Partizipation im Wandel
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Partizipation im Wandel

Unsere Demokratie zwischen WĂ€hlen, Mitmachen und Entscheiden

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Partizipation im Wandel

Unsere Demokratie zwischen WĂ€hlen, Mitmachen und Entscheiden

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About this book

Politische Partizipation ist ein zentrales Wesensmerkmal von Demokratien. Neben den traditionellen Partizipationsformen wie der Stimmabgabe bei Wahlen haben neuere Formen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. BĂŒrger nehmen heute ebenso durch dialogorientierte und direktdemokratische Verfahren, wie BĂŒrgerforen oder BĂŒrgerentscheide, direkten Einfluss auf politische Debatten und Entscheidungen. Unsere Demokratie ist damit vielfĂ€ltiger geworden. Doch welche Rollen spielen dialogorientierte und direktdemokratische Verfahren im politischen Alltag genau? Wie passen sie zu den traditionellen Partizipationsformen und wie werden sie von BĂŒrgern und politischen Eliten bewertet? Welche Wirkung haben sie auf unser politisches System? Gemeinsam mit der StaatsrĂ€tin fĂŒr Zivilgesellschaft und BĂŒrgerbeteiligung in Baden-WĂŒrttemberg ist die Bertelsmann Stiftung diesen zentralen Fragen nachgegangen. Die Ergebnisse stĂŒtzen sich auf empirische Daten aus 27 deutschen Kommunen sowie Expertengutachten zu den BundeslĂ€ndern und ausgewĂ€hlten internationalen Fallstudien.

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Partizipation im internationalen Vergleich

Partizipative Verfahren und ihre Wirkung auf politische Systeme

Rolf Frankenberger, Oscar W. Gabriel, Brigitte Geißel, Jonathan R. Rinne

1 Zielsetzung und Vorgehen

Nach der Analyse dialogorientierter und direktdemokratischer Optionen auf kommunaler und regionaler Ebene in Deutschland in den vorigen BeitrĂ€gen weiten wir nun den Blick auf die internationale Ebene. Denn die bisher beschriebenen KrisenphĂ€nomene reprĂ€sentativer Demokratien sowie die Institutionalisierung partizipativer Beteiligungsverfahren sind weltweit in vielen etablierten Demokratien zu beobachten. Welche Beteiligungsverfahren in unterschiedlichen LĂ€ndern zur Revitalisierung von Demokratie eingefĂŒhrten wurden und welche Folgen sie haben, ist Gegenstand zahlreicher Fallstudien. Systematische international vergleichende Untersuchungen zu diesen (Neukombinationen von) Verfahren und deren Auswirkungen existieren jedoch nicht. So konzentriert sich beispielsweise die bisherige Forschung zu direktdemokratischen Verfahren und deren Wirkungen auf die Schweiz und einige US-amerikanische Bundesstaaten.90 Generalisierbare Ergebnisse lassen sich aus diesen Studien kaum ableiten. Die Forschung zu dialogorientierten Verfahren weist sogar noch grĂ¶ĂŸere LĂŒcken auf. Denn wĂ€hrend zu direktdemokratischen Verfahren vielfĂ€ltige Daten zur VerfĂŒgung stehen (vgl. Anhang: Datenlage), fehlen international vergleichbare Daten zu dialogorientieren Verfahren.91
Diese Daten- und Forschungsdesiderate können wir in der vorliegenden Untersuchung zwar nicht schließen, aber unsere Analysen sind erste Versuche, einige LĂŒcken zu fĂŒllen und (zumindest tentative) Antworten zu geben. Im Folgenden wird per internationalem Vergleich erstens ermittelt, wie unterschiedliche LĂ€nder auf demokratische Herausforderungen reagieren, das heißt mit welchen (Neukombinationen von) Beteiligungsverfahren sie experimentieren. Hierzu werden die in der Tradition der QualitĂ€tsmessung stehenden Demokratie-Audits zu ausgewĂ€hlten LĂ€ndern – auch mit Bezug auf die LĂ€nderstudien in diesem Band – miteinander verglichen. Zweitens interessiert uns, ob ZusammenhĂ€nge zwischen Beteiligungsverfahren und »demokratischer QualitĂ€t« existieren. Dabei ĂŒberprĂŒfen wir zunĂ€chst quantitativ, wie direktdemokratische Verfahren und systemische DemokratiequalitĂ€t zusammenwirken. Dann ermitteln wir anhand von Befragungsdaten, ob und wie umfangreiche Beteiligung(-sangebote) mit der »demokratischen QualitĂ€t der BĂŒrger«, also deren Einstellungen und Kompetenzen, korrelieren. Die zentralen Fragen unserer ForschungsbemĂŒhungen lauten:
‱ Mit welchen (neuen) partizipativen Verfahren reagieren Demokratien auf die aktuellen Herausforderungen? Lassen sich Muster von (Neu-)Kombinationen erkennen?
‱ Zeigen sich ZusammenhĂ€nge zwischen dem Ausmaß an direktdemokratischen Optionen und der »QualitĂ€t von Demokratie«?
‱ Zeigen sich ZusammenhĂ€nge zwischen dem Ausmaß an Beteiligung(-soptionen) und der »QualitĂ€t der BĂŒrger«?
‱ Welche SchlĂŒsse können wir aus den Befunden ziehen? Gibt es so etwas wie eine Musterlösung demokratischer Innovation?
Aufgrund der Datenprobleme können wir lediglich im qualitativen Teil der international vergleichenden Kapitel (2) auf dialogorientierte Verfahren eingehen. Im quantitativen Teil konzentrieren wir uns auf direktdemokratische Verfahren (3) sowie auf Daten zum Partizipationsumfang generell (4).

2 Neukombinationen partizipativer Verfahren

Wie wird in den verschiedenen LĂ€ndern mit den aktuellen demokratischen Herausforderungen umgegangen? Lassen sich Muster von (Neu-)Kombinationen erkennen? Generell gesprochen sehen sich alle etablierten Demokratien mit den Herausforderungen des postmaterialistischen Wertewandels der letzten 30 Jahre konfrontiert (zuletzt: Welzel 2014). Ihre BĂŒrgerinnen und BĂŒrger haben im Zuge von Modernisierung, Individualisierung und Bildungsexpansion ein verĂ€ndertes politisches RollenverstĂ€ndnis entwickelt und einen Prozess genereller kognitiver Mobilisierung durchlaufen (Andeweg und Thomassen 2013: 7). Daraus resultieren vor allem zwei Dinge: erstens eine stĂ€rkere Orientierung am individuellen, hĂ€ufig lokal gebundenen, Interesse (Cross 2010: 8) und zweitens eine Erosion klassenbasierter Konfliktlinien und infolgedessen ein Bedeutungsverlust von Parteien und Parlamenten (Petersson et al. 1999; Selle und Østerud 2006: 551).
Mit dieser Verschiebung stehen die politischen Systeme vor der Herausforderung, mit gestiegenen PartizipationsansprĂŒchen umzugehen und Regieren transparenter, responsiver und verantwortlicher zu machen (Beetham et al. 2003; Wilks-Heeg, Blick und Crone 2012; Morlino et al. 2000; Cross 2010; Andersen 2006). Die Möglichkeiten der direkten Mitwirkung und Mitbestimmung sind dabei fĂŒr die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger von zentraler Bedeutung und werden teils vehement eingefordert.92 Neben diesen in vielen LĂ€ndern auftretenden AnsprĂŒchen gibt es eine Reihe von kontextspezifischen Herausforderungen (vgl. Kaiser und Seils 2005; Beetham 1994; Landman 2008; Petersson 2013). Zu nennen sind beispielsweise lĂ€nderspezifische Probleme in Bezug auf die mangelnde Inklusion von einzelnen Bevölkerungsgruppen und Minderheiten (Kanada, USA, Österreich, Niederlande, Brasilien, Skandinavien) sowie der defizitĂ€re Umgang mit sozialer Ungleichheit als wichtigem Selektionsmechanismus fĂŒr Partizipation (USA, Kanada, Brasilien).
Nun könnte man vermuten, dass die LĂ€nder zwar einerseits Ă€hnliche Strategien im Umgang mit den partizipatorischen Herausforderungen ausprobieren, andererseits aber auch lĂ€nderspezifische ZugĂ€nge herausbilden. Die Demokratie-Audits zeigen in der Tat, dass eine Vielfalt unterschiedlicher (Neu-)Kombinationen verschiedener Verfahren praktiziert wird. So finden sich weder ĂŒbergreifende Muster hinsichtlich der Kombination reprĂ€sentativer mit direktdemokratischen Verfahren noch mit dialogorientierten Verfahren. Dabei gibt es eine Reihe von LĂ€ndern, wie etwa Großbritannien, die Niederlande und die skandinavischen LĂ€nder, die weitgehend auf reprĂ€sentative Institutionen setzen und diese in unterschiedlichem Maß mit deliberativen Verfahren komplementieren. Andere LĂ€nder kombinieren sowohl direktdemokratische als auch deliberative Verfahren und rĂ€umen ihnen im institutionellen GesamtgefĂŒge grĂ¶ĂŸeres Gewicht ein. Hierzu zĂ€hlen neben der Schweiz etwa Kanada und Brasilien, aber auch einige US-Bundesstaaten, Neuseeland, Lettland, Slowenien und Uruguay.
Kanada ist ein Beispiel dafĂŒr, wie der Wandel von BeteiligungsprĂ€ferenzen (Cross 2001) mit der EinfĂŒhrung zahlreicher direktdemokratischer und deliberativer Verfahren vor allem auf lokaler und regionaler Ebene einherging. Ähnliches gilt fĂŒr Brasilien, das neben den BĂŒrgerhaushalten die Institution der National Public Policy Councils kennt, in denen die Bevölkerung ĂŒber alle Ebenen des politischen Systems in die Politikformulierung eingebunden wird. Großbritannien wiederum ist ein Beispiel dafĂŒr, dass kaum partizipative Verfahren implementiert wurden.93
In Skandinavien wurde auf die Herausforderungen des Wertewandels vor allem mit einer StĂ€rkung der Kommunikation mit den BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern reagiert. Amts- und MandatstrĂ€ger wurden intensiv in lokale Deliberationsprozesse und Dialoge eingebunden, um die Politik wieder nĂ€her an die Bevölkerung zu bringen und verloren gegangenes Vertrauen und Interesse wieder zu stĂ€rken. Abgesehen von Unterschieden im Detail, unterstreichen Studien zu Schweden, Norwegen und DĂ€nemark die FunktionstĂŒchtigkeit der dortigen reprĂ€sentativ-demokratischen Systeme mit deliberativen ErgĂ€nzungen. Gerade auch fĂŒr die Verwaltungen fĂŒhrte die StĂ€rkung der Kommunikation zu einer grĂ¶ĂŸeren BĂŒrgernĂ€he im Sinne des New Public Management und auch zu mehr Transparenz (vgl. Christiansen und Togeby 2006: 18; Strandberg 2006: 543). Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Erfolg dĂŒrfte zumindest in Schweden und Norwegen auch die StĂ€rkung partizipativer Elemente auf der lokalen Ebene (Initiativrechte) geleistet haben.
Die Erfahrungen in den Niederlanden verdeutlichen, dass die Suche nach adĂ€quaten Beteiligungsverfahren fĂŒr ein Land ein lĂ€ngerer Prozess sein kann. Ein von 2000 bis 2005 verankertes umfassendes Volksreferendumsrecht wurde wieder abgeschafft. Seither hat das Parlament das Gesetzinitiativrecht, wenngleich die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger unter bestimmten Bedingungen und in ausgewĂ€hlten Politikfeldern aktiv werden können.94 Im April 2014 wurde allerdings mit einem Veto-Referendum wieder die Möglichkeit der direkten Mitsprache durch die Bevölkerung gegeben.95 Ebenso wurde der Transparenz des politischen Systems ein zentraler Stellenwert eingerĂ€umt, was umfassende digitale und analoge Informations- und Bewertungsmöglichkeiten von Gesetzesvorhaben bezeugen (Ministry of the Interior and Kingdom Relations 2006) und wodurch eine stĂ€rkere deliberative Einbindung der BĂŒrger erreicht werden soll.
Ein Vergleich der LÀnder zeigt, dass es keine Musterlösungen demokratischer Innovation gibt. So existieren in den einzelnen LÀndern unterschiedliche Neukombinationen demokratischer Verfahren.
Die VielfĂ€ltigkeit demokratischer Innovation illustrieren auch die vertiefenden Fallstudien zu Brasilien, Kanada, zur Schweiz und zu Österreich (vgl. die folgenden BeitrĂ€ge in diesem Band), die alle jeweils Besonderheiten der LĂ€nder hervorheben. So betont Thamy Pogrebinschi die positiven Wirkungen der National Public Policy Conferences (NPPC) als mehrebenenstrukturierte dialogorientierte Verfahren. Dies seien insbesondere die bessere Inklusion von Minderheiten und deren Interessen, die höhere ResponsivitĂ€t des politischen Systems, die sich in der hohen Kongruenz zwischen in den NPPC entwickelten Positionen und tatsĂ€chlichen Gesetzen zeige, sowie bessere Deliberation im Parlament. FĂŒr Kanada betont David Laycock die VielfĂ€ltigkeit der Neukombinationen vor allem auf subnationaler und lokaler Ebene. So gibt es neben dem nationalen Verfassungsreferendum und kanadaweiten Deliberationsprozessen auf Provinz- und Gemeindeebene eine Vielzahl von direktdemokratischen und dialogorientierten Verfahren in unterschiedlichen Politikbereichen.
In seinem Beitrag zur Schweiz bilanziert Adrian Vatter die Auswirkungen direkter Demokratie. Aufgrund der umfangreichen Daten und der HĂ€ufigkeit des Einsatzes direktdemokratischer Verfahren in der Schweiz kann er einerseits Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen mit unterschiedlichen Kombinationen aufzeigen; andererseits dokumentiert er eine Reihe von Auswirkungen wie höhere Demokratiezufriedenheit und Informiertheit der BĂŒrger bei sinkender Wahlbeteiligung, solidere Policy-Ergebnisse etwa in der Finanzpolitik und die breite Einbindung von Interessen in den Gesetzgebungsprozess. Sieglinde Rosenberger und Jeremias Stadlmair konstatieren fĂŒr Österreich eine Erweiterung des Beteiligungsrepertoires und einen nachhaltigen Einfluss von BĂŒrgerbeteiligung zumindest im Politikfeld Umwelt. Auch betonen sie, dass direkte Beteiligungsformen die starke Konsensorientierung in der Politik zumindest partiell aufbrechen.
In zusammenfassender Betrachtung der Audits und Fallstudien ergibt sich das Bild, dass demokratische Innovation sich zwar vor dem Hintergrund oft ganz Ă€hnlicher Herausforderungen, jedoch in spezifischen Kontexten und unter ganz unterschiedlichen rechtlichen, kulturellen und politischen Bedingungen vollzieht, und diese Kontexte fĂŒr die spezifische Ausgestaltung der Neukombinationen wichtiger erscheinen als die Ă€hnlich gelagerten Herausforderungen.
In Bezug auf die Wirkung von BĂŒrgerbeteiligung lassen sich die Befunde der Audits dahingehend interpretieren, dass das grĂŒndlichere und breitere AbwĂ€gen und Austauschen von Informationen bei partizipativen Verfahren fĂŒr mehr Zufriedenheit mit den Politikergebnissen fĂŒhrt – im Sinne von Akzeptanz der Verfahren ebenso wie der möglichst breiten Einbindung der Bevölkerung.

3 Partizipative Verfahren und systemische QualitÀt der Demokratie

Welche ZusammenhÀnge von direktdemokratischen Verfahren und DemokratiequalitÀt lassen sich nun nachweisen? Gibt es in LÀndern mit ausgeprÀgter Direktdemokratie eine höhere (oder geringere) QualitÀt und Leistung von Demokratie? Diesen Leitfragen widmen wir uns sekundÀranalytisch aus einer international vergleichenden Perspektive anhand eines Samples von 32 ausgewÀhlten Demokratien.96 Wir untersuchen, welche ZusammenhÀnge zwischen der Institutionalisierung sowie Nutzung von direktdemokratischen Instrumente...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Partizipation auf kommunaler Ebene
  7. Partizipation in deutschen BundeslÀndern
  8. Partizipation im internationalen Vergleich
  9. Dank
  10. Die Autorinnen und Autoren
  11. Abstract