1 Die Flut der Bilder – Wie Bilder über Text triumphieren
In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte es über 80 Zentimeter geschneit. Feinster Pulverschnee war auf die Berghänge des Cowboy Mountain niedergerieselt. Unwiderstehliche Bedingungen für die Skifahrer, die sich an diesem Wochenende in Stevens Pass aufhielten, einem kleinen Skigebiet, etwa 120 Kilometer östlich von Seattle. Der idyllische Skiort liegt mit seinen zehn Liften am 1.781 Meter hohen Cowboy Mountain etwas abseits vom Touristenrummel und ist vor allem bei Einheimischen sehr beliebt. An diesem Wochenende, im Februar 2012, war der Marketingdirektor des Skiresorts, Chris Rudolph, daher überaus erfreut, dass er einige der bekanntesten und besten amerikanischen Skifahrer und Freerider sowie einige Sportjournalisten vor Ort begrüßen durfte. Stevens Pass zeigte sich von seiner besten Seite und es würde herrliche Bilder in den Filmdokumentationen, Reportagen und Fotoblogs geben. Rudolph erhoffte sich von dieser Berichterstattung einen gehörigen Werbeeffekt für die Region. Und jetzt fiel auch noch der perfekte Schnee.
Abbildung 1-1 SnowFall – Pulitzerpreis für die Multimedia-Story der New York Times
»Der Schnee brach durch die Bäume ohne jegliche Vorwarnung. Es gab nur einen zischenden Ton in letzter Sekunde, eine weiße Wand, zwei Stockwerke hoch, und den durch Mark und Bein gehenden Schrei von Chris Rudolph: ›Lawine! Elyse!‹«
So beginnt die Reportage »Snowfall«, mit der Sportreporter John Branch 2013 nicht nur für seinen Auftraggeber New York Times den Pulitzerpreis in der Kategorie »Feature Writing« gewinnen, sondern auch eine weltweite Diskussion um die Bedeutung von Bild und Text im Journalismus entfachen sollte.
16 erfahrene Skifahrer im Alter zwischen 29 und 53 Jahren waren am Sonntag, den 19. Februar 2012, um 11.15 Uhr zum Tunnel Creek aufgebrochen, einer Skiroute abseits der offiziellen Pisten von Stevens Pass auf der rückwärtigen Flanke des Cowboy Mountain. Unter ihnen waren Elyse Saugstad, Skiprofi und vormalige Gewinnerin der Freeride World Tour, John Stifter und Keith Carlsen, Redakteure und Fotografen des Skimagazins Powder, Megan Michelson, Freeski-Expertin der Sportwebsite ESPN.com, und Jim Jack, Turnierleiter und ehemaliger Präsident der International Freeskiers Association. Angeführt wurde die Gruppe von einem Einheimischen, dem bereits erwähnten Marketingdirektor Chris Rudolph, der stolz darauf war, dieser außergewöhnlichen Gruppe von Sportlern und Skiprofis sein Gebiet von einer ganz besonderen Seite zeigen zu können.
Von Anfang an lässt John Branch in seiner Multimedia-Reportage, in der er ein halbes Jahr später die Vorfälle am Tunnel Creek rekonstruiert, keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es sich hier um einen ungewöhnlichen Skiausflug handelt.
Die Katastrophe beginnt mittags: Um 12.02 Uhr geht der erste Anruf in der Notrufzentrale ein, sieben Minuten nachdem die Gruppe eine Lawine am Tunnel Creek ausgelöst hatte. 6.000 Kubikmeter Schnee kommen ins Rutschen, rasen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 Stundenkilometern ins Tal. Auf ihrer Fahrt ins Tal reißt die Lawine weitere 7.000 Kubikmeter Schnee, Geröll und Bäume mit. Nur wenige Minuten später kommt sie mit einem Gewicht von über fünfzig Tonnen 762 Meter tiefer zum Stillstand. Sie kostet drei Menschen das Leben. Unter ihnen ist auch Chris Rudolph.
Abbildung 1-2 John Branch erzählt in sechs Kapiteln die Geschichte eines Lawinenabgangs.
Die New York Times stellt die Story am 20. Dezember 2012 online (http://www.nytimes.com/projects/2012/snow-fall/) und schon in den ersten sechs Tagen wird sie von 2,9 Millionen Lesern über 3,5 Millionen Mal angeklickt. Etwa ein Drittel der Besucher sind ganz neue Nutzer der Website.
Lawinenunglücke sind eigentlich nichts Ungewöhnliches. Seit den 80ern häufen sich die Unglückszahlen aufgrund der Popularität des Skisports und des Booms von Risikosportarten. Heute kommen jährlich weltweit etwa 200 Menschen durch Lawinen ums Leben. Die meisten Unglücksopfer lösen die Lawinen selbst aus, und unter den Opfern befinden sich erstaunlich oft erfahrene Skitourengeher. So tragisch es klingt, aber aus journalistischer Sicht ist eine Reportage über ein Lawinenunglück keine aufsehenerregende Geschichte.
Was also weckte das Interesse so vieler Onlineleser? Warum wurde die Geschichte mit so viel Lob, Ehre und Preisen überschüttet, bis hin zur höchsten Auszeichnung, die die journalistische Branche zu vergeben hat, dem Pulitzerpreis? Und warum glauben Medienexperten, in dieser Story die Zukunft des Journalismus und der Onlinekommunikation zu sehen?
Teil des Erfolges von »Snowfall« ist sicher die akribische Recherche, mit der John Branch die Fakten und Details dieses Skitages im Februar 2012 zusammengetragen hat. Auch die einfühlsame Einbeziehung der Überlebenden des Lawinenunglücks, die in der Story zu Wort kommen, ist gut gelungen. Und schließlich zeigt die klare und bildhafte Sprache, in der die Geschichte verfasst wurde, dass John Branch sein Handwerk als Journalist meisterlich beherrscht.
Doch all dies sind Qualitäten, die auch andere gute Reportagen aufweisen. Was »Snowfall« letztendlich zu einer außergewöhnlichen und zukunftweisenden Onlinegeschichte macht, liegt nicht im Text begründet, sondern in seinem Umgang mit dem Element »Bild«.
Aufwertung der Komponente »Bild«
Branch ist es gelungen, zusammen mit einem Team von Grafikern und Multimediaexperten, die visuellen Elemente der Geschichte in einer Art und Weise mit dem Text zu verflechten, wie man es im Journalismus bisher noch nicht gesehen hatte. Während gewöhnliche Reportagen in der Regel Bilder und visuelle Elemente ergänzend und schmückend einsetzen und gleichsam den Text »bebildern«, erfahren die Bildkomponenten in »Snowfall« eine ganz neue Aufwertung.
Branch und sein Team stellen Bild und Text gleichwertig nebeneinander. Textinformationen werden durch visuelle Informationen ergänzt und umgekehrt. Und sie gehen sogar noch weiter, denn jedem Bildelement, sei es eine Fotostrecke, eine Filmsequenz oder eine Infografik, kommt die Aufgabe zu, den Leser mit zusätzlichen Informationen zu versorgen und somit die Geschichte entscheidend weiterzuerzählen.
Bereits lange vor »Snowfall« experimentierten Onlineredakteure mit der Kombination aus Text und Bild, um die neuen Lese- und Rezeptionsmöglichkeiten, die das Internet bietet, besser auszunutzen. Doch niemandem war bisher eine so gute Symbiose gelungen wie Branch und seinem Team.
Anders als in zahlreichen anderen Digitalprojekten wird der Leser in »Snowfall« nicht von den technischen Möglichkeiten der Onlinekommunikation erschlagen und von der Geschichte abgelenkt. Ganz im Gegenteil: Branchs Multimediareportage fällt durch eine ruhige, unaufgeregte Gestaltung und Leserführung auf, in der die multimedialen Elemente flankierend und harmonisch neben den Text gestellt werden.
Einige Kritiker und Fans der Story interpretieren sogar die Leserführung selbst als Teil der Geschichte, denn das Parallax-Scrolling, also die Art und Weise, auf die man sich als Leser langsam durch den Text abwärts scrollt, kann als Analogie zur Abfahrt der Skigruppe oder der Bewegung der Lawine verstanden werden.
Sechs Kapitel nehmen den Leser in »Snowfall« mit auf eine Fahrt durch die Ereignisse. Einem Skifahrer gleich bewegt man sich im Text von oben nach unten, schwingt links und rechts ein und macht Halt bei einer der Bildstrecken, die einem Fotoalbum ähnlich das Leben der Lawinenopfer im Zeitraffer nachzeichnen. In der Bilderstrecke zu Jim Jack sieht man zum Beispiel ein Foto mit dem 3-jährigen Jim und seinem Vater, Norman Jack, im Schnee auf dem Schlitten. Kindheitserinnerungen, die zeigen, dass die Leidenschaft für Schnee bei Jim Jack schon früh geweckt wurde – eine Leidenschaft, die ihn letztendlich das Leben kostete.
Weiter unten in der Geschichte stoppt man bei kurzen Videosequenzen, in denen Beteiligte und Angehörige zu Wort kommen und die den Leser einfühlsam und mit viel Emotionalität mit den Protagonisten der Story bekanntmachen. Dazu gehört auch das Interview mit der Freeriderin Elyse Saugstad, die zusammen mit Chris Rudolph die ersten Meter gefahren war, bis die Lawine sie erfasst hatte.
Und schließlich gelangt man zu einigen dynamisch animierten Infografiken, die detailreich und anschaulich Fakten und Daten über das ganze Ausmaß der Katastrophe wiedergeben. In unterschiedlichen Farben werden hier die verschiedenen Routen der Skifahrer nachgezeichnet, denn die Gruppe hatte sich während der Tour spontan in Zweier- und Dreierteams aufgeteilt. Während man den Text liest, kann man parallel die unterschiedlichen Routen der Teams nachverfolgen. Oder auch dem unaufhaltsamen Abgang der Lawine zusehen, der mithilfe einer Simulation des Schweizer Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in einer Grafikanimation rekonstruiert wurde.
Erst den visuellen Elementen ist es zu verdanken, dass diese Geschichte ihre volle Kraft entfalten kann.
Und das war neu.
Abbildung 1-3 »Snowfall« – eine tragische Multimediageschichte zeigt die Zukunft des Onlinejournalismus.
Traditioneller Journalismus hatte sich bisher hauptsächlich auf die Kraft der Worte verlassen und die Informationsvermittlung dem Text anvertraut. Erstmals zeigte hier ein renommiertes Traditionshaus wie die New York Times, dass sich die Zeiten geändert hatten und Journalismus und Onlinekommunikation der Zukunft anders »aussehen« würden als bisher.
»All the news that’s fit to print«
Ausgerechnet die renommierte New York Times, die wegen ihres hohen Alters und der bestimmenden Farbe ihrer Textseiten liebevoll »Gray Lady«, also »graue Dame« genannt wird, hatte John Branchs Multimediareportage unterstützt.
161 Jahre vor der Veröffentlichung von »Snowfall«, am 18. September 1851, erschien die erste Ausgabe dieser Zeitung. Henry J. Raymond und George Jones hatten das Blatt mit dem Titel »The New-York Daily Times« als seriöse Alternative zu den damals vorherrschenden reißerischen Boulevardzeitungen gegründet. Doch der hohe Anspruch zahlte sich nicht richtig aus: Jahr um Jahr verlor das Blatt Leser an Joseph Pulitzers »World« oder Randolph Hearsts »Journal«, die den typischen Klatsch und Tratsch der Regenbogenpresse verbreiteten und noch dazu wesentlich günstiger waren als die Times.
John Swinton, von 1860 bis 1870 Redaktionschef, gelangen zwar einige herausragende Storys, doch wurde der Times immer wieder prophezeit, dass es keinen Markt für anspruchsvollen Journalismus gäbe und dass das Geschäftsmodell mit seriösen Nachrichten niemals funktionieren würde.
1886 stand die New-York Daily Times dann tatsächlich fast vor dem finanziellen Ruin. Zum Glück für den Verleger Adolph Ochs, der mit geborgtem Geld die Mehrheit an dem Blatt günstig erwerben konnte und damit den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte legte, die bis heute einmalig in der Medienlandschaft ist.
Ochs, dessen Eltern aus Fürth nach Amerika ausgewandert waren, änderte als erstes den Namen in »The New York Times« und definierte das Leitmotto der Zeitung, das noch heute auf jeder Ausgabe steht: »All the news that’s fit to print« – »Alle Nachrichten, die geeignet sind, gedruckt zu werden«.
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