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eBook - ePub
About this book
Was bleibt von den Zeugnisse des kulturellen Schaffens und der Wissenschaft, die auf digitalen TrĂ€gern festgehalten werden, in fĂŒnf, in zwanzig oder in einhundert Jahren? Experten beleuchten aus unterschiedlicher Perspektive verschiedene Aspekte von Nachhaltigkeit und digitaler Langzeitarchivierung. Ungeachtet aller Unterschiede einigt sie die Ăberzeugung, dass jetzt gehandelt werden muss, um die Grundlagen fĂŒr eine nachhaltige Sicherung des kulturellen Erbes in der digitalen Welt zu schaffen.
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Information
Aktuelle Herausforderungen der digitalen Langzeitarchivierung
Tobias Beinert und Armin Straube
Hintergrund
Der vorliegende Artikel soll die im Rahmen der 8. Initiative âNachhaltigkeit in der Digitalen Weltâ des Internet und Gesellschaft Collaboratory e. V. von den Teilnehmern gemeinsam erarbeiteten Forderungen des Berliner Appells aus Perspektive der GedĂ€chtnisorganisationen sowie des deutschen Kompetenznetzwerks nestor1 in allgemein verstĂ€ndlicher Form erlĂ€utern und so einen Beitrag zur Verbesserung der Rahmenbedingungen fĂŒr die digitale Langzeitarchivierung leisten.2 Aus Sicht der GedĂ€chtnisinstitutionen knĂŒpft der Berliner Appell inhaltlich in vielen Punkten an das bereits 2006 im Namen von nestor veröffentlichte âMemorandum zur VerfĂŒgbarkeit digitaler Informationen in Deutschlandâ3 an und macht damit bereits auf den ersten Blick deutlich, dass im Bereich der digitalen Langzeitarchivierung nach wie vor massiver KlĂ€rungs-, Abstimmungs- und Handlungsbedarf besteht.
Zentral fĂŒr das VerstĂ€ndnis der Aufgabe â und damit auch die derzeitigen Herausforderungen â der digitalen Langzeitarchivierung aus Sicht der GedĂ€chtnisinstitutionen sind zunĂ€chst insbesondere zwei Aspekte, die in der nach wie vor aktuellen Definition von Hans Liegmann und Ute Schwens am besten zum Ausdruck kommen:
âUnter Langzeitarchivierung versteht man die Erfassung, die langfristige Aufbewahrung und die Erhaltung der dauerhaften VerfĂŒgbarkeit von Informationen. [...] âLangzeitâ bedeutet fĂŒr die Bestandserhaltung digitaler Ressourcen nicht die Abgabe einer GarantieerklĂ€rung ĂŒber fĂŒnf oder fĂŒnfzig Jahre, sondern die verantwortliche Entwicklung von Strategien, die den bestĂ€ndigen, vom Informationsmarkt verursachten Wandel bewĂ€ltigen können.â4
Im Folgenden sollen die einzelnen Problemfelder nÀher beleuchtet werden, und es soll dabei sowohl auf Erfolge als auch auf weiter bestehende Herausforderungen eingegangen werden.
Auswahl und Nutzung
Der Einsatz der notwendigen Ressourcen fĂŒr die Erhaltung digitaler Informationen kann nur durch den Hinweis auf die aktuelle oder die potentielle zukĂŒnftige Nutzung gerechtfertigt werden. Ist dies bei einem aktuellen Nutzungsszenario normalerweise kein gröĂeres Problem, stellt sich bei möglicher Nutzung in der Zukunft eine alte Fragestellung der GedĂ€chtnisorganisationen mit neuer SchĂ€rfe: Wie kann heute abgeschĂ€tzt werden, was morgen von Interesse ist?
Archive bemĂŒhen sich schon seit langem, aus der Flut zeitgenössischer Dokumente eine sinnvolle Auswahl zu treffen, um ein aussagekrĂ€ftiges Bild unserer Gesellschaft in die Zukunft zu retten.5 Und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bibliotheken und Museen nehmen beim Aufbau ihrer Sammlungen Auswahlentscheidungen vor. Die BemĂŒhungen der GedĂ€chtnisorganisationen um eine aktive Ăberlieferungsbildung hatten in der analogen Welt allerdings noch die Möglichkeit, BestĂ€nde nachtrĂ€glich zu ergĂ€nzen, da noch nach Jahrzehnten auf Dachböden und in NachlĂ€ssen bedeutender Persönlichkeiten interessante historische Zeugnisse aufzufinden waren oder BuchbestĂ€nde durch antiquarische KĂ€ufe erweitert werden konnten. In der digitalen Welt muss die Sicherung sehr viel schneller und zeitnĂ€her erfolgen. Die Natur digitaler Objekte macht es unmöglich, dass Informationen völlig zufĂ€llig und ohne aktives Zutun ĂŒber lange ZeitrĂ€ume erhalten bleiben.6
Auch wenn die GedĂ€chtnisorganisationen im Rahmen ihrer spezifischen AuftrĂ€ge und ihrer Möglichkeiten diese Auswahl auch in Bezug auf digitale Informationen treffen, erfordert der schnelle Wandel der Formen und die enorme Steigerung der Menge digitaler Informationen eine ĂŒbergreifende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, was unser digitales kulturelles, wissenschaftliches und administratives Erbe ausmacht und wie es bewahrt werden kann. Clifford Lynch fasst treffend zusammen:
âOne of the things I talk about nowadays is trying to understand the shape of the overall cultural record and how that shape is changing and where we are succeeding and where we are failing at coming up â as a society â with preservation strategies for deciding what we need to keep and whoâs going to keep it and how itâs going to get kept.â7
Durch automatisierte Erfassung und Verarbeitung groĂer DatenbestĂ€nde erlaubt die Technik grundsĂ€tzlich das Anlegen viel gröĂerer Archive, als dies in der Papierwelt möglich und finanzierbar war. Dies ermöglicht zum einen den Umgang mit gröĂeren Datenmengen, zum anderen erhöht es die Chancen, innerhalb solcher âDatenbergeâ den zufĂ€lligen Dachbodenfund der Zukunft zu machen. Dieser Big-Data-Ansatz kann mit dem Slogan âCollect now, ask later whyâ umschrieben werden. Informationen, die nicht zeitnah nach ihrer Entstehung gesichert werden, sind unwiederbringlich verloren, auch wenn man spĂ€ter feststellt, dass ihre Erhaltung sinnvoll gewesen wĂ€re.
Die trotzdem weiterhin nötige AbwĂ€gung zwischen Aufwand und potentiellem Nutzen, die der Auswahl zu erhaltender BestĂ€nde bzw. Daten zugrundeliegt, folgt dabei neuen Rahmenbedingungen. Digitale Archivierung ist nicht per se billiger als analoge, es ist aber erheblich einfacher, GröĂeneffekte (economies of scale) zu realisieren und gröĂere Datenmengen zu erhalten. Aber auch wenn die Kosten fĂŒr zusĂ€tzliche Giga- oder Terrabyte an reinem Speicher in einem skalierbaren Langzeitarchivierungssystem gering ausfallen und die Erweiterung der Menge der archivierten Daten meist ein kleineres Problem darstellen als die Unterbringung zusĂ€tzlicher Regalkilometer in klassischen Magazinen, entstehen schon bei der Ăbernahme von Daten oftmals bereits hohe Kosten und erheblicher Personalbedarf. Die Vorbereitung der Daten fĂŒr spĂ€tere, technisch unterstĂŒtzte ErhaltungsmaĂnahmen und die Gewinnung möglichst vielfĂ€ltiger und aussagekrĂ€ftiger Metadaten als Anhaltspunkte fĂŒr kĂŒnftige Suchanfragen können sehr aufwĂ€ndig sein.8 Ebenso sind das laufende Datenmanagement, die Datensicherung sowie die Schaffung neuer Zugriffsmöglichkeiten Kostenfaktoren, die in der digitalen Welt in der Regel in deutlich höherem MaĂe zum Tragen kommen, als dies bei der klassischen Archivierung der Fall ist.
Illustriert werden können die Probleme der Auswahl an der Debatte um die Archivierung von Twitternachrichten. NatĂŒrlich handelt es sich dabei um sehr viel kommunikatives Grundrauschen, aber schon heute interessieren sich Wissenschaftler fĂŒr die Rezeption bestimmter Ereignisse oder den Verlauf von Debatten auf Twitter. Eine sinnvolle Unterscheidung zwischen beidem kann aber kaum getroffen werden, und die Bewertungen werden sich in Zukunft verschieben. Die Library of Congress hat sich entschieden, den Gesamtbestand der Twitternachrichten zu ĂŒbernehmen, und steht jetzt in der Praxis vielen Fragen und Problemen gegenĂŒber.9
Eine wesentliche Rolle bei der Auswahl erhaltenswerter digitaler Ressourcen können zusĂ€tzlich auch private Initiativen spielen. Archive-It10 und WebCite11 etwa sind zwei Angebote im Bereich der Webarchivierung, bei denen Nutzer relativ einfach eine Auswahl von Webressourcen archivieren können. Auch Services wie beispielsweise YouTube, Flickr oder Instagram entwickeln sich derzeit faktisch zu einer Form von âCrowd-Archivenâ, in denen Millionen Nutzer vielfĂ€ltige kulturelle ĂuĂerungen zugĂ€nglich machen und speichern. Allerdings stellt sich hier die Frage nach der Nachhaltigkeit dieser Angebote angesichts der im Hintergrund stehenden kommerziellen GeschĂ€ftsmodelle. Dennoch gilt, wenn eine groĂe Anzahl an Akteuren zur Auswahl der zu erhaltenden Quellen beitrĂ€gt, kann dies helfen, ein möglichst authentisches und facettenreiches Bild unserer Zeit in die Zukunft retten.
Akteure und Strukturen
In logischer FortfĂŒhrung ihrer bisherigen Aufgaben erweitern die klassischen GedĂ€chtnisorganisationen, Bibliotheken, Archive und Museen, schrittweise ihre AktivitĂ€ten auf digitale Ressourcen. Bibliotheken erwerben beispielsweise E-Books und schaffen ZugĂ€nge zu Zeitschriften, auch wenn diese nur noch digital erscheinen. Archive ĂŒbernehmen elektronische Akten und setzen sich etwa mit E-Mail-Archivierung und digitalen Fachverfahren der Verwaltungen auseinander. Auch Museen sehen sich mit digitalen Objekten wie Film- und Bildmaterial bis hin zu komplexen 3-D-Modellen konfrontiert. Schon die reine FortfĂŒhrung bereits bestehender Aufgaben im digitalen Raum stöĂt oftmals auf technische Probleme, stellt die vorhandene Expertise der Mitarbeiter auf die Probe, muss mit limitierten Ressourcen umgehen und fĂŒhrt auch zu rechtlichen Komplikationen. Viele vor allem kleinere Institutionen sind mit den Aufgaben ĂŒberfordert.
Die Ăbernahme von Aufgaben in gĂ€nzlich neu entstehenden Feldern konnte deswegen bisher nur von vergleichsweise wenigen GedĂ€chtnisorganisationen â und somit keinesfalls flĂ€chendeckend â angegangen werden. Vielfach werden auf Basis von Projekt- oder Fördermitteln erste LösungsansĂ€tze entwickelt und Infrastrukturen aufgebaut. Die ĂberfĂŒhrung auch sehr erfolgreicher Projekte in den Dauerbetrieb erweist sich aber oftmals als groĂe HĂŒrde. Die Zuwendungsgeber sind vorsichtig, was die Zuweisung neuer Aufgaben an die GedĂ€chtnisorganisationen angeht, nicht zuletzt wegen des sich daraus ableitenden Finanzierungsbedarfs. Probleme gibt es aber nicht nur in neuen Feldern wie der Webarchivierung oder bei den Forschungsdaten, wo der Aufbau von FĂ€higkeiten und KapazitĂ€ten bei den GedĂ€chtnisinstitutionen bislang noch weit hinter dem Bedarf der wissenschaftlichen Nutzer zurĂŒckbleibt. Auch fĂŒr die schon etwas lĂ€nger bestehende Herausforderung der Video- und Filmarchivierung gibt es in Deutschland keine Institution, die sich federfĂŒhrend und systematisch um die vollstĂ€ndige Archivierung bewegter Bilder in analoger oder digitaler Form kĂŒmmert.12 Um Verbesserungen in diesem Bereich bemĂŒht sind das Netzwerk Mediatheken13 und die nestor AG Media, deren Mitglieder aus unterschiedlichen Kontexten heraus mit audiovisuellen Medien befasst sind.
Insgesamt gesehen, ergibt sich somit bei der Festlegung von Verantwortlichkeiten fĂŒr die digitale Langzeitarchivierung spartenĂŒbergreifend derzeit noch erheblicher Regelungsbedarf. Partiell werden zwar einzelnen Institutionen bereits ZustĂ€ndigkeiten durch auf digitale Veröffentlichungen ausgeweitete Pflichtexemplarregelungen, vertragliche Verpflichtungen oder archivgesetzliche Regelungen ĂŒbertragen, es fehlt hier aber eine ĂŒbergreifende und verbindlich festgelegte Gesamtkonzeption fĂŒr eine flĂ€chendeckende Aufgabenwahrnehmung.14
WĂ€hrend Sammlungsprofile und ZustĂ€ndigkeiten fĂŒr GedĂ€chtnisorganisationen schon immer ein wichtiger Punkt waren, wĂ€chst die Bedeutung der Vernetzung aller relevanten Akteure (der Stakeholder) im Bereich der digitalen Langzeitarchivierung mit der zunehmenden KomplexitĂ€t der Aufgaben schnell an. Keine Institution ist heute mehr in der Lage, alle Bereiche der digitalen Langzeitarchivierung konzeptuell und technisch eigenstĂ€ndig zu beherrschen. An Aufgaben wie der Entwicklung von Software und Registries fĂŒr die Dateiformaterkennung, Standardisierung oder Zertifizierung sind immer eine Vielzahl von Institutionen und Personen beteiligt, die sich damit mit ihren jeweiligen StĂ€rken in die DurchfĂŒhrung und gemeinsame Weiterentwicklung der digitalen Langzeitarchivierung einbringen.
Aus Sicht der einzelnen GedĂ€chtnisorganisation gibt es mehrere Ebenen der Zusammenarbeit. Fundamental sind der Austausch und Wissenstransfer zwischen den GedĂ€chtnisorganisationen sowie Absprachen zur Arbeitsteilung. Angesichts der technischen Herausforderungen ist auch die gemeinsame Nutzung von Infrastrukturen sinnvoll. In Deutschland gibt es mittlerweile eine Reihe von sich gröĂtenteils im Aufbau befindlichen Angeboten zur kooperativen Nutzung von Soft- und Hardwareressourcen.15 Damit können in absehbarer Zeit auch Institutionen kleinerer und mittlerer GröĂe die von gröĂeren Institutionen betriebenen Langzeitarchivierungsinfrastrukturen fĂŒr die dauerhafte Sicherung von eigenen Daten einsetzen.
Erste Formen einer neuen Zusammenarbeit zeichnen sich beispielsweise auch im Rahmen der Webarchivierung ab. So bietet das Bibliotheksservice-Zentrum Baden-WĂŒrttemberg mit SWBcontent16 einen Service zur Sammlung, ErschlieĂung und Archivierung von Webseiten fĂŒr GedĂ€chtniseinrichtungen an, ein Ă€hnliches Angebot wird derzeit an der Bayerischen Staatsbibliothek17 entwickelt. Nachdem im Jahr 2006 der Auftrag der Deutschen Nationalbibliothek auch auf die Archivierung von âunkörperlichen Medienwerkenâ bzw. âNetzpublikationenâ ausgedehnt wurde, bemĂŒht sich die Nationalbibliothek schrittweise um eine Umsetzung. WĂ€hrend dies bei den digitalen Entsprechungen gedruckter Medienwerke schon weit vorangeschritten ist, lĂ€uft di...
Table of contents
- Vorwort
- I. EINFĂHRUNG
- II. BERLINER APPELL
- III. PROBLEMLAGE
- IV. NAHAUFNAHMEN
- V. ZWISCHENRUFE
- VI. DER STREIT UM DIE ZUKUNFT
- VII. TEXTE, QUELLEN
- BIOGRAFIEN
- STATEMENTS
- Impressum