1 Einleitung
»Sozialunternehmer«, »Social Entrepreneurship«, »hybride Organisation«, »neues BĂŒrgerengagement« â das sind Begriffe, die wir in diesen Tagen mehr denn je in der Presse, in der Politik und in der Wissenschaft vernehmen. Eine neue Form von Unternehmertum bahnt sich den Weg. Unternehmer setzen soziale PrioritĂ€ten, ohne altbekannte unternehmerische Prinzipien, Erfahrungen und Wahrheiten auszuklammern, sondern im Gegenteil, indem sie sich diese zunutze machen und ihnen einen neuen Rahmen verleihen.
Alle sozialen Unternehmungen vereint das Bestreben, durch neuartige Lösungen fĂŒr altbekannte Probleme soziale Wirkungen zu generieren und bestehende Strukturen und Prozesse zu verbessern. Letzteres ist allerdings nur dann möglich, wenn jeweils eine »kritische Masse«, also eine bestimmte Anzahl an BedĂŒrftigen/Betroffenen, durch diese neuartige Lösung auch tatsĂ€chlich erreicht wird. Dazu bedarf es zunĂ€chst einer entsprechenden Verbreitung der neuen Idee, ein Vorhaben, das sich je nach KomplexitĂ€t und Zielgruppe fĂŒr jedes Sozialunternehmen unterschiedlich schwierig darstellt â kann doch eine Verbreitung der jeweiligen sozialen AktivitĂ€ten nicht zuletzt mit Anpassungserfordernissen an unterschiedliche Verordnungen von Stadtverwaltungen, Gesetzgebungen der BundeslĂ€nder, WĂŒnsche von Industriepartnern oder Auflagen von Stiftungen einhergehen.
Die Idee zu diesem Buch entstand aus der Beobachtung, dass zahlreiche Sozialunternehmen zwar den Wunsch haben (oder den Druck verspĂŒren), ihre Innovation zu verbreiten bzw. zu skalieren, jedoch hĂ€ufig nicht sicher sind, wie sie diesen Prozess erfolgreich gestalten, oder sogar bereits einen weniger erfolgreichen Versuch hinter sich haben.
An dieser Stelle sollten wir klĂ€ren, was wir meinen, wenn wir hier ĂŒber Verbreitung und Skalierung sprechen: Skalierung bedeutet fĂŒr uns sehr grundsĂ€tzlich, die soziale Wirkung, die ein Sozialunternehmen auf Basis seines operativen Modells generiert, möglichst effektiv und effizient zu steigern, um auf diese Weise der Nachfrage nach diesem Produkt oder dieser Dienstleistung gerecht zu werden. Hervorzuheben ist, dass bei diesem VerstĂ€ndnis die Steigerung der sozialen Wirkung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, nicht notwendigerweise das proportionale Wachstum des Sozialunternehmens selbst. Mit anderen Worten: Es ist durchaus denkbar und möglich, die neuartige Idee eines Sozialunternehmens durch Mechanismen zu skalieren, die anderen GesetzmĂ€Ăigkeiten folgen, als dies bei kommerziell ausgerichteten Unternehmen der Fall ist.
Das vorliegende Buch entspringt dem Wunsch, Sozialunternehmen in ihrem BemĂŒhen um die Wahl der richtigen Verbreitungs- bzw. Skalierungsstrategie mithilfe wissenschaftlich fundierter Kenntnisse â speziell im deutschsprachigen Social-Entrepreneurship-Markt erhoben â zu unterstĂŒtzen. Entlang empirisch generierter Erfolgsfaktoren soll es ihnen eine Reflexionshilfe in Form eines Leitfadens an die Hand geben: Mit seiner Hilfe werden kritische Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung Schritt fĂŒr Schritt die Wahl der geeigneten Verbreitungsstrategie erkennbar werden lĂ€sst. Ziel ist also,
⹠dass jeder Sozialunternehmer1 mithilfe dieses Buchs und der angesprochenen Erfolgsfaktoren zunÀchst mit den richtigen Fragen konfrontiert wird, die es in einem erfolgreichen Skalierungsprozess unbedingt zu bedenken gilt,
⹠und sich diese in einem zweiten Schritt ehrlich und aufrichtig beantwortet, um dann seinen eigenen Weg der Verbreitung zu erkennen und die Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Umsetzung entsprechend zu erhöhen.
Das Ziel ist allerdings auch, Sozialunternehmen die möglichen Grenzen oder Stolpersteine ihrer ganz eigenen SkalierungsbemĂŒhungen frĂŒhzeitig aufzuzeigen und AnsĂ€tze fĂŒr deren Lösung zu skizzieren. Diese Lösung kann â nach entsprechender PrĂŒfung individueller und organisationsbedingter Charakteristika â unter UmstĂ€nden auch in der Erkenntnis bestehen, dass ein Sozialunternehmen aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften oder WĂŒnsche besser beraten ist, (zunĂ€chst) nicht zu skalieren, sondern sich auf die erfolgreiche Fortsetzung seines aktuellen Tuns zu konzentrieren.
Textbox 1: Sozialunternehmen
Als Sozialunternehmen werden Organisationen bezeichnet, die ein bestimmtes soziales Problem identifiziert haben und mit innovativen, marktorientierten AnsĂ€tzen die Lösung dieses sozialen Missstandes verfolgen. Diese Organisationen messen sozialen Zielen eine höhere PrioritĂ€t bei als finanziellen. Das zugrunde liegende operative Modell sollte robust und somit finanziell nachhaltig aufgestellt sein, um die soziale Mission langfristig zu realisieren. Der GrĂŒnder eines solchen Unternehmens wird als Sozialunternehmer bezeichnet.
Der Aufbau des Handbuchs gestaltet sich wie folgt: Bevor wir uns den unterschiedlichen SkalierungsansĂ€tzen, also dem »wie« der Skalierung widmen, wollen wir zunĂ€chst die Frage nach dem »ob ĂŒberhaupt« klĂ€ren. Ist fĂŒr Sie die Skalierung Ihres Sozialunternehmens ĂŒberhaupt der strategisch sinnvolle nĂ€chste Schritt? Das Kapitel 2 Skalierung â ja oder nein? soll Ihnen in dieser zentralen Frage zu mehr Klarheit verhelfen. Soweit Sie zu dem Schluss kommen, dass Skalierung sinnvoll fĂŒr Ihr Sozialunternehmen ist, finden Sie am Ende des Kapitels eine Entscheidungshilfe, um die fĂŒr Ihr Sozialunternehmen passende Skalierungsstrategie abzuleiten. Das folgende Kapitel 3 Skalierungsstrategien skizziert sodann im Abschnitt 3.1 Methodik und Vorgehensweise das methodische Vorgehen unserer auf 24 Sozialunternehmen basierenden wissenschaftlichen Studie.2 Zudem erfolgt hier die empirische Herleitung der Erfolgsfaktoren, die anschlieĂend in den Abschnitten 3.2 bis 3.5 erörtert werden. Je nachdem, welchen Strategietyp Sie am Ende des zweiten Kapitels als adĂ€quat fĂŒr Ihr Sozialunternehmen erachten, können Sie direkt bei dem entsprechenden Strategietyp Ihrer Wahl weiterlesen. PrĂ€ferieren Sie beispielsweise nach dem Lesen des zweiten Kapitels den Strategietyp »Wissensdiffusion« fĂŒr Ihr Sozialunternehmen, können Sie direkt in den Abschnitt 3.5 Wissensdiffusion springen. Innerhalb jedes Strategietyps erörtern wir anschlieĂend Best Practices und WiderstĂ€nde, die von Sozialunternehmern des entsprechenden Strategietyps berichtet wurden. Im Abschnitt 3.6 Parallele Strategien wird auf Erfahrungen von Sozialunternehmern eingegangen, die mehrere Strategien gleichzeitig verfolgt haben. Das Kapitel 4 Fazit fasst die wesentlichen Erkenntnisse des Handbuchs zusammen (Abbildung 1).
Abbildung 1: Struktur und Aufbau des Handbuchs
2 Skalierung â ja oder nein?
In diesem Kapitel fĂŒhren wir Sie durch die acht wesentlichen Fragen, die Sie sich stellen sollten, wenn Sie ĂŒber die Skalierung der Wirkung Ihrer sozialen Organisation nachdenken. Ihre Antworten können Sie in die nachfolgend aufgefĂŒhrte Tabelle (Tabelle 1) eintragen, um sich im »Quick-Check« einen Ăberblick ĂŒber die Erfolgswahrscheinlichkeit Ihrer SkalierungsbemĂŒhungen sowie ĂŒber Ihre weiteren Handlungsoptionen zu verschaffen. DafĂŒr haben wir bei den ersten sechs Fragen drei Kategorien (»Ja, auf jeden Fall«, »Nein, ist aber möglich und/oder geplant«, »Nein, keinesfalls«) gebildet, mit deren Hilfe Sie die jeweils abschlieĂende Frage eines Abschnitts beantworten können. Sollten Sie alle oder die ĂŒberwiegende Anzahl dieser zentralen Fragen mit Nein beantworten (mĂŒssen), wird eine Skalierung Ihrer sozialen AktivitĂ€ten zum aktuellen Zeitpunkt vermutlich schwierig bzw. unmöglich sein (negative Selektion). Dies bedeutet jedoch nicht, dass Sie nicht zu einem spĂ€teren Zeitpunkt erneut in diese Ăberlegungen einsteigen können. Fest steht: Skalierung ist nicht immer sinnvoll bzw. möglich. Fest steht ebenfalls: Eine Skalierung um jeden Preis wird nicht erfolgreich enden.
Die beiden letzten Fragen adressieren zusĂ€tzlich eine erste mögliche Ausrichtung der Skalierungsstrategie. Diese Fragen sind fĂŒr Sie nur dann relevant, wenn Sie in den ersten sechs Fragen grĂŒnes Licht erkennen.
Tabelle 1: »Quick-Check« zu relevanten Skalierungsvoraussetzungen
Voraussetzung: TragfÀhigkeit des operativen Modells
Als grundlegende Voraussetzung einer jeden Skalierung bedarf es eines tragfĂ€higen operativen Modells des Sozialunternehmens. Das operative Modell entspricht dem, was bei einem kommerziellen Unternehmen das Business-Modell wĂ€re. Es beschreibt zum einen die konkreten sozialen AktivitĂ€ten, den konkreten Lösungsansatz fĂŒr einen identifizierten sozialen Missstand bzw. Bedarf; und zum anderen erklĂ€rt es, wie diese AktivitĂ€ten finanziert werden. »TragfĂ€hig« bedeutet hierbei, dass sich die Lösung fĂŒr den sozialen Missstand mit Blick auf die erreichte soziale Wirkung bewĂ€hrt hat und dass diesem Ansatz ein Finanzierungsmodell zu Grunde liegt, welches nachhaltig ist. »Nachhaltig« ist hier zu verstehen im Sinne von »dauerhaft«. Es bedeutet nicht zwangslĂ€ufig, dass sich das Sozialunternehmen aus eigenem Einkommen finanziert. Nachhaltigkeit bedeutet aber in jedem Fall, dass man nicht von der Hand in den Mund lebt, sondern dass das Sozialunternehmen eine Finanzierungsform gefunden hat, die ihm die Sicherheit notwendiger Zahlungen kurz- und mittelfristig ermöglicht/garantiert. Diese Finanzierungsform kann dabei MitgliederbeitrĂ€ge, Erlöse aus dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen, aber auch Stipendien, Stiftungs- oder Fördergelder bzw. öffentliche Gelder beinhalten.
Welches operative Modell auch immer Sie wĂ€hlen, es muss bewiesen haben, dass es funktioniert, und es muss â um wettbewerbsfĂ€hig zu sein â bereits im Markt vorhandenen Modellen ĂŒberlegen sein. Zusammenfassend lautet die zentrale Frage: Habe ich fĂŒr mein Sozialunternehmen ein operatives Modell gefunden, welches sich hinsichtlich seiner sozialen Wirkung kontinuierlich als wettbewerbsfĂ€hig bewĂ€hrt hat und welches nachhaltig ist?
Erfolgsfaktor 1: Ăberzeugung und Bereitschaft
UnabhĂ€ngig von der Wahl der eigentlichen Skalierungsstrategie ist zunĂ€chst das Timing der Skalierung relevant. Sie sollten so frĂŒh wie möglich ĂŒber das »wann« und das »wie schnell« Ihrer BemĂŒhungen Klarheit gewinnen, um den eigentlichen Skalierungsprozess zu vereinfachen. Denn in AbhĂ€ngigkeit des Zeitpunkts der Skalierung in Ihrem eigenen Lebenszyklus (NeugrĂŒndung oder bereits langjĂ€hrig am Markt) sowie des angestrebten Tempos eröffnen sich unterschiedliche Möglichkeiten.
Jeder Skalierungsprozess steht und fĂ€llt mit der Person, die fĂŒr diesen Prozess verantwortlich ist. In der Regel ist dies â wie auch in klassischen kommerziellen Unternehmen â der GrĂŒnder selbst, manchmal (ein) angestellte(r) Manager, manchmal auch beide gemeinsam. »Eine starke FĂŒhrung und das Engagement der GrĂŒnder bzw. des Managements können fĂŒr eine erfolgreiche Skalierung besonders kritisch sein« (CASE 2003: 15). In dieser Hinsicht unterscheiden sich Sozialunternehmen kaum von kommerziellen Unternehmen.
Skalierung bedeutet die VervielfĂ€ltigung und Steigerung der bisherigen sozialen AktivitĂ€ten. Mit dieser Steigerung werden sich Ihre Organisation sowie Ihre Rolle in der Organisation verĂ€ndern. Sie werden entweder mit deutlich mehr Mitarbeitern oder mit deutlich mehr Kooperationspartnern zusammenarbeiten. In jedem Fall werden Sie im einen wie im anderen Fall Verantwortung abgeben (mĂŒssen). Die Anzahl derjenigen Personen, mit denen Sie regelmĂ€Ăig interagieren, wird steigen, Ihr TĂ€tigkeitsfeld wird sich in Richtung Management verschieben, möglicherweise werden Sie verstĂ€rkt reisen.
Wichtig ist an diesem Punkt, dass Sie versuchen, diese VerĂ€nderungen im Vorfeld zu antizipieren und sich zu fragen, ob Sie diese sich abzeichnende Entwicklung begrĂŒĂen. »Will ich das wirklich?« heiĂt die Frage. Ist es fĂŒr Sie beispielsweise denkbar, dass Sie weniger mit den Betroffenen selbst in Kontakt kommen, sondern verstĂ€rkt in GesprĂ€che mit Mitarbeitern und Partnern involviert sind? Können Sie sich mit dem Gedanken anfreunden, dass Sie mehr delegieren, motivieren und akquirieren, anstatt selbst im operativen GeschĂ€ft aktiv zu werden?
Zusammenfassend lautet die zentrale Frage: Bin ich bereit und ĂŒberzeugt, meine Rolle in meinem Sozialunternehmen neu zu definieren und mich, mit allen Konsequenzen, stĂ€rker in eine Managementaufgabe zu bewegen?
Erfolgsfaktor 2: Managementkompetenz
Der Skalierungserfolg von Sozialunternehmen wird â wie auch in klassischen kommerziellen Unternehmen â neben dem Commitment der GrĂŒnder und FĂŒhrungskrĂ€fte stark durch deren Managementkompetenz beeinflusst. Managementkompetenz wird hier verstanden als die FĂ€higkeit, entlang betriebswirtschaftlich ausgerichteter Prozesse und Strukturen zu arbeiten. Dazu gehören beispielsweise das Setzen klarer Strategien und Ziele, das Festlegen von Kriterien, mit denen der Erfolg der sozialen AktivitĂ€ten gemessen werden soll, die Erhebung des Ist- sowie eines angestrebten Soll-Zustands, die regelmĂ€Ăige Ăberwachung des jeweiligen Zielerreichungsgrades, ein kontinuierliches Berichtswesen, eine saubere Budgetierung und Kontrolle der Kosten sowie die schriftliche Dokumentation zentraler Prozesse in der Organisation.
Eine unzureichende Managementkompetenz könnte Sie im ungĂŒnstigen Fall falsche PrioritĂ€ten setzen lassen, den Ăberblick verlieren lassen, Ihnen viel Zusatzarbeit verschaffen und somit eine erfolgreiche Skalierung gefĂ€hrden. Sie sollten sich deshalb unbedingt zu Beginn Ihrer S...