1 Einleitung
Eckart Severing
Die vorliegende Studie ist im Rahmen des Projekts »Weiterbildung fĂŒr alle« der Bertelsmann Stiftung entstanden. Dieses Projekt will VorschlĂ€ge fĂŒr ein Bildungssystem machen, das auch fĂŒr Menschen mit niedriger formaler Qualifikation zugĂ€nglich ist. Das ist heute nicht der Fall: Die berufliche Weiterbildung in Deutschland vergröĂert die Bildungshierarchien in der Gesellschaft, statt sie auszugleichen. Es geht darum, bestehende Weiterbildungsbarrieren â mangelnde Beratung, geringe Lernanreize und eine fehlende Anerkennung informell und nonformal erworbener Kompetenzen â abzubauen. Es mangelt an Informationen zu Weiterbildungsangeboten; das zersplitterte Beratungsangebot sowie der unĂŒbersichtliche Weiterbildungsmarkt sind fĂŒr groĂe Teile der formal Geringqualifizierten nicht zugĂ€nglich. ZusĂ€tzlich fehlen dieser Personengruppe oft das Selbstvertrauen und die nötige Lernmotivation â viele von ihnen haben hĂ€ufig negative Erfahrungen im Schulsystem gesammelt und lehnen schulische Lernangebote ab.
Es ist nicht so, dass formal Geringqualifizierte kein berufliches Wissen erwerben oder erworben haben. Im Gegenteil sind sie besonders darauf angewiesen, die Lerngelegenheiten zu nutzen, die ihnen auĂerhalb der Bildungseinrichtungen en passant â bei ArbeitstĂ€tigkeiten, im Austausch mit Kollegen, in der Freizeit â geboten werden. Jedoch fehlt es in Deutschland an Möglichkeiten, dieses informell erworbene Wissen auch verwertbar zu machen. Es wird am aktuellen Arbeitsplatz genutzt, wird aber in der Regel nicht dokumentiert oder gar zertifiziert, sodass es nicht nachhaltig nutzbar ist. Das formale Bildungssystem schafft zusĂ€tzliche HĂŒrden â nicht nur fĂŒr formal Geringqualifizierte â, weil es informell und nonformal erworbene Kompetenzen als Zugangsvoraussetzung selten anerkennt. Die aus Sicht der Bildungsinstitutionen »extern« erworbenen Kompetenzen haben in der Folge keinerlei Relevanz im Hinblick auf den Zugang zu und die DurchlĂ€ssigkeit im formalen (Aus-)Bildungssystem und eröffnen daher keine Perspektiven fĂŒr die formale Höherqualifizierung formal Geringqualifizierter und eine nachhaltige Verbesserung ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Das ist in einigen anderen Staaten Europas â teilweise mit einem weniger ausgeprĂ€gten beruflichen institutionalisierten Bildungswesen â anders: Hier haben sich Verfahren etabliert, die es ermöglichen, auch fĂŒr informell erworbene Kenntnisse und Kompetenzen Nachweise zu erhalten, die im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt etwas gelten.
Auch wenn die deutsche duale Berufsausbildung seit einiger Zeit auf lebhafte Nachfrage von Bildungspolitikern aus dem Ausland stöĂt: An diesem Punkt kann Deutschland möglicherweise etwas von den Verfahren und Instrumenten ĂŒbernehmen, die sich in anderen Staaten bewĂ€hrt haben. Die PrĂŒfung dieser Frage steht im Fokus der vorliegenden Studie. Dem Transfer von guten Konzepten aus Bildungssystemen anderer LĂ€nder ist jedoch allein durch ihre Beschreibung nicht der Weg bereitet. Zu sehr hĂ€ngen ihre Akzeptanz und ihre Wirksamkeit vom Kontext ab: den besonderen Rahmenbedingungen, die im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt der jeweiligen LĂ€nder gelten. Daher bedarf es einer sorgfĂ€ltigen Anpassung von in anderen Staaten wirksamen Instrumenten der Anerkennung informell erworbenen beruflichen Wissens an die Voraussetzungen in Deutschland. Dazu will diese Studie Hinweise geben.
Wie ist die Studie aufgebaut?
âą In einer kurzen EinfĂŒhrung wird skizziert, was unter informellem Lernen zu verstehen ist, warum seine Bedeutung zunimmt und wie es um das informelle Lernen von formal Geringqualifizierten steht.
âą In Kapitel 3 wird ein Kriterienraster entworfen, das die verschiedenen konstitutiven Dimensionen der Anerkennung von informellem Lernen verdeutlicht: Es geht um die gesetzliche Verankerung von Anerkennungsregelungen, um die fĂŒr die Anerkennung etablierten Verfahren und Instrumente, um Finanzierungsstrukturen, um akkreditierende und zertifizierende Institutionen und darum, ob Interessenten an einer Anerkennung UnterstĂŒtzung angeboten wird, zum Beispiel durch Beratung.
âą In einem umfangreicheren Kapitel 4 wird der Status quo fĂŒr Deutschland beschrieben: Mit welchen Verfahren können hierzulande bisher Menschen mit niedriger formal ausgewiesener Qualifikation informell erworbene Kenntnisse und Kompetenzen verwertbar machen?
âą Es folgen Berichte darĂŒber, wie in anderen LĂ€ndern hinsichtlich der Anerkennung von informell und nonformal erworbenen Kompetenzen vorgegangen wird. Dabei haben wir sieben weitere LĂ€nder ausgewĂ€hlt (DĂ€nemark, Finnland, Frankreich, die Niederlande, Norwegen, Ăsterreich und das Vereinigte Königreich), die nach unserer EinschĂ€tzung bereits Erfolge bei der Anerkennung des informellen Lernens von formal Geringqualifizierten erzielt haben. Zudem wird Bezug genommen auf die im Rahmen des »European Inventory on validation of nonformal and informal learning 2014« verfasste LĂ€nderstudie aus der Schweiz: Welche Systeme der Anerkennung haben sich dort etabliert, wie werden sie genutzt und wie werden sie in der jeweiligen nationalen Diskussion bewertet?
âą Das abschlieĂende Kapitel 6 beurteilt auf Basis der Kernelemente und GĂŒtekriterien, was fĂŒr Deutschland ĂŒbertragenswert erscheint, was ĂŒbertragbar sein könnte und welche Akteure dafĂŒr welche Voraussetzungen schaffen mĂŒssten.
Die vorliegende Studie steht in einer Reihe von vorangegangenen Arbeiten von Wissenschaftlern und Bildungsverantwortlichen zur Anerkennung des informellen beruflichen Lernens. Gerade wegen des auffĂ€llig geringen Grades der praktischen Umsetzung von Anerkennungsverfahren in Deutschland sind viele Schriften erschienen, die auf diesen Mangel aufmerksam machen und teilweise auch konkrete Schritte zur Etablierung wirksamer Anerkennungsverfahren beschreiben. Unsere Studie ergĂ€nzt diese Arbeiten, hat aber einen besonderen Schwerpunkt: Es geht nicht um die Anerkennung des informellen Lernens der bereits gut Gebildeten, sondern ausdrĂŒcklich um die Frage, wie diejenigen, die bisher keine geregelten beruflichen AbschlĂŒsse erwerben konnten, von neuen Anerkennungsverfahren profitieren könnten.
2 Grundlagen der Anerkennung des informellen Lernens
Eckart Severing
2.1 Die wachsende Bedeutung des informellen beruflichen Lernens
Unter »beruflichem Lernen« verstehen die meisten Menschen ihre berufliche Ausbildung, sei es in einem geregelten Ausbildungsberuf, an einer Hochschule oder einer anderen Bildungseinrichtung, und in zweiter Linie noch ihre Weiterbildung in Kursen und Seminaren. Damit blenden sie bedeutende weitere Wege aus, auf denen sie ihre beruflichen Kenntnisse und Kompetenzen erweitern. Das ist nicht verwunderlich, denn diese Wege sind nicht so offenkundig, institutionell fixiert, gesellschaftlich respektiert, dokumentiert und zertifiziert wie das Lernen in Bildungseinrichtungen. Seit den 1960er-Jahren befasst sich die Berufsbildungsforschung â zunĂ€chst in den USA, spĂ€ter auch in Deutschland â mit dem »informellen Lernen«, einer Art des Lernens also, die nicht im Unterricht und Seminar, sondern gleichsam beilĂ€ufig geschieht. Ergebnisse dieser Forschung zeigen, dass bereits wenige Jahre nach der Erstausbildung der ĂŒberwiegende Teil des beruflich relevanten Wissens und der Kompetenzen aus Lernen am Arbeitsplatz, im Austausch mit Kollegen und Experten, in der Freizeit und durch die Nutzung von nicht pĂ€dagogischen Medien geschieht.
Lernen findet in einer Wissensgesellschaft eben nicht nur in KindergĂ€rten, Schulen und UniversitĂ€ten statt. Mit dem Wort von der »Entgrenzung des PĂ€dagogischen« (Kade 1997) ist gemeint, dass die Reproduktion komplexer Gesellschaften auf der dynamischen UmwĂ€lzung und Erweiterung von Wissen beruht und damit auf Mechanismen der Genese und Aneignung von Wissen, die alle gesellschaftlichen Institutionen durchziehen und die nicht mehr auf Bildungseinrichtungen oder auf das erste Lebensdrittel der Gesellschaftsmitglieder begrenzt bleiben. Das Ideal der beruflichen Erstausbildung, möglichst viel von dem Wissen und den Kompetenzen, die im Lebensberuf benötigt werden, vor dem Berufseinstieg zu vermitteln, entstammt noch einer bildungspolitischen Vorstellung der Facharbeitsgesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre; es ist in dem MaĂe obsolet, in dem das berufliche Wissen in schnellen Zyklen umschlĂ€gt.
Informelles Lernen gilt daher inzwischen nicht mehr als zweitrangige Form des beruflichen Lernens, sondern als ebenso wichtig und notwendig wie die formale (abschlussbezogene) und in dieser Studie darunter subsumierte nonformale (organisierte, aber nicht abschlussbezogene) Bildung (zur begrifflichen Differenzierung vgl. Dohmen 2001; Overwien 2005; Livingstone 2006; Zusammenfassungen: Schmidt-Hertha 2011: 233; Annen 2012: 63). Das formale Lernen ist auf die Vermittlung festgelegter Lerninhalte und Lernziele gerichtet, informelles Lernen zeichnet sich hingegen durch seine Offenheit aus. Es wird in der Regel ohne pÀdagogische Vorstrukturierung gelernt (Dehnbostel 2014; Knowles 1975: 18). Der Lernimpuls entsteht oft aus praktischen Anforderungen und das Lernen findet bei der BewÀltigung dieser Anforderungen statt (Dohmen 2001).
Die Potenziale informeller Lernkontexte sind mehrfach durch Teilnehmerstudien belegt worden. So resĂŒmiert die NALL-Erhebung (eine Erhebung des kanadischen Forschungsnetzwerks New Approaches to Lifelong Learning, die 1998 mit 1.562 Befragten durchgefĂŒhrt wurde), »dass die Erwachsenenbildung einem Eisberg gleicht â weitgehend den Blicken entzogen, aber in ihren verborgenen informellen Aspekten von gewaltigen AusmaĂen« (Livingstone 1999: 77). Insbesondere in der Weiterbildung liegt die Reichweite der informellen Weiterbildung deutlich höher als die Weiterbildungsbeteiligung an LehrgĂ€ngen und Seminaren (Kuwan et al. 2000; Schmidt-Hertha 2011). Die quantitative Bedeutung des informellen Lernens in Betrieben wird oft unterschĂ€tzt: GemÀà einer reprĂ€sentativen Studie zum Weiterbildungsbewusstsein der deutschen Bevölkerung im erwerbsfĂ€higen Alter geben nur 14 Prozent der Befragten formalisiertes Lernen als wichtigsten Lernkontext an, fĂŒr 87 Prozent waren andere Lernkontexte, vor allem das »arbeitsbegleitende Lernen« (58 %) wichtiger (Baethge und Baethge-Kinsky 2004: 43). Im Weiterbildungsgeschehen in Deutschland ist die betriebliche Weiterbildung mit 69 Prozent aller WeiterbildungsaktivitĂ€ten (TeilnahmefĂ€lle) der gröĂte und inzwischen wieder wachsende Bereich (individuelle berufsbezogene Weiterbildung: 13 %, nicht berufsbezogene Weiterbildung: 18 %; Erhebungszeitraum 2012) (BMBF 2013: 17).
Wenn in neuerer Zeit nicht nur Bildungsforscher, sondern auch Bildungspolitiker und Bildungsverantwortliche in Unternehmen und Bildungseinrichtungen das informelle berufliche Lernen fĂŒr ein zentrales Thema halten, dann hat das mehrere GrĂŒnde:
âą FĂŒr Unternehmen gilt: Weil das berufliche Wissen nicht mehr nur in GenerationsabstĂ€nden umschlĂ€gt, ist es zu einer Notwendigkeit geworden, die berufliche Erstausbildung eher auf die Vermittlung langfristig nutzbarer grundlegender Kompetenzen zu konzentrieren und im Gegenzug das »Lernen im gesamten Berufsverlauf« auszuweiten. Diese Notwendigkeit stellt sich naturgemÀà in stationĂ€ren Berufen â einigen Abteilungen des Handwerks und der einfachen Dienstleistung â weniger als in Berufen mit hohem Innovationstempo und in einfachen TĂ€tigkeiten weniger als bei komplexer Wissensarbeit. Der Wandel von einer Produktions- zu einer Dienstleistungsgesellschaft fĂŒhrt zu einer zunehmenden Zahl von Unternehmen, deren Erfolg auf der produktiven Nutzung von Wissensarbeit beruht. Diese Unternehmen können sich nicht auf die externe Bereitstellung von Qualifikationen und Kompetenzen in den Einrichtungen des Bildungswesens verlassen, die sie sich ĂŒber die Einstellung von dessen Absolventen zugĂ€nglich machen. Sie sind auf WissensvorsprĂŒnge ihrer Experten und damit auf eine kontinuierliche Erweiterung der WissensbestĂ€nde im Unternehmen angewiesen (Nonaka und Takeuchi 1997; Pawlowski 1998). In der betrieblichen Bildung ĂŒberwiegt inzwischen das informelle Lernen gegenĂŒber dem formalen: 78,5 Prozent der Unternehmen setzen auf Lernen am Arbeitsplatz, Informationsveranstaltungen und mediengestĂŒtztes Lernen, 76,3 Prozent finanzieren eigene oder externe Kurse und Seminare (Lenske und Werner 2009).
âą Die Bildungspolitik in Deutschland sieht sich durch einen segmentierten Arbeitsmarkt herausgefordert. Es fehlen FachkrĂ€fte â und zugleich bleibt die Arbeitslosigkeit der beruflich Geringqualifizierten hoch. Die nachtrĂ€gliche Vermittlung von beruflichen AbschlĂŒssen fĂŒr Erwachsene ist ein Mittel, dieser Segmentierung entgegenzutreten. Die geringen Quoten erfolgreicher »Nachqualifizierung« bis hin zum Berufsabschluss zeigen aber, dass mit solcher formaler Weiterbildung viele An- und Ungelernte nicht erreicht werden. Die Bildungspolitik muss Antworten darauf finden, dass sich das FachkrĂ€ftepotenzial in Deutschland in Zukunft nicht weit ĂŒberwiegend aus einheimischen Schulabsolventen rekrutieren wird, sondern auch aus einer heterogenen Mischung von Menschen ohne formale Schul- oder BerufsabschlĂŒsse, mit schwer einschĂ€tzbaren auslĂ€ndischen AbschlĂŒssen oder mit AbschlĂŒssen, die vor vielen Jahren in anderen als den ausgeĂŒbten Berufen erworben wurden. Solche atypischen BildungsverlĂ€ufe sind mit den bestehenden Zertifikatssystemen nicht abzubilden. Diesen Gruppen mĂŒssen ZugĂ€nge im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt geöffnet werden, damit ihr Arbeitsmarktrisiko verringert werden kann und demographisch bedingten FachkrĂ€fteengpĂ€ssen entgegengetreten werden kann. Eine bildungspolitische Devise ist daher, das Lernen im gesamten Berufsverlauf auszuweiten und aufzuwerten. Im Koalitionsvertrag der aktuellen 18. Legislaturperiode sind unter der Ăberschrift »Kompetenzen anerkennen« Initiativen vereinbart worden, mit denen nicht durch Zertifikate belegte Kompetenzen sichtbar gemacht werden sollen (Koalitionsvertrag 2013). Das hat dazu gefĂŒhrt, dass sich auch die Akteure der formalen Bildungssysteme, fĂŒr die das zuvor nur ein marginales Thema gewesen war, in bildungspolitischen Gremien mit Strategien der Validierung befassen.
âą Diese Herausforderung besteht nicht nur in Deutschland. Mit Beschluss des Rates der EuropĂ€ischen Union vom 20. Dezember 2012 (Rat der EuropĂ€ischen Union 2012) sind alle Mitgliedstaaten der EuropĂ€ischen Union aufgefordert, bis 2018 Möglichkeiten der Zertifizierung fĂŒr informell erworbene Kompetenzen zu schaffen. Der Beschluss empfiehlt den Mitgliedstaaten, Regelungen zu schaffen, die es dem Einzelnen möglich machen, seine informell oder nonformal erzielten Lernergebnisse validieren zu lassen und auf dieser Grundlage eine volle oder partielle Berufsqualifikation zu erhalten. Unter Validierung werden Verfahren verstanden, bei denen »eine zugelassene Stelle bestĂ€tigt, dass eine Person die anhand eines relevanten Standards gemessenen Lernergebnisse erzielt hat« (ebd.: 5). Der EuropĂ€ische Rat hebt in seiner Empfehlung die Steigerung der BeschĂ€ftigungsfĂ€higkeit fĂŒr sozial Benachteiligte und An- und Ungelernte hervor. FĂŒr die erfolgreiche Etablierung eines Systems der Anerkennung informellen Lernens in den einzelnen Mitgliedstaaten wirken BeschlĂŒsse des EuropĂ€ischen Rates allerdings nur als Initiatoren. Die Um...