Kriegerin des Lichts
Heinz-Werner, mein Patenonkel, bringt mich zur dritten Chemotherapie nach Düsseldorf. So brauchen meine Eltern nicht zu fahren. Obwohl ich die Worte meines Vaters nie vergessen werde, als es darum ging, an welchem Ort ich meine Chemo bekommen soll. Er sagte zu mir, dass er mich auch hundert Mal nach Düsseldorf fahren würde, Hauptsache ich würde wieder gesund werden! Während der Autofahrt unterhalte ich mich sehr angeregt und gut mit meinem Onkel. Mein Magen schmerzt noch ganz schön, vor allem aber dann, wenn ich an die Infusionen denke. In Düsseldorf angekommen, berichte ich alles über meinen kleinen spontanen Krankenhausaufenthalt. Die Schwester gibt mir dann den Tipp, dass Milch nicht für jeden gut geeignet sei. Bei einigen ist lauwarme Milch ideal gegen Sodbrennen, jedoch hätten auch viele erzählt, dass es schlimmer werde. Und Milchsäurebakterien sind bei angegriffener Schleimhaut wirklich nicht zu empfehlen. Sehr interessant. Dann werde ich erst einmal auf Milch und einige Milchprodukte verzichten. Die Gesprächsrunde unter uns Patientinnen ist heute extrem lustig und entspannend. Der Chefarzt kommt kurz zu uns, und auch er spürt sofort unsere gute und heitere Stimmung. Eine Etage über uns liegt die Angst der Frauen nach ihrer Krebs-Diagnose spürbar in der Luft. Bei der Chemo hier im Keller sind wir schon einen großen Schritt weiter und können auch wieder lachen. Heute hat jede eine kleine witzige Anekdote bezüglich der Glatze zu erzählen. Auf mich wartet die Überraschung, dass ich während der Taxotere-Infusion meine Hände und Füße mit Eispacks kühlen soll. Nach neuesten Erkenntnissen kann man so die Nebenwirkungen verringern, die zu Empfindungsstörungen in Fingern und Zehen führen. Eingekuschelt in eine warme Decke, gucken nun meine Hände und Füße heraus und liegen auf Eis. Ich habe schon Bergfest heute, die letzte Chemo in diesem Jahr. Nur noch drei weitere Infusionen im neuen Jahr. Das werde ich schon schaffen. Bei so manchen Geschichten der anderen Damen wird mir immer wieder bewusst, wie gut es mir geht. Ich bin dankbar, dass ich meine OP vor der Chemo hatte und bei mir bislang alles relativ gut gelaufen ist. Jede Frau hat ihren ganz individuellen Behandlungsplan in Abhängigkeit vom Tumorprofil. Es ist schon ein Segen, dass es heute so viele Brustzentren gibt, die die neuesten Forschungsergebnisse so schnell wie möglich anwenden können.
Trotz der harten Nebenwirkungen empfinde ich die Chemo als eine starke Verbündete an meiner Seite. Nach den Infusionen rufe ich meinen Onkel an, der nach einem kleinen Shoppingausflug in die Musikabteilung des nahe liegenden Einkaufszentrums zu mir ins Krankenhaus kommt. Er begleitet mich zum Auto und deckt mich sorgsam mit seiner mitgebrachten Decke auf dem Beifahrersitz zu. Es ist wunderbar, seine Fürsorge zu spüren.
Bei meinen Eltern angekommen, lasse ich mich ins Sofa sinken und hake innerlich den dritten Teil der Chemo ab. Mein Papa tut mir leid, dass er meinetwegen sein Bett verlassen muss, und ich biete ihm an, selbst auf der Couch zu schlafen. Er lässt sich aber nicht darauf ein und besteht darauf, dass ich in einem richtigen Bett schlafen soll.
Am 18. Dezember findet wieder eine Ü30-Party in der Stadthalle statt. Da es sehr wichtig für mich ist, auch während der Chemotherapie am normalen Leben teilzunehmen, beschließe ich, meine Freunde zu begleiten. Ausnahmsweise setze ich sogar meine Perücke auf. Ich werfe mich in das kleine Schwarze und male mir ein wenig Farbe ins Gesicht. Bereits während der Autofahrt, bei einer Außentemperatur von minus vierzehn Grad, ärgere ich mich über meine Kopfbedeckung. Es zieht unangenehm kalt durch das künstliche Haarnetz, meine kuschelige Fleecemütze wäre besser gewesen. Wer schön sein will, muss leiden? Ich fühle mich aber alles andere als schön heute Abend. Ich komme mir vor, als sei ich die einzige, die in Verkleidung eine Party besucht. Wäre es doch bloß nicht so furchtbar kalt, dann würde ich erhobenen Hauptes mit meiner Glatze über die Tanzfläche stolzieren. Sam macht mir jedoch das Kompliment, dass ich in meinem Kleid und mit den künstlichen Haaren einfach toll aussehe. Naja, dann versuche ich mal, ihm zu glauben. Nach einer halben Stunde am Stehtisch schwächeln meine Beine. Das Feuer in meinem Inneren brennt trotz diverser Magenmittel. Anja besorgt mir fürsorglich ein Glas warmes Wasser, doch als ich es leer getrunken habe, verabschiede ich mich nach anderthalb Stunden. Ich bin leicht frustriert wegen meiner schlechten Kondition, freue mich aber, überhaupt dabei gewesen zu sein.
Es ist kurz vor Weihnachten, und leider fallen meine extrem schlappen Tage genau auf die Feiertage. Am 23. Dezember springen die Kinder schon aufgeregt durch die Wohnung, da sie endlich den Tannenbaum schmücken wollen. Zuerst müsste ich jedoch die Lichterkette am Baum befestigen, doch ich kann mich kaum aufrecht halten. Mein niedriger Blutdruck verlangt eigentlich hochgelagerte Beine. Leif ist schon ganz enttäuscht, weil er so gerne die lila Glitzerkugeln an den Baum hängen möchte. Vor lauter Aufregung stehen die Jungs nun keine Sekunde still, während mich die letzte Kraft verlässt. Obwohl ich meine Eltern einen Tag vor Heiligabend gar nicht stören möchte, sehe ich keinen anderen Ausweg, als sie um Hilfe zu bitten. Oma Moni und Opa Herbert sind ganz schnell bei uns und schmücken mit den Kindern unseren Weihnachtsbaum. Zudem nehmen sie die Kinder auch noch mit zu sich, und ich kann mich einen Tag im Bett ausruhen. Am Heiligen Abend will ich schließlich unbedingt fit sein. Selbst lesen kann ich an diesen Tagen Nummer neun und zehn nach der Chemo nicht. Viel zu anstrengend. Glücklicherweise sind Tagträume immer möglich, und so verbringe ich viele Stunden mit süßen Träumereien. Unser Kater Tiger weicht in diesen Tagen nicht von meiner Seite. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit ich im Haus unterwegs bin, mein Kater begleitet mich. Liege ich stundenlang im Bett, gesellt er sich zu meinen Füßen, auf dem Sofa liegt er schnurrend auf meinem Bauch. Ein wahrer Weggefährte.
Am Mittag des 24. Dezember bekomme ich die Jungs zurück. Ich rappele mich auf und ziehe mich in Zeitlupe festlich an. So sehr ich mich auch bemühe, den alljährlichen Gang zur Dorfkirche schaffe ich nicht. Opa Konrad springt ein und macht sich mit Eric und Leif auf zum Familiengottesdienst. Unser anschließendes Festessen empfinde ich als Folter. Der große Tisch ist reich gedeckt mit den leckersten Speisen. Verführerischer Duft steigt in meine Nase, mein Verlangen nach wohlschmeckenden Speisen ist unendlich groß. Mit Anstrengung schaffe ich aber nur drei trockene Pellkartoffeln, die nach nichts schmecken. Mein entzündeter Magen verträgt nur lauwarmes Wasser. Es frustriert mich sehr, auf diesen Genuss des Essens zu verzichten. Nachts habe ich schon von einem dicken Hot Dog geträumt und bin mit Tränen in den Augen aufgewacht, weil mein Geschmackssinn verschwunden ist und ich oft nur trockenes, weiches Toastbrot oder Babybrei herunterbekomme. Ich hätte gar nicht gedacht, dass der Verzicht auf Essen so schmerzlich sein kann. Die Bescherung verläuft dafür sehr harmonisch und stimmt mich zufrieden. Meiner Mutter laufen Tränen übers Gesicht, als sie unsere Weihnachtspost ansieht; darin ist ein Foto von den Kindern und mir – mit Glatze. Sie hat noch eine ganz andere Erziehung genossen und kann meine Offenheit im Umgang mit meiner Krankheit und den fehlenden Haaren nur schwer verstehen. Für mich ist aber gerade dieser Weg so wichtig, jede Art von Versteckspiel empfände ich als demütigend.
Peter muss am Silvesterabend arbeiten, und so suche ich nach einer idealen Lösung für die Kinder und mich zum Jahreswechsel. Abgeben möchte ich sie auf keinen Fall, doch ich schaffe es auch nicht, stundenlang mit ihnen zu feiern und um die Häuser zu ziehen. Ich beschließe, bei Jill in Herdecke zu feiern, denn bei ihr kann ich mich auch einfach aufs Sofa legen, wenn es mir nicht gut geht. Sie wird sich dann mit Paul und Max schon um meine Jungs kümmern. Wir verbringen einen gemütlichen Abend bei unseren ehemaligen Gästen. Um Mitternacht stoße ich mit meinem lauwarmen Wasser an und habe Mühe, meine sentimentalen Gedanken samt feuchten Augen zu vertreiben. Ich darf auf dem Sofa liegen, während die anderen zum Knallen durch die Stadt ziehen. Auf in ein neues Jahr! Ich möchte so schnell es geht alles Schmerzliche hinter mir lassen. Ich freue mich so unendlich auf den kommenden lebendigen Sommer.
Am nächsten Morgen fahren wir drei nach dem Frühstück heim. Schnell geht es in meine Fleece-Klamotten und ab auf die Couch. Sehnlichst erwarte ich die besseren und kraftvolleren Tage. Diese Rechnung verschiebt sich leider bei jeder Chemo-Infusion nach hinten. So schnell wie ich nach der ersten Infusion wieder fit war, geht es leider nicht mehr.
Kurz vor der nächsten Chemo vereinbare ich mit dem Fotografen Jo K. wieder einen Shootingtermin. Ich habe gesehen, dass Jo wunderschöne Bilder mit einer weißen Säule macht, und die ganze Zeit denke ich, dass ich mit meiner Glatze sehr gut auf diese weiße Säule vor weißem Hintergrund passen würde. Unbedingt möchte ich gute Aufnahmen von meiner Glatze haben, aber ich möchte auch einfach überhaupt wieder Fotos machen. Das sind für mich Highlights in meinem Alltag, die mir wahnsinnig viel Spaß machen, mich aber auch weit tragen. Ebenso bin ich immer neugierig auf andere Menschen und freue mich über neue Bekanntschaften. Es gefällt mir besonders, Künstlern bei ihrer kreativen Arbeit zuzusehen. Bereits 2007 und 2008 habe ich von Jo Fotos machen lassen. Die Gespräche mit ihm hatten mich damals sehr beeindruckt. Während des Shootings 2008 entstanden wundervolle Aufnahmen mit meinen im Wind wehenden langen Haaren. Und nun also mit Glatze.
Trotz Feuer im Magen fahre ich nach Iserlohn. Wie jedes Mal sitzen wir zunächst beim Tee zusammen und besprechen unsere Fotopläne. Nach einer guten Dreiviertelstunde kann es losgehen. Ich entkleide mich und setze mich auf die weiße Säule. Jo bastelt sehr penibel an der Lichtanlage, bis ich auch gut ausgeleuchtet bin. Während des Fotografierens vergesse ich meine Welt und schlüpfe für ein paar Stunden in die Rolle eines Models. Ich glaube, genau dieser Rollenwechsel, das Abschalten meines Alltags, ist der wohltuende Aspekt bei dieser Sache. Für einige Aufnahmen setze ich meine Perücke auf, für das nostalgische Sofa werden der Spitzenbody und meine braune Mütze gewählt. Obwohl ich jetzt ohne Haare vor ihm sitze, mit Narbe auf der Brust und Port überm Schlüsselbein – es fühlt sich an wie immer. Mir fällt mein Lieblingszitat von Audrey Hepburn ein: »Die Schönheit einer Frau ist nicht ihre Kleidung, ihre Figur oder die Art, wie sie ihre Haare kämmt. Die Schönheit einer Frau ist in ihren Augen zu sehen, weil sie der Eingang zu ihrem Herzen sind. Der Platz, in dem die Liebe liegt.« Jo macht traumhafte Bilder, und ich fahre erfüllt und voller Stolz heim.
Zu Hause gehen mir die alltäglichen Aufgaben nicht mehr so einfach von der Hand. Natürlich wasche ich nach wie vor fast jeden Tag eine Maschine Wäsche und koche das Mittagessen für die Kinder, aber es kostet mich deutlich mehr Kraft, die Dinge in Angriff zu nehmen. Ich fühle mich ständig schlapp und ausgepowert und könnte eigentlich nur noch in meinem Bett bleiben. Ich weiß natürlich, dass mir das überhaupt nicht gut tun würde, und so bin ich wirklich dankbar, dass ich in Bewegung bleiben muss. Ich werde gebraucht und freue mich über die erfüllende Aufgabe, Mutter zu sein.
Der Weg zur vierten Chemo fällt mir merklich schwerer. Es kostet mich eine Menge Überwindung, guten Mutes ins Auto meiner Eltern zu steigen. Ehrlich muss ich mir eingestehen, dass ich mich viel lieber vor der nächsten Dosis Taxotere drücken würde. Doch für mein großes Ziel, als Siegerin aus der Geschichte hervorzugehen, muss ich auch Einsatz zeigen. Ich will einfach leben, also nehme ich die Therapie an. Langsam wird es schwierig, meinen kleinen Proviant für Düsseldorf zusammenzustellen. Alles, was ich während der Infusion zu mir nehme, widert mich nach ein paar Tagen dermaßen an, dass ich das Gefühl habe, es nie wieder in meinem Leben essen zu können. Die Situation erinnert mich an die Filmszene in Clockwork Orange, in der der jugendliche Straftäter mit Beethovens Neunter konditioniert wird. Gar nichts zu essen funktioniert aber auch nicht, und so suche ich mir Brötchensorten aus, die ich dann eben für unbestimmte Zeit nicht mehr mag. Viel Auswahl habe ich nicht mehr. Zu gerne würde ich meine angelesenen Kenntnisse über eine gesunde Ernährung in die Tat umsetzen, doch mein Magen ist schrecklich sauer und akzeptiert kein Obst oder Gemüse. Ich esse also hauptsächlich ganz weißes, weiches, ungesundes Brot oder Pellkartoffeln. Ich finde mich damit ab, dass mein Körper unter der Therapie dieses Verlangen verspürt. Sobald es mir nach der Chemo wieder besser geht, werde ich mich durch köstliche Gemüse- und Obstberge essen.
Ich öffne die Tür zur Klinik und der Geruch des Treppenhauses lässt die Übelkeit in Lichtgeschwindigkeit in meinen Hals schießen. Tief atme ich ein, balle meine Faust und spreche mir selbst Mut zu, so dass ich schließlich mit großer Zuversicht meine vierte Chemo-Etappe in Angriff nehme. Ich freue mich auf die anderen Frauen und die kostbare Kommunikation. Es ist einfach eine angenehme Gesellschaft, und wir können, trotz der oft sehr ernsten Themen des Lebens, ja auch wunderbar zusammen lachen. Wir reden über das Bisphenol-A in sämtlichen Plastikflaschen, die Aluminium-Verbindungen in Deos, das schlechte Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Ölen seit der Industrialisierung und vergessen bei den angeregten Gesprächen beinahe die laufenden Infusionen. Meine Hände und Füße liegen auf Eis, aber mein Kopf läuft auf Hochtouren und raucht. Im Handumdrehen sind meine dreieinhalb Stunden um. Wieder einmal geschafft.
Zu Hause bei meinen Eltern beginnen die Magenkrämpfe. Die ersten zwei Tabletten helfen für genau eine halbe Stunde. Na, das kann ja heiter werden. Ich lege mich relativ früh ins Ehebett meiner Eltern und hoffe, die Schmerzen im Schlaf nicht mehr zu spüren. Die Taktik geht auf. Um ein Uhr nachts bin ich dank des Cortisons wieder hellwach, doch glücklicherweise ohne Magenkrämpfe. Als ich morgens am Frühstückstisch meiner Eltern sitze, versetzt mich das in unbeschwerte und fröhliche Kindheitstage.
Zurück im Dorf laufe ich morgens wieder mit Leif zum Kindergarten, um mich zumindest etwas sportlich zu betätigen. Den zweiten Berg schaffe ich jedoch nur noch mit langsamen Schritten. An schlechten Tagen muss ich sogar kurz stehen bleiben, um Luft zu holen, bevor ich weitermarschieren kann. Meine Freundin aus Haspe kommt mich heute besuchen und bleibt auch über Nacht. Über diese gemeinsame Nacht freue ich mich riesig, und ich frage mich, warum sich niemand sonst nachts zu mir gesellt. Ich klammere mich an die Termine der Kinder, um immer wieder Gründe zum Aufrappeln zu finden. Montags geht Leif in einen Schwimmkurs, fast parallel findet Erics Musikkurs in der Stadt statt. Ich spreche mich mit Opa Konrad ab und begleite entweder Leif zum Schwimmen oder Eric zur Musikschule. Während Leifs erster Schwimmstunde sitze ich in der feuchtwarmen Luft der Schwimmhalle und erinnere mich plötzlich, in welch schlimmem mentalen Zustand ich mich während Erics erster Schwimmstunde befand. Es war die Zeit, als ich tief in der Krise mit Peter steckte. Nie werde ich diese Ohnmacht und Trauer vergessen. Wie ein Häufchen Elend saß ich auf der gleichen Bank, lächelte Eric zu und wischte mir heimlich die Tränen von der Wange. Ich konnte kaum atmen vor lauter Herzschmerz. Jetzt sitze ich wieder hier und schaue meinem jüngsten Kind im Schwimmkurs zu, doch diesmal kommt mein Lächeln aus meinem tiefsten Inneren. Klar bin ich körperlich nicht gerade in Bestform, aber mein Geist wäre stark genug, den Ironman zu laufen.
Am Freitag stehe ich, wie fast jede Nacht, um halb drei auf. Da ich nur noch halb sitzend wegen der entzündeten Speiseröhre schlafen kann, bringt es mir eine wirkliche Erleichterung, aus dem Bett zu steigen. Wegen des Feuers im Magen trinke ich lauwarmes Wasser und esse eine trockene Scheibe Toast. Meine Stimmung ist auf dem Nullpunkt, ich fühle mich in diesen unzähligen wachen Stunden in der Nacht einfach nur einsam. Obwohl ich stets in die treuen Katzenaugen blicken darf. Ich schalte das Küchenradio ein und höre ein wunderschönes Lied: Krieger des Lichts. Der Text lässt mir Tränen in die Augen steigen; er weckt aber auch den Kämpfer in mir und vertreibt meine trüben Gedanken: Seine Macht ist sein Glaube …, die größte Waffe ist sein Herz …, lasst uns aufstehen … Genau diesen Zuspruch habe ich jetzt gebraucht. Frohen Mutes gehe ich zurück in mein Bett und kuschele mich unter die Decke.
In der nächsten Nacht stehe ich wieder schlaflos auf und schleiche in die Küche. Wieder schalte ich das Radio ein und höre zu meiner großen Freude Musik, zu der ich vor zwei Jahren exzessiv tanzte. Mit meinen Fleece-Joggingsachen und den dicken Kuschelsocken schwinge ich nun in meiner Küche das Tanzbein. Ich schließe die Augen und fühle mich so lebendig und glücklich wie in der tollen Nacht von 2007. Tanzen ist von nun an meine Lieblingsmedizin gegen die Einsamkeit in der Nacht. Wie in Trance schleiche ich nachts in meine Küche und lasse mich von der Musik mitreißen. Mit geschlossenen Augen träume ich mich auf die besten Tanzflächen und spüre das pulsierende Leben in meinen Adern. Ich stelle mir vor, das kleine Schwarze zu tragen und meine langen Haare wie wild durch die Luft zu wirbeln. Das unbeschreibliche Glücksgefühl durchströmt den ganzen Körper und nährt meine Zuversicht, bald wieder real abzutanzen.
Ich beschließe, nach der letzten Chemo eine After-Chemo-Party zu feiern, nicht so dekadent mit Flusskrebsen und Champagner, aber mit vielen Leckereien, die ich dann endlich wieder essen kann. Ich möchte alle meine Freunde einladen, um mit mir den ersten Etappensieg auf meinem Weg zu begießen. Noch zweimal durch dieses Tal laufen, dann ist es endlich geschafft. Meine Sehnsucht nach dem vollen Leben ohne diese vielen Einschränkungen ist riesengroß. Mittlerweile bin ich ein wahrer Meister darin geworden, mich abzulenken. Ich genieße jede Zeile meiner Bücher, beschäftige mich mit stundenlangen süßen Tagträumen, plane immer wieder das kalte Büffet meiner wichtigen Party oder tanze ganz einfach in meiner Küche. Irgendwann wird es Frühling werden. Die bunten Blumen werden erwachen, das kraftvolle Grün wird in die Bäume schießen und meine Lebensgeister werden ebenfalls zurückkehren.
Um mir die Zeit bis zum Frühling zu versüßen, vereinbare ich noch einmal mit Rainer einen Fototermin. Wie zuvor bei Jo ist es ein berauschendes Gefühl, für einen kleinen Moment der Alltagswirklichkeit zu entfliehen. Zudem bin ich stolz auf meine Glatze und möchte diesen Lebensabschnitt gerne auf schönen Bildern festhalten. Rainer trägt seit Jahren auch eine Glatze, und so probieren wir an diesem Tag den neuen Selbstauslöser aus und der Fotograf schlüpft kurzzeitig mit in die Rolle des Models. Die Bilder gefallen mir außerordentlich gut. Ich finde, dass zwei Menschen mit kahlem Kopf schon eine enorme Wirkung haben. Aber eben keine traurige oder an Krankheit erinnernde Stimmung. Nein, ich empfinde Zuversicht und Lebensfreude, wenn ich die Bilder von uns betrachte. Zwei hübsche, freundliche Kahlköpfe.
Ich würde meine Glatze sogar gern mit einer kunstvoll verschnörkelten Tätowierung schmücken, doch diesen Wunsch darf ich mir nicht erfüllen. Die Ärzte raten wegen des veränderten Blutbildes dringend davon ab. Eine Infektion sei jetzt viel zu riskant. Ich bin ein wenig enttäuscht, kann aber die Begründung nachvollziehen. Es schwirren so schon genug Viren und Bakterien durch die warmen Räume im verflixt kalten Januar.
Leif fängt sich eine dicke Grippe ein und braucht besonders viel Trost und Nähe. Eric bekommt seltsame kleine rote Pickelchen am Kinn, was sich beim Hautarztbesuch als Gürtelrose herausstellt. Nun liegen wir alle drei in meinem Schlafzimmer, während meine Leukozyten einen Tiefstand von 1,1 erreicht haben. Damit ist mein Immunsystem praktisch wehrlos. Meine Hände sind ganz rau vom ständigen Desinfizieren. Eric liegt auf der Gästematratze vor meinem Bett, Leif liegt in meinem Bett und ich schlafe verkehrt herum, mit meinem Kopf am Fußteil, um die Ansteckungsgefahr ein wenig zu verringern. Nachts muss ich meine beiden weinenden Kinder trösten, und da mir gerade wieder die Kraft für meinen eigenen Körper fehlt, bete ich für bessere Zeiten. In solch zermürbenden Stunden in der Nacht fühle ich mich sehr allein, obwohl ich meine beiden Kinder im Arm halte. Es wäre einfach wohltuend, wenn mich auch mal jemand tröstend in seinen Armen halten würde. Ich werde mich jedoch nicht in melancholischen Gedanken verlieren! In meinen nächtlichen Tagträumen versetze ich mich einfach in eine bessere Zeit, die Zeit nach der Chemo, sie ist zum Greifen nah. Ich motiviere mich sehr oft mit positiven Bildern. So sehe ich mich nach...