Neoklassisches Paradigma in Standardlehrbüchern
Die fehlende Fundierung der Nachfrage nach Kapital und Arbeit und der Einkommensverteilung
Hansjörg Herr
Rezensierte Bücher:
Blanchard, O./Illing, G. (2014): Makroökonomie, 6. Auflage, München: Pearson. 912 Seiten. Im Folgenden zitiert als BI.
Felderer, B./Homburg, S. (2005): Makroökonomik und neue Makroökonomik, 9. Auflage, Berlin: Springer, 496 Seiten. Im Folgenden zitiert als FH.
Mankiw, N.G. (2011): Makroökonomik: Mit vielen Fallstudien, 6. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 775 Seiten. Im Folgenden zitiert als GM.
Mankiw, N.G./Taylor, M.P. (2012): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1133 Seiten. Im Folgenden zitiert als MT.
Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch Verlag, 1104 Seiten. Im Folgenden zitiert als SN.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine intensive und lange Debatte über die Grundpfeiler neoklassischen Denkens. Im Zentrum standen die Nachfrage nach Kapital und Arbeit und die funktionale Einkommensverteilung. Im Rahmen der Cambridge-Cambridge-Debatte (Cambridge, USA und Cambridge, England) in den 1960er Jahren wurde unzweifelhaft bewiesen, dass das neoklassische Standardmodell auf extrem restriktiven und unrealistischen Annahmen basiert. Man könnte erwarten, dass diese zentrale Debatte in wichtigen Lehrbüchern Platz findet oder zumindest referiert wird. Zunächst wird an einer Reihe bekannter Lehrbücher überprüft, ob dies der Fall ist. Es schließen sich eine Zusammenfassung der Cambridge-Cambridge-Debatte und eine Einschätzung an.
Die neoklassische Makroökonomie in Lehrbüchern
Beginnen wir mit dem Lehrbuch von Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus (2010), dem wohl erfolgreichsten Lehrbuch nach dem Zweiten Weltkrieg. In dem Kapitel „Wachstum, Entwicklung und Weltwirtschaft“, das die längerfristigen Entwicklungen analysiert, wird die makroökonomische Produktionsfunktion eingeführt: „Häufig stellen Wirtschaftswissenschaftler die herrschende Beziehung zwischen den Faktoren als gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion […] dar, die eine Verbindung zwischen der Produktion eines Landes und dem dafür notwendigen Input und der Technologie hergestellt.“ (SN, S. 746)1 Als einer der Wachstumsfaktoren wird „Kapital (Fabriken, Maschinen, Straßen, geistiges Eigentum)“ (SN, S. 746) benannt. „Auf vollkommenen Märkten wird die Inputnachfrage durch die Grenzprodukte der Produktionsfaktoren bestimmt. Im einfachen Fall, in dem die Faktoren in Form des einzigen Outputs bezahlt werden, erhalten wir folgende Gleichung: Lohn = Grenzprodukt der Arbeit, Rente = Grenzprodukt des Bodens und so weiter für jeden Produktionsfaktor.“ (SN, S. 372) Und: „… die Nachfrage nach dem Faktor Kapital [ist] eine abgeleitete Nachfrage, die sich aus dem Kapitalgrenzprodukt ergibt, das der zusätzlichen Produktionsleistung durch Zugänge zum Kapitalbestand entspricht.“ (SN, S. 448) Auf der gleichen Seite wird das Gesetz der abnehmenden Grenzerträge (Ertragsgesetz) eingeführt.
Bei N. Gregory Mankiw (2011) spielt im Teil II über die langfristige Betrachtung die Produktionsfunktion eine zentrale Rolle. „Die Produktionsfunktion repräsentiert die verfügbare Produktionstechnologie, um Kapital- und Arbeitseinsatz in Output zu transferieren.“ (GM, S. 61) „Die Einkommensverteilung wird durch die Faktorpreise bestimmt. Als Faktorpreis bezeichnet man den Betrag, den die Produktionsfaktoren für die abgegebene Leistung erhalten. In einer Volkswirtschaft, in der es nur die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital gibt, sind die Faktorpreise der Lohnsatz des Arbeitnehmers und der Zinssatz des Kapitaleigentümers.“ (GM, S. 62) Nachdem abnehmende Grenzprodukte als Normalfall postuliert werden, folgt: „Das Unternehmen dehnt seine Nachfrage nach dem jeweiligen Produktionsfaktor soweit aus bis dessen Grenzprodukt auf den realen Faktorpreis abgesunken ist.“ (GM, S. 69) An dieser Stelle führt Mankiw ein weiteres Argument an: „Der Teil des Gesamteinkommens, der übrig bleibt, nachdem die Produktionsfaktoren entlohnt wurden, wird als ökonomischer Profit oder Unternehmergewinn bezeichnet und fließt den Eigentümern der Unternehmen zu […]. Wenn die Produktionsfunktion konstante Skalenerträge aufweist, ist der Unternehmergewinn gleich Null.“ (GM, S. 69)
Im Lehrbuch von Mankiw und Mark Taylor (2012) ist die Argumentation identisch. „Jeder Faktorpreis spielt sich so ein, dass Angebot und Nachfrage auf dem Faktormarkt übereinstimmen. Weil die Faktornachfrage das Wertgrenzprodukt des Faktors spiegelt, wird im Gleichgewicht jeder Produktionsfaktor nach seinem Grenzbeitrag zur volkswirtschaftlichen Güterproduktion entlohnt.“ (MT, S. 488) Und: „Realkapital wird nach dem Wert seines Grenzproduktes entlohnt, unabhängig davon, ob diese Einkünfte an die Haushalte in der Form von Zinszahlungen und Dividenden weitergereicht werden oder als einbehaltene Gewinne in der Unternehmung verbleiben.” (MT, S. 484) Keynes wird im Teil über „kurzfristige wirtschaftliche Schwankungen“ abgehandelt. „Er begründete die Notwendigkeit kurzfristiger Eingriffe in die Volkswirtschaft. Diese konnten – anstatt des Wartens auf das schließlich von selbst eintretende langfristige Gleichgewicht – zu nützlichen wirtschaftlichen Verbesserungen führen.“ (MT, S. 875)
Oliver Blanchard und Gerhard Illing (2014) betrachten die Produktionsfunktion ebenfalls in den Teilen ihres Lehrbuches über die lange Frist. „Ausgangspunkt jeder Wachstumstheorie ist die aggregierte Produktionsfunktion.“ (BI, S. 321) Nachdem auf der folgenden Seite „realistischerweise“ konstante Skalenerträge unterstellt werden, folgt: „Die Eigenschaft, dass der Produktionszuwachs mit stetiger Erhöhung des Kapitals immer kleiner wird, bezeichnet man als abnehmenden Grenzertrag des Kapitals […]. Das Gleiche gilt auch für andere Produktionsfaktoren.“ (BI, S. 322) Bei der Analyse der Pro-Kopf-Produktionsfunktion folgt die übliche Argumentation: „Steigt die Kapitalintensität (das Kapital je Beschäftigten), so steigt auch die Produktion je Beschäftigten […]. [E]in Anstieg der Kapitalintensität [bringt] immer weniger zusätzliche Produktion pro Kopf mit sich. Dies ist eine direkte Konsequenz abnehmender Grenzerträge des Kapitals.“ (BI, S. 324) Auf die funktionale Einkommensverteilung wird in dem Lehrbuch überhaupt nicht eingegangen. Kurzfristig wird die Nachfrage nach Arbeit durch die Interaktion einer Lohnsetzungsgleichung, die vom erwarteten Preisniveau, der Arbeitslosenquote und einer Sammelvariablen (Arbeitsmarktinstitutionen etc.) abhängt, und durch die Preissetzungsgleichung von Unternehmen unter unvollständiger Konkurrenz bestimmt (BI, Kapitel 6). Hier spielen Grenzerträge dann keine Rolle.
Bernhard Felderer und Stefan Homburg (2005) legen ihr Lehrbuch paradigmenorientiert an und stellen explizit verschiedene Schulen im Rahmen des neoklassischen und keynesianischen Paradigmas vor. Die Post-Keynesianer_innen werden sehr kurz behandelt und kommen schlecht weg: „Da der Postkeynesianismus etwas abseits vom Strom der ‚Orthodoxien‘ liegt und selbst keine kohärente Theorie bietet, können wir auf ihn im Rahmen dieses einführenden Lehrbuches nicht weiter eingehen.“ (FH, S. 101) Die Keynes’sche Theorie „steht mit einem Fuß auf dem Boden der Neoklassischen Theorie, mit dem anderen aber auf dem Grund dessen, was ihre Anhänger für das Neue und Weiterführende der ‚General Theory‘ halten; wir sprechen deshalb synonym von der Neoklassischen Synthese.“ Und: „Die Neoklassische Synthese geht von der prinzipiellen Funktionsfähigkeit des Marktsystems aus und erklärt die Existenz von Rezessionen anhand verschiedener ‚Defekte‘.“ (FH, S. 139) „Das Kapital ist in der makroökonomischen Abstraktion ein homogenes Gut, das mit dem produzierten Gut identisch ist.“ (FH, S. 54) Den Leser_innen wird jedoch nicht vermittelt, welche brisante Bedeutung die Annahme „homogenes Gut“ beinhaltet. Bei der Produktionsfunktion werden zwei Probleme erwähnt. Erstens wird das Problem der Substitution der Produktionsfaktoren angesprochen. „Zumindest bei etwas längerfristiger Betrachtung kann jedoch ohne weiteres die Substitutionalität der Faktoren unterstellt werden.“ (FH, S. 57) Zweitens wird das Ertragsgesetz mit erst steigenden und dann fallenden Erträgen diskutiert. Aber steigende Erträge sind kein Problem, da „Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz im Bereich fallender Grenzerträge produzieren“ (FH, S. 58).
In keinem der Lehrbücher wird auf die Cambridge-Cambridge-Debatte eingegangen. Für die längere Frist wird in allen betrachteten Lehrbüchen die makroökonomische Produktionsfunktion hochgehalten. Teilweise wird auf die Pro-Kopf-Produktionsfunktion im Rahmen des Wachstumsmodells von Robert Solow eingegangen. In allen Ansätzen gilt das neoklassische Standardmodell als langfristige Referenz. Die in der Neoklassischen Synthese benannten „Imperfektionen“ wie schlechte Erwartungen, starre Löhne oder Liquiditätsfalle oder der Strauß der im Neo-Keynesianismus mikroökonomisch abgeleiteten „Defekte“ im Marktsystem kratzen die Rolle des neoklassischen Paradigmas als Referenzmodell der ökonomischen Wissenschaft nicht an. Außer von Blanchard und Illing wird das neoklassische Modell in den be...