1. Kapitel:
Anstelle einer Einführung: Über mein Vorgehen
Ich sah Ihn1, gleichzeitig erstaunt und gequält, im Fernsehen. Er brüllte: »Pass bloß auf und sei ja vernünftig!« und versuchte, seiner Miene einen harten Ausdruck zu verleihen. Das war der Moment, in dem ich mich entschied, dieses Buch zu schreiben.
Ich zitterte. Ich fühlte mich an die Blicke der Menschen erinnert, die die Fenster der Transvestiten in der Ülkerstraße zerschlugen und alles um sich herum in Flammen hatten aufgehen lassen. Und an die Mienen der Fußballfans, die in Bursa geschrien hatten: »Tod den Transen!« Ich rief mir weitere Szenen ins Gedächtnis. Ich sah verzerrte Gesichter, die »Pass bloß auf und sei ja vernünftig!« schrien und ich sah all die anderen, uns Frauen so vertrauten Bilder.
Mich beschäftigte die Frage, was ich aus all dem machen sollte. Schließlich verspürte ich einen ausschlaggebenden Wunsch: Ich wollte die Geisteshaltung hinterfragen, »die aus einem Kind einen Mörder machte.« Ich wollte diesen »Mörder«, diesen »Mann«, diesen »Jungen« durch das Prisma des Feminismus betrachten.
Dieser Wunsch eröffnete mir ein weiteres Feld. Yasin, Hasan, Kemal … . Noch mehr als der Grund, aus dem sie zu Mördern wurden, interessierte mich, wie es dazu kam, dass sie »Pass bloß auf und sei ja vernünftig!« schrien, wie sie zu Männern geworden waren, warum und wofür sie sich so aufspielten. Also begann ich zu recherchieren. Gleich zu Beginn stellte ich fest, dass diese Recherche auch seitens feministischer Positionen notwendig geworden war.
Der Feminismus hat der in sexistisch-ideologischen Mustern gefangenen Frau ihr Wort zurückgegeben. Forschungen auf dem Gebiet des Feminismus entwickelten sich parallel zu weiteren gesellschaftlichen Bewegungen. Indem sie die verschiedenen Gesichter des Patriarchats sichtbar machten, konnten sie auch die Geschichtsschreibung neu interpretieren. Landläufige wissenschaftliche Methoden und Annahmen wurden auf den Kopf gestellt. So genannte biologische Geschlechtsunterschiede wurden als eine Vorstellung, als ein gesellschaftliches Konstrukt entlarvt, das sämtliche politische und gesellschaftliche Institutionen durchdringt. Sowohl die weibliche als auch die männliche Sicht auf die Geschlechtertrennung wurden in einem anderen Licht beleuchtet und schließlich erfolgte eine neue Betrachtungsweise auch weiterer gesellschaftlicher Phänomene.
Aufgrund der Unsichtbarkeit weiblicher Erfahrungen denkt man bei dem Begriff »Geschlechterforschung« zunächst an Untersuchungen über Frauen. In den letzten zwanzig Jahren hat jedoch der Begriff der Männlichkeit aus feministischer Sicht verstärkt Aufmerksamkeit erhalten.2 Die Männlichkeitsforschung, die weltweit Ende der Siebziger Jahre und in der Türkei erst vor kurzem ihren Anfang nahm, hat in relativ kurzer Zeit ein beachtliches Repertoire an Arbeiten zusammengetragen. Anhand dieses Repertoires werden aktuell verschiedene Analysen entwickelt. Die Codes des Patriarchats können besser entziffert werden, wenn die Geschlechtertrennung aus weiblicher sowie männlicher Sicht analysiert wird. Es macht Sinn, das Augenmerk darauf zu lenken, durch welche Mechanismen »Männlichkeit« produziert wird, wie Männer innerhalb dieser Mechanismen positioniert werden und wie diese Mechanismen untereinander verflochten sind.
Dennoch stehen wir immer noch ganz am Anfang dieses Weges. Eine tiefere Auseinandersetzung mit der »Erfahrung« der Männer steht noch aus. Der Geschlechterforscher Kandiyoti begründet diesen Bedarf auch mit der Notwendigkeit neuer Männlichkeitsmodelle: »Es lohnt sich, über Institutionen (…) nachzudenken, die Macht, Gewalt, Rivalität und Wettbewerb in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen schüren, (…) um bestehende Macht- und Herrschaftsbeziehungen zu erhalten. Überlegungen dieser Art schaffen die Gelegenheit für neue Männlichkeitsmodelle.«3
Auch Tayfun Atay, Journalist und Professor an der Universität Ankara, argumentiert, dass das Eindringen in die »Intimsphäre des Mannes« eine Möglichkeit eröffnen würde, zu sehen, in welchem Maß das »Menschsein« für das »Mannsein« aufgegeben wird; als Mann beklagt er einen eklatanten Mangel auf diesem Gebiet: »Wir wissen nicht wirklich, wie viele Männer an der ›Männlichkeit‹ leiden, wie viel Anstrengung ein Mann darauf verwendet, ›Männlichkeit zu meiden‹, um am Ende doch nur wieder mehr Männlichkeit produzieren zu müssen.« 4
Gesellschaften verfügen über verschiedene Mechanismen, die in Verbindung mit herrschenden Normen allgemein anerkannte Geschlechtsmuster entwerfen, nach denen einzelne Individuen geformt werden. Solche genderisierenden Mechanismen gliedern die grundlegendsten »Bedürfnisse« und die »unverzichtbaren« Elemente des Alltags. Sie fügen sich in den verschiedenen Phasen gesellschaftlicher Geschlechterproduktion zu einer vielschichtigen Einheit zusammen, die das Denken über die Geschlechtertrennung am Leben erhält und mühelos mit den Werten gesellschaftlicher Institutionen einhergeht. Kinderspiele, Schulmannschaften, Sport, Freundesgruppen, familiäre Milieus, Arbeitsplätze und Wehrdienst sind nur einige solcher Mechanismen, die in weibliche und männliche Geschlechtsmuster zerfallen. Diese Trennung wird gleichzeitig zur Grundbedingung einer gesellschaftlichen Existenz. Die Existenz eines Individuums wird erst dann akzeptiert, wenn es sich einer genderisierten, also imaginären Gemeinschaft zuordnen lässt.
Geschlechternormen sind jedoch keine unveränderlichen Kategorien. Gesellschaftliche Systeme erschaffen ein Regime der Geschlechtertrennung, das den sozialen, politischen und ökonomischen Bedürfnissen entspricht. Bedeutungen, mit denen die Geschlechtsunterschiede aufgeladen werden, ändern sich entsprechend dieser Bedürfnisse. So, wie Frauen mithilfe unterschiedlicher Mechanismen vereinheitlicht werden, so werden auch Männer mithilfe dieser gesellschaftlichen Konstruktionen, ihren Mitteln und Ritualen, zu »richtigen Männern« gemacht.
Meine Untersuchung bezieht sich vorwiegend auf die Situation in der Türkei. Wie erlernt ein Mann in der Türkei Männlichkeit? Welche Institutionen spielen bei der Produktion männlicher Identität eine Rolle? Wie wird die Persönlichkeit der Männer in der Phase ihrer Mannwerdung beeinflusst, wofür können sie sich öffnen und wovor verschließen sie sich? Vor welchem Hintergrund entwickelt sich ihr Verhalten gegenüber Frauen? Wie nehmen sie ihre eigene Männlichkeit wahr, wie definieren sie sie? Welche Rolle spielen Machtbeziehungen untereinander bei der Bildung des Patriarchats?
Mit diesem Buch mache ich mich auf die Suche nach Antworten. Im Mittelpunkt dieser Suche steht die Zeit des Wehrdienstes, um anhand dieses Beispiels Hinweise zu finden.
Isoliert von ihrem sozialen Umfeld, mit dem Ziel, einen »obligatorischen Dienst« abzuleisten, verbringen Männer einen festgelegten Zeitabschnitt in einer reinen »Männergesellschaft«. Eine Erfahrung, die ihre Geschlechtsidentität entscheidend formt. Sie zeigt einerseits alle geschlechtsspezifischen Mechanismen, die den gesellschaftlichen Alltag durchdringen; andererseits übt sie eine tief greifende Wirkung auf das gesamte weitere Leben der Männer aus.
Aus feministischer Sicht gibt es verschiedene Fragen, die sich zum Thema der Wehrdiensterfahrungen stellen: Welche Rolle spielt der Wehrdienst bei der Schaffung von Männlichkeit? Welchen Platz nimmt er in der Welt der Männer ein? Wie beeinflussen die Bedeutungen, mit der die Gesellschaft den Wehrdienst und die »obligatorische Dienstzeit« auflädt, die Entwicklung junger Männer? Auf welche Art nähren sich militaristische Mechanismen und das daran anschließende Denken aus einer sexistischen Ideologie? Welche Rolle spielt die Maschinerie des Militärs bei der Schaffung von Männlichkeit?
Analysen der Verschmelzungen und Abgrenzungen, die in Männlichkeitsrollen erlebt werden, können ebenfalls einen Beitrag zu verschiedenen Diskussionen und Fragestellungen leisten. In diesem Buch beschränke ich mich darauf, eine Diskussion zu entfachen, die das zwischen Männlichkeitsmythos, Gewalt und Machtbeziehungen eingepferchte Individuum sichtbar werden lässt.
Bei meiner Suche nach Antworten interessierte mich weniger die Schilderung des Erlebten selbst, sondern vielmehr die Art, in der sich Männer an das Erlebte erinnern. Um zeigen zu können, wie die Auseinandersetzung mit diesem Thema sich verändert, befragte ich im Sinne der Oral History ausschließlich Zeitzeugen und ließ sie frei erzählen.
Die Auswahl der befragten Männer stellt repräsentativ die gesellschaftliche Vielfalt der Türkei dar. Wie machen sich unterschiedliche Klassenzugehörigkeiten während des Wehrdienstes bemerkbar? Wie beeinflussen Bildungsstand und politisch-ideologische Neigungen die Deutung und das Verständnis dieses Zeitabschnittes? Wie veränderten sich im Laufe der Zeit Wehrdienst und das gesellschaftliche Bild von Männlichkeit? Welche Verbindungen existieren zwischen der Kaserne und anderen Lebensbereichen? Wie beeinflussen unterschiedliche kulturelle oder geographische Herkunft die Erfahrungen? Oder unterschiedliche sexuelle Orientierungen? Oder der Umstand, beim Militär zu sein, während man sich eigentlich als Frau fühlt? Wie sehr werden Männergemeinschaften geprägt von verschiedenen Kriegs- und Gewalterfahrungen, so wie in Korea, Zypern, Somalia, in Gefängnissen, bei kriegerischen Konflikten im Osten der Türkei oder der Mobilmachung im Westen des Landes? An was erinnern sich die Männer, was streichen sie aus ihrem Gedächtnis? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, interviewten wir in einem Team 58 Männer. Dabei achteten wir darauf, dass sie aus unterschiedlichen Klassen, Berufs- und Altersgruppen stammten und verschiedene kulturelle und ideologische Hintergründe mitbrachten. Das Gesprächsmaterial, das so entstand, ist auch für weitere Untersuchungen von Nutzen.5
Die Interviews fanden größtenteils ausschließlich unter Männern statt, da es ihnen schwer fiel, ihre Erfahrungen mit einer Frau zu teilen. Leichter fiel es ihnen, sich mit Männern zu unterhalten, die ebenfalls ihren Wehrdienst geleistet und ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie sie selbst. Diese Aufgabe haben Hüseyin Deniz und İrfan Uçar übernommen.
Als die gesellschaftlich sehr verbreiteten »Militärerinnerungen«, die bei Männergesprächen zur festen Tagesordnung gehören, auf einmal die Form einer wissenschaftlichen Untersuchung annahmen, traten verschiedene Probleme auf. Zahlreiche Männer, die zuerst einverstanden waren, über ihre Wehrdiensttage zu sprechen, änderten ihre Meinung, als sie sahen, dass die Gespräche aufgenommen werden sollten. Auch schreckte ein großer Teil der Männer davor zurück, dass ihr Name an irgendeiner Stelle veröffentlicht werden könnte. Während manche dies mit der Aussage: »Wir möchten uns nicht vor den Leuten blamieren« begründeten, sagten andere: »Ich möchte nicht, dass mein Name überall veröffentlicht wird« und: »Das ist doch jetzt vorbei (…) die Vergangenheit soll ruhen. Ich erzähle, um Ihnen weiterzuhelfen, aber ich will nichts weiter damit zu tun haben.«
Also änderten wir die Namen der Männer, mit denen wir sprachen. Ist nicht das Vorhandensein dieser Beklommenheit allein schon Antwort auf die Fragen, denen dieses Buch nachgeht? Der Umstand, dass Erfahrungen nicht offen mitgeteilt werden können, sagt viel über den Seelenzustand der Männer aus, die sie gemacht haben. Da oft über den »Wehrdienst« gesprochen wird, ist er kein Tabuthema, jedoch eines, vor dem man Angst hat. Wie sonst ließe es sich erklären, dass einige Männer von einem Interview Abstand nahmen, als sie erfuhren, dass es aufgenommen werden solle? Zudem wird das uneingeschränkte Mitteilen von erlebten Schmerzen, ungerechter Behandlung und Schwächemomenten auch als Verweichlichung, als Effeminisierung erlebt. In der Regel verstummen Männer unter der Last des Männlichkeitsmythos; sie sind nicht in der Lage, über einen wichtigen Teil ihres eigenen Lebens zu reden; es fällt ihnen besonders schwer, über Gefühle zu sprechen und sie reden weniger unbeschwert über ihre privaten Erlebnisse, als Frauen das in der Regel tun. Das Ausmaß der während der Gespräche gemachten Bekenntnisse bringt einige innere Konflikte ans Licht, die Männer gewöhnlich nicht mit der Öffentlichkeit teilen möchten. Zwar wird versucht, dieses Trauma zu überwinden, indem es beispielsweise in der Form von Witzen ständig zur Sprache gebracht wird. Eine tatsächliche Konfrontation damit fällt jedoch sehr schwer, ganz besonders in aller Öffentlichkeit.6
Wir waren darum bemüht, dass die Männer während der Gespräche nicht nur Vertrauen zu uns, sondern auch zu sich selbst fassen konnten; dass sie über ihre Erfahrungen nachdenken, sie sich ins Gedächtnis rufen und ihre Geschichten genau schildern konnten. Es gelang Hüseyin und İrfan, die ja selbst ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, diese Vertrauensbasis im Verlauf der Vorgespräche aufzubauen. Das führte dazu, dass die Mehrheit der befragten Personen detailliert über ihre Erfahrungen sprach. Selbst diejenigen, die während der vorbereitenden Gespräche angaben, nicht viel zu erzählen zu haben, gaben später ausführliche Schilderungen.
Wir stießen in den Erzählungen auch auf verschiedene Widersprüche. Manche Geschichten vermitteln gar das Gefühl des Fiktiven oder der Übertreibung. Da wir jedoch keinesfalls erwarteten, dass die Männer ihre Erlebnisse eins zu eins wiedergaben, stellt dieser Umstand kein Problem dar. Wir nahmen an, dass wir im Zuge der Gespräche auf verschiedene Formen der Verzerrung treffen würden. Zumal wir die Lüge als eine Form der Kommunikation anerkennen, waren wir auf das Erlebte selbst eigentlich weniger gespannt. Eher waren wir neugierig darauf, wie die Erfahrungen umgewandelt, was die Männer in welcher Form übertreiben, verheimlichen, erfinden oder abwandeln würden. Wir wollten nicht einfach nur darstellen, sondern sehen, welche Erfahrung auf welche Art gemacht, wie sich daran erinnert und wie sie zum Ausdruck gebracht wird.
Nach dem Abschluss der Gespräche breiteten sich viele Stunden Erzählmaterial vor mir aus. Während ich die Texte las, hatte ich auf den ersten Blick den Eindruck, immer wieder die gleiche Geschichte zu lesen. Es fiel mir anfangs schwer, die Schilderungen auseinander zu halten. Als ich später den gleichen Text erneut betrachtete, wurde mir klar, dass jeder Mann, genau wie Frauen, sein individuelles Abenteuer allein und auf eigene Art erlebt. Die Lebensgeschichten der Männer, die alle über »den gleichen Ladentisch« gegangen waren, die eine sehr ähnliche Sprache sprechen und zu fast identischen Schlüssen kommen, waren dennoch alle einzigartig. Diese Einzigartigkeit zeigt, dass es kein allgemeingültiges Patriarchat gibt und macht zudem Geschlechterhierarchien sichtbar, die durch sich ständig ändernde politischen Phasen und Machtbeziehungen entstanden und entstehen.
Trotz dieser Vielfalt zeichnete sich dennoch ein altbekanntes Bild ab. »Gewöhnliche Menschen, die in von anderen über sie erstellten Dokumenten wie Strohfeuer erschei...