukunftsbild umgekehrt zu allgem...