Frühling 45
eBook - ePub

Frühling 45

Chronik einer Berliner Familie

  1. 464 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub

Frühling 45

Chronik einer Berliner Familie

About this book

Berlin vom Untergang zum Neuanfang. Dicht am Alltag, ohne falsche Sentimentalität, voller Tatsachen und einnehmend erzählt. Die Wiederentdeckung eines Ausnahmeautors.Es beginnt mit einem Glücksfall: Der Ich-Erzähler kann im Februar 1945 zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter in einem ruhigeren Randbezirk in ein von seinen Besitzern verlassenes Haus ziehen, in dem sich nur noch die Haushälterin und geheime Vorräte befinden. Eindrücklich und wendungsreich wird das Leben der kleinen Gemeinschaft in einer Zeit geschildert, in der die Vergangenheit brutal versinkt und das Kommende mehr als dunkel ist. Aber sie ist nicht nur gekennzeichnet von Todesangst, Zerstörung, Hunger und dem ängstlich erwarteten Eintreffen der Sieger, sondern auch von optimistischen Planungen für eine demokratische Zukunft und ganz persönlichen Sehnsüchten, die in dieser apokalyptischen Situation mitunter zu grundsätzlichen Lebensfragen werden. Dann kommt der Frieden und bringt eigene Gefahren mit sich. Ruhe tritt jedenfalls noch längst nicht ein. Lebendig und kompromisslos erzählt Borées autobiographisch geprägter Roman von diesen drastischen Tagen in der Geschichte Berlins.

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
At the moment all of our mobile-responsive ePub books are available to download via the app. Most of our PDFs are also available to download and we're working on making the final remaining ones downloadable now. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Frühling 45 by Karl Friedrich Borée in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Literatur & Altertumswissenschaften. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

III. KAPITEL

1

In der Nacht hatten wir unsere drei Angriffe und hockten zu neunt in unserem Verlies. Zu den sieben Hausbewohnern hatte sich noch ein fremdes junges Ehepaar gesellt, das wir schon vorfanden, als wir in den Keller hinunterkamen. Vielleicht war es auch kein Ehepaar, sondern nur ein Paar. Es hatte auf der untersten Treppenstufe Platz genommen und sprach zu niemand ein Wort. Dazu kam der Hund. Sonderbar, daß die Mehrheit der Menschen das Bedürfnis fühlt, sich bei Gefahr zusammenzudrängen, – Rudelinstinkte.
Herr Vogel, der wie immer am Pfeiler lehnte, mit dem Mantel über dem Pyjama, benutzte eine Pause, um zu erklären: „Morgen haben wir den Geburtstag unseres allerhöchsten Herrn, da können wir uns auf etwas gefaßt machen.“ Seine Gefühle waren weder an seiner Miene noch durch seinen trockenen Ton hindurch zu erkennen.
„Du kannst es doch nicht lassen!“ zeterte seine Frau.
Ich fragte, ob Hitler denn eigentlich noch hier sei. Herr Vogel murmelte etwas; er schien sich nicht gern mit mir zu unterhalten. Nachher begriff ich, daß er gesagt hatte: „Er leitet die Verteidigung der Reichshauptstadt vom Staatsbunker aus.“
Frau Vogel sagte: „Die Armee Wenk ist im Anmarsch.“
Der Schlaf war kurz. Als ich am Morgen die beiden Öfen angelegt hatte, kam Flitta hinzu, noch in ihrer blauen Pracht. (Glücklicherweise hatte ich meine Brosamen schon eingesammelt.) Ich eröffnete ihr, daß wir heute die Weinkisten aus dem Keller schaffen und im Garten vergraben müßten. Sie grinste: „Alle? Ein paar Fläschchen werden wir wohl zurücklassen können.“ Aber sie sah die Notwendigkeit der Aktion ein, was mich erleichterte. „Es wird keine Kleinigkeit werden.“
„Gleich nach dem Frühstück werde ich mich ans Graben machen.“
Zum Frühstück (die Uhr der gewohnten Ordnung lief weiter, bis sie entzwei war) gab es geröstetes Schwarzbrot mit Salz. Seit einiger Zeit wurde das Mehl mit Wasser so sehr gestreckt, daß wir das rohe Brot nicht mehr genießen konnten. Aber geröstet schmeckte es. Maximiliane empörte sich über die neue Volksvermehrung im Luftschutzraum. „Das geht doch einfach so nicht.“
„Ich kann sie nicht raussetzen.“
„Warum nicht? Es ist doch eine Existenzfrage.“
Friederike sagte: „Sollen wir nun doch nicht heute fahren?“
Ich schwieg. Maximiliane fragte: „In die Armee Wenk hinein?“
„Ich finde, es ist zu ernst, um Späße zu machen.“
Maximiliane: „Aber es ist doch die Wahrheit! Ich meine, wie willst du über die Elbe kommen und durch die beiden Fronten?“
Wieder Friederike: „In jedem Dorf ist es jetzt sicherer als hier.“
„Wenn die Russen in das Dorf kommen …?“
Helene sagte nichts. Sie saß am Tisch wie ein Vogeljunges, das man aus dem Nest gestoßen hat.
Die beiden Mädchen gingen nach Wasser. Ich stieg in den Keller, um den Spaten zu holen. Als ich im Halbdunkeln umhertastete, war mir, als ob ich in großer Ferne Fliegersummen hörte. Gleich darauf bebte das Haus leise. Schon polterten Vogels auf der Treppe. Friederike, Maximiliane und Helene kamen nach den Rädern gelaufen. „Wir fahren in den Wald.“ Ich trug Helene ein Rad zum Hinterausgang hinaus.
„Hier, los!“
„Fahren Sie nicht mit?“
„Einer muß dableiben. Hier, los!“
Zum ersten Male hatte es keinen Alarm gegeben. Ich ging zurück auf mein Zimmer, die Gesellschaft im Keller war auch mir unerträglich, von dort durch das Nebenzimmer auf die Terrasse. Auf einmal entdeckte ich am nördlichen Himmel die Flieger: dicht wie Vogelschwärme zogen sie herauf. Sie flogen höchstens in viertausend Meter Höhe.
Gleich darauf hörte man gewaltige Explosionen. Rauchschleier, schwefelgelb und grau, stiegen über die Wipfel auf und schienen die Erde mit den Fliegern zu verbinden; gewundene weiße Rauchfäden hingen von oben herab. Ohne Unterbrechung grollten die Detonationen und machten die Fenster hinter mir klirren. Sodom und Gomorrha …
Nach einer Stunde war alles vorüber. Die drei kehrten aus dem Walde zurück, befriedigt von ihrem Unternehmen. Ich ging in den Garten und begann eine tiefe Grube auszuheben. Zu meinem Verdruß ließ sich unser Italiener nicht sehen. Nach anderthalb Stunden Erdarbeit holte ich mir Flitta. Wir befreiten die Kisten aus ihren Verstecken, wir wuchteten eine nach der anderen über ihre Kanten den Keller entlang, die Hintertreppe hinauf, durch die Gartenwege, über die Gartentreppe wieder hinab und versenkten sie in das Loch. Es waren Lasten von mehr als Zentnerschwere. Flitta erwies sich ebenso anstellig wie kräftig.
„Mehr als diese drei gehen nicht hinein“, sagte ich erschöpft. „Wo bleiben wir mit der vierten?“
„Mit der vierten?“ Sie lachte.
„Mein Gott, wie viele sind es denn?“
Wir bauten eine vierte in der Waschküche auf und verkleideten sie durch eine bunte Decke als Tisch. Danach forschte ich nicht weiter. Mindestens lag da noch der deutsche Sekt in drei Kartons.
Ich machte mich daran, die Grube zuzuwerfen. Als ich fertig war, war kaum etwas zu erkennen; Friederike konnte ihren Kohl darauf setzen. Den ganzen Nachmittag lag ich auf dem Bett: ich hatte mir einen regelrechten Hexenschuß zugezogen. Was sollte werden, wenn ich bewegungsunfähig war? Immerfort meinte ich, es käme einer, mich zum Volkssturm zu holen oder uns auszutreiben.
Wir saßen beklommen am Abendtisch. Herr Vogel hatte am Bahnhof erfahren, daß die Russen schon in Schönwalde ständen. Schönwalde lag nur eine Stunde entfernt. Sie schössen bereits in die Stadt, man konnte es hören.
Es begann eine abenteuerliche Nacht. Ich schleppte mich in den Keller, es war zehn Uhr. Das fremde Paar war ausgeblieben. Herr Vogel wollte erfahren haben, in Schönwalde seien sie noch nicht; es habe sich um Schönfeld gehandelt, das hinter Bernau liege. Bis Bernau waren es zwanzig Kilometer in der Luftlinie. Zunächst würden die deutschen Truppen einrücken müssen. Vermutlich würden sie sich am Bahnübergang festsetzen. Es gab kein Licht mehr, wir saßen bei einer Kerze. Unausgesetzt hörte man Fliegerlärm und undefinierbares Schießen. Dazwischen ferne Sirenensignale, fern aus der Stadt, Vorwarnung, Hauptwarnung, Entwarnung in unverständlichem Durcheinander. Wir fühlten, daß wir in die Auflösung trieben; es war der wirbelnde Wind vor der Wetterwand.
Um elf schleppte ich mich wieder nach oben, ich hielt das Sitzen nicht aus. Friederike und Maximiliane beschlossen, sich in dem abgestützten Vorratskeller einzuquartieren. Sie stellten sich Luftschutzbetten darin auf, zwischen den hängenden Kleidern. Sie bestimmten Busch, dasselbe zu tun. Die anderen blieben im Treppenhaus hocken. Mir war alles gleich, ich war zerschlagen und überreizt. Jede Minute gewärtigte ich, die russischen Panzer zu hören.
Gegen zwei Uhr trat vollkommene Stille ein. Ich blieb bis zum Tagesgrauen angekleidet auf dem Bett liegen. Meine Kreuzschmerzen hatten nachgelassen.
Das Wetter war trüb geworden, es regnete leicht. Während ich an der Heizung schaffte, trat Friederike hinzu. Sie könne doch nicht mehr schlafen, es sei zu kalt. In der Nacht hätten sie beschlossen, heute noch einmal in unsere Wohnung zu fahren; es wäre doch offenbar noch nicht soweit. Alle Einmachgläser ständen noch dort.
„Na!“ sagte ich bloß, vor dem Ofen kauernd. Maximiliane kam fröstelnd hinzu.
„Das Eingemachte kann uns doch das Leben retten“, ergänzte Friederike. „All die schöne Arbeit, die ich mir gemacht habe! Sogar Fleisch ist dabei!“
„Wir werden es uns nicht verzeihen, wenn wir nicht wenigstens den Versuch gemacht haben“, schloß sich Maximiliane an, sehr bestimmt: „Was soll uns zwei Frauen schon passieren?“
Nun kam auch noch Helene. Wir hielten Kriegsrat, um das Lagerfeuer des offenen Ofens. In sehr unterschiedlicher Bekleidung.
„Laß uns fahren!“ drängte mich Maximiliane. Ich hatte mich aufgerichtet und kaum mehr als jene eine Silbe gesagt.
„Sie sollten nicht fahren“, ließ sich Helene hören, mit Wendung an meine Frau. „Aber ich. Ich bin ja gar nicht nötig hier.“
Das sei gut gemeint, aber Unsinn, antwortete ihr meine Frau. Schon weil sie über nichts Bescheid wisse.
„Und der Regen?“ fragte ich zögernd.
„Das bißchen! Wir haben doch unsere Mäntel.“
Ich dachte: wenn sie so entschlossen sind … „Dann rat’ ich aber, daß ihr sofort fahrt.“
Natürlich wurde es fast zehn Uhr, ehe sie loskamen.
Ich ging nach Wasser. Auch im Nachbarhaus kam das Wasser nur noch schwach.
Als ich mit den beiden letzten vollen Eimern wieder ins Haus trat, stand Flitta mit ihrem Polizeiwachtmeister in der Tür. Der Mann war sehr nervös; er ließ sich Zivilkleider geben.
Der Zugverkehr sei eingestellt, berichtete er. Strom werde es nicht wieder geben. Den Rest Brot auch nicht mehr. Der Alexanderplatz liege schon unter Beschuß. Die Panzersperren seien endgültig geschlossen.
„Na, dann werden die beiden Damen ja bald wieder zurückkehren“, meinte Flitta. – Mir war das nicht unlieb. – „Was machen wir bloß, wenn gar kein Wasser mehr kommt?“
Der Schutzmann zuckte die Achseln.
Was machten wir bloß hier draußen, wenn wir völlig abgeschnitten waren …?
Ich setzte mich auf mein Zimmer und nahm meine russischen Bücher vor. Es war immer noch ganz still, eine ungewohnte Stille. Vielleicht waren die deutschen Truppen abgezogen. Nur fern aus dem Südosten hörte man hin und wieder dumpfe Detonationen. Jemand klopfte Teppiche! Ich erinnerte mich an ein Wort von Goethe, holte den Band herbei und fand es: „Der einzelne beschränkte Mensch gibt seine nächsten Zustände nicht auf, wie auch das große Ganze sich verhalten mag.“ Das war bei der Belagerung von Mainz gewesen. Heute und hier wird es so weit kommen, daß er sie aufgeben muß. – Mein leerer Magen störte mich beim Lesen. Von Zeit zu Zeit ging ich hinunter, um nach etwas Eßbarem zu spähen. Vogels machten sich im Vorratskeller zu schaffen. Ich hörte die schartige Stimme der Frau; vermutlich versteckten sie Wertsachen. Helene wirtschaftete mit Flitta in der Küche. Es war gut, daß Helene Gesellschaft hatte. Sie kochte nach Vorschrift unser gemeinsames Mittagessen. Ihr bescheidenes Töpfchen stand neben Flittas Bratpfanne auf dem Herd. Ich lachte ihr heimlich zu, sie flimmerte mit den Wimpern: etwas Spannungsdruck war noch in ihr.
Flitta rief mir zu: „Seit heute morgen sind die Russen in Bernau.“
„Wer weiß das denn so genau?“
„Herr Vogel hat’s im Drahtfunk gehört.“
„Wie? Der geht wieder?“
„Auch das Telefon!“
„Um eins können Sie essen“, sagte Helene.
„Ich? – Wir.“
Um eins klopfte sie und meldete, daß unser Dinner beginnen könne. Ich fand die Gabeln auf Bänkchen gelegt, eine wohlbegründete Tischsitte, die im Kriege abhanden gekommen war, und eine Vase mit Forsythien in der Mitte des Tisches. Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Helene brachte di...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. I. KAPITEL
  5. II. KAPITEL
  6. III. KAPITEL
  7. IV. KAPITEL
  8. V. KAPITEL
  9. VI. KAPITEL
  10. Impressum