Soziale Marktwirtschaft in der Welt von heute
In einer verÀnderten Weltwirtschaft
ThieĂ Petersen, Cora Jungbluth
Finanzkrise. Eurokrise. Brexit. Trump. Seit fast zehn Jahren befindet sich die Weltwirtschaft scheinbar stĂ€ndig im Ausnahmezustand. Der Aufstieg Chinas und anderer SchwellenlĂ€nder erschĂŒttert zusĂ€tzlich das SelbstverstĂ€ndnis der westlichen Industrienationen als wichtige Pfeiler der gegenwĂ€rtigen Weltwirtschaftsordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Die USA waren in dieser Ordnung nicht nur der zentrale Pfeiler, sondern auch eine wichtige Triebkraft. Die Inauguration von Donald Trump als 45. US-PrĂ€sident markiert daher eine deutliche ZĂ€sur: Die Vereinigten Staaten scheinen sich in der Ăra Trump von grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung, zum Beispiel vom Freihandel und von multilateraler Kooperation, verabschieden zu wollen. FĂŒr ihre BĂŒndnispartner im Westen wie im Osten entsteht dadurch ein Vakuum, das hohe Risiken und Unsicherheiten fĂŒr die Weltwirtschaft mit sich bringt. Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte das in ihrer Rede auf einer CSU-Parteiveranstaltung in MĂŒnchen-Trudering im Mai 2017 auf den Punkt: »Die Zeiten, in denen wir [EuropĂ€er und Amerikaner, Anm. der Autoren] uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein StĂŒck vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und deshalb kann ich nur sagen: Wir EuropĂ€er mĂŒssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen« (zitiert nach Spiegel online, 29. Mai 2017).
Insbesondere Deutschland, dessen internationaler wirtschaftlicher Aufstieg zum Exportweltmeister auf Basis der alten Weltwirtschaftsordnung erfolgte, steht daher vor der Frage, wie sich seine Rolle unter den neuen Voraussetzungen gestalten lĂ€sst. Die Antwort darauf wird groĂen Einfluss nicht nur auf Deutschlands Einbindung in die Weltwirtschaft, sondern auch auf die ZukunftsfĂ€higkeit der Sozialen Marktwirtschaft als nationales Wirtschaftssystem Deutschlands haben.
Dieser Beitrag geht zunĂ€chst auf Deutschlands generelle Einbindung in die Weltwirtschaft und die zentralen Herausforderungen ein, die die oben aufgefĂŒhrten Entwicklungen mit sich bringen. AnschlieĂend werden mögliche Optionen fĂŒr den Umgang mit diesen Herausforderungen diskutiert. Der Ausblick geht auf die Konsequenzen ein, die sich daraus fĂŒr Deutschland auf internationaler und nationaler Ebene ergeben könnten.
1.Deutschlands Einbindung in die Weltwirtschaft
Deutschland ist als eine groĂe, sehr wettbewerbsfĂ€hige Exportnation fest in die internationale Arbeitsteilung und den Welthandel eingebunden. Von 2003 bis 2008 trug das Land sogar den Titel »Exportweltmeister«, da es die weltweit höchsten absoluten Exporte zu verzeichnen hatte. 2016 rangierte Deutschland wie schon in den Vorjahren nach China und den USA auf Rang drei. Daraus ergeben sich zum einen positive Effekte auf die Wirtschaftsleistung, das Wachstum und die BeschĂ€ftigung. Zum anderen ist die deutsche Volkswirtschaft aber auch in hohem MaĂe von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhĂ€ngig und besonders anfĂ€llig fĂŒr weltwirtschaftliche RĂŒckschlĂ€ge. Zudem wird seine internationale WettbewerbsfĂ€higkeit durch eine Reihe internationaler und nationaler Entwicklungen herausgefordert.
Bislang allerdings hat Deutschland wie kaum ein anderes Land von der globalen wirtschaftlichen Integration profitiert. Das zeigt ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den letzten zwei Jahrzehnten. Das BIP ist ein zentraler Indikator zur Messung der wirtschaftlichen Leistungskraft einer Volkswirtschaft und entspricht dem Wert aller SachgĂŒter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt werden. Das BIP ist zwar mit einer Reihe von MĂ€ngeln verbunden, sodass sich Ăkonomen bewusst sind, dass diese GröĂe keinesfalls der ideale Indikator zur Messung des menschlichen Wohlergehens ist (Petersen 2015a: 1322). Dennoch ist unbestritten, dass ein hohes BIP die Basis fĂŒr eine umfassende Versorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Dingen ist. Ein kontinuierliches Wachstum des BIP kann demnach dazu beitragen, den Lebensstandard der Bevölkerung zu verbessern.
Deutschland konnte seine wirtschaftliche Leistungskraft, sprich sein BIP, durch die enge Einbindung in die Weltwirtschaft erheblich steigern. Dem »Globalisierungsreport 2016« der Bertelsmann Stiftung zufolge lag das reale BIP je Einwohner in Deutschland im Jahr 1990 bei 21.940 Euro. Bis 2014 stieg es auf 30.400 Euro (ein Plus von 8.460 Euro). Ohne die voranschreitende Globalisierung zwischen 1990 und 2014 hĂ€tte das reale BIP je Einwohner nur einen Wert von 29.240 Euro erreicht. Infolge der zunehmenden Globalisierung zwischen 1991 und 2014 war es im Jahr 2014 also um 1.160 Euro höher als ohne diesen Globalisierungsfortschritt. Ăber den gesamten Zeitraum summieren sich die BIP-ZuwĂ€chse je Einwohner auf 27.000 Euro. Dies ist der sechsthöchste Wert aller 42 im Globalisierungsreport untersuchten LĂ€nder. Nur in Japan, der Schweiz, Finnland, DĂ€nemark und Irland waren die kumulierten globalisierungsbedingten BIP-ZuwĂ€chse mit Werten zwischen 27.100 Euro in Irland und 35.300 Euro in Japan gröĂer (Bertelsmann Stiftung 2016a: 16).
Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands schlĂ€gt sich auch in der positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes nieder. Nach Angaben des statistischen Amts der EuropĂ€ischen Union (Eurostat) lag die saisonbereinigte Arbeitslosenquote Ende 2016 in Deutschland bei 3,9 Prozent. Nur in der Tschechischen Republik war sie mit 3,5 Prozent geringer. Alle anderen EU-LĂ€nder hatten mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu kĂ€mpfen. Im Durchschnitt der 28 EU-Mitgliedstaaten lag die Arbeitslosenquote bei etwas ĂŒber acht Prozent, in den KrisenlĂ€ndern Spanien und Griechenland sogar bei ĂŒber 18 bzw. bei 23 Prozent (Eurostat 2017: 1).
Der hohe BeschĂ€ftigungsstand in Deutschland ist ebenso wie die BIP-Entwicklung vor allem der zunehmenden internationalen WettbewerbsfĂ€higkeit Deutschlands zu verdanken, denn das deutsche Wirtschaftswachstum war in den letzten Jahren in erster Linie exportgetrieben. Internationale WettbewerbsfĂ€higkeit Ă€uĂert sich unter anderem in den hohen und steigenden LeistungsbilanzĂŒberschĂŒssen. Vereinfachend ausgedrĂŒckt liegt ein LeistungsbilanzĂŒberschuss vor, wenn die Exporte eines Landes gröĂer sind als dessen Importe. Zum letzten Mal war die deutsche Leistungsbilanz im Jahr 2001 negativ. Seitdem stiegen die LeistungsbilanzĂŒberschĂŒsse an und erreichten 2016 einen Wert von 8,3 Prozent des deutschen BIP (BMWi 2017: 8).
Auch in den Krisenjahren nach der Lehman-Pleite, die von einem starken RĂŒckgang des grenzĂŒberschreitenden Handels geprĂ€gt waren, lagen die ĂberschĂŒsse bei sechs Prozent des BIP. Die USA hatten im Zeitraum von 2001 bis 2016 Defizite, die in den meisten Jahren drei bis sechs Prozent ihres BIP betrugen. In den sĂŒdeuropĂ€ischen Krisenstaaten lagen die Defizite zeitweise sogar bei zehn bis 15 Prozent des BIP (IMF 2017). 2016 erreichten die deutschen ExportĂŒberschĂŒsse nach vorlĂ€ufigen Berechnungen mit fast 253 Milliarden Euro einen neuen Höchststand (Statistisches Bundesamt 2017: 1).
Deutschlands LeistungsbilanzĂŒberschĂŒsse fĂŒhren jedoch auch zu deutlicher Kritik vonseiten wichtiger deutscher Handelspartner: So rĂŒgte die EU-Kommission die ĂberschĂŒsse mehrfach und forderte Deutschland auf, die Ungleichgewichte zu reduzieren. DafĂŒr sei es insbesondere notwendig, die Binnennachfrage zu stĂ€rken. Die im Januar 2017 neu angetretene US-Administration unter Donald Trump hat Deutschland sogar unfaire Handelspraktiken auf Basis eines »stark unterbewerteten Euro« vorgeworfen (Reuters 2017). Hintergrund der Beschwerden sind die Nachteile, die fĂŒr andere LĂ€nder entstehen können, wenn ein Handelspartner deutlich mehr exportiert als importiert. Hierzu zĂ€hlen eine erhöhte Auslandsverschuldung, stĂ€rkere DevisenabflĂŒsse und ein möglicher Abbau von ArbeitsplĂ€tzen, wenn einheimische Produkte aufgrund hoher Importe weniger nachgefragt werden.
Jedoch sollte in der Debatte darĂŒber nicht vergessen werden, dass Produzenten und Konsumenten im importierenden Land durch kostengĂŒnstige Importe von Zwischen- und VerbrauchsgĂŒtern deutliche Preisvorteile erzielen können. Dies kann sich aufgrund des so freigesetzten Budgets durch höhere Investitionen oder privaten Konsum wiederum positiv auf das Wirtschaftswachstum im eigenen Land auswirken. Ein LeistungsbilanzĂŒberschuss bzw. -defizit hat fĂŒr das jeweilige Land und seine Handelspartner also sowohl Vor- als auch Nachteile und kann nicht pauschal als gut oder schlecht gewertet werden. In den deutschen Handelsbeziehungen sorgt das Thema trotzdem immer wieder fĂŒr Spannungen, die sich nicht ohne Weiteres auflösen lassen.
Insgesamt zeigt sich, dass Deutschlands Einbindung in die Weltwirtschaft positive volkswirtschaftliche Effekte hat. Eine perspektivisch nachlassende internationale WettbewerbsfÀhigkeit und weltweit zunehmende protektionistische Tendenzen bringen das deutsche Erfolgsmodell jedoch zunehmend unter Druck.
2.Herausforderungen fĂŒr Deutschlands zukĂŒnftige Rolle in der Weltwirtschaft
Deutschlands internationale WettbewerbsfĂ€higkeit und die damit verbundenen positiven Effekte fĂŒr Wachstum und BeschĂ€ftigung sehen sich einer Vielzahl von Herausforderungen gegenĂŒber. Zu denken ist vor allem an das Aufholen der SchwellenlĂ€nder, den demographischen Wandel in Deutschland, die mit der voranschreitenden Globalisierung verbundenen Auswirkungen auf die Einkommensverteilung, die Tendenzen zur Desintegration innerhalb der EuropĂ€ischen Union sowie an den weltweit zunehmenden Protektionismus.
2.1Aufholen der SchwellenlÀnder
Bis in die 1990er-Jahre hinein war die weltwirtschaftliche Entwicklung fast ausschlieĂlich durch die westlichen IndustrielĂ€nder geprĂ€gt. Sie waren die mit Abstand wichtigsten Exportnationen und beherrschten den Welthandel. Der Fall des Eisernen Vorhangs, in dessen Folge Osteuropa stĂ€rker in den Welthandel eingebunden wurde, und Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 trugen jedoch wesentlich dazu bei, dass die Industriestaaten an Bedeutung verloren. So ging der Anteil der G7-Staaten an den weltweiten Exporten von 51,6 Prozent im Jahr 1990 auf nur noch 32,6 Prozent im Jahr 2016 zurĂŒck. Der Exportanteil der SchwellenlĂ€nder â allen voran China â stieg in diesem Zeitraum hingegen rasant an. Deutschlands Anteil an den weltweiten Exporten sank in diesem Zeitraum um vier Prozentpunkte (siehe Tabelle 1). Dennoch war Deutschlands Anteil am Welthandel 2016 mehr als doppelt so hoch wie der Frankreichs und des Vereinigten Königreichs, was auf eine nach wie vor hohe Einbindung Deutschlands in die Weltwirtschaft hinweist.
Tabelle 1: Anteil ausgewÀhlter LÀnder am weltweiten Exportvolumen (Warenhandel) zwischen 1990 und 2016 in Prozent
Quelle: UNCTADstat (Download 27.4.2017)
Mit Blick auf die nĂ€chsten Jahrzehnte ist davon auszugehen, dass die Schwellen- und EntwicklungslĂ€nder ihren Anteil am weltweiten Handel weiter ausdehnen werden. Diese Entwicklung wird zwar zulasten der europĂ€ischen Volkswirtschaften gehen, beinhaltet fĂŒr diese aber auch neue Chancen. FĂŒr diese Erwartung gibt es mindestens zwei wichtige Argumente.
Erstens wird die Zahl der Menschen in den aufstrebenden Schwellen- und EntwicklungslĂ€ndern in den nĂ€chsten Jahren weiter wachsen. Eine wachsende Bevölkerung bedeutet mehr ErwerbstĂ€tige und mehr Verbraucher, was zu einem wirtschaftlichen Wachstum fĂŒhrt. In Europa wird die Bevölkerungszahl voraussichtlich stagnieren bzw. langfristig sogar zurĂŒckgehen (siehe Tabelle 2), was zu einem nachlassenden Wirtschaftswachstum fĂŒhrt. Trifft die wachsende Bevölkerung der Schwellen- und EntwicklungslĂ€nder im erwerbsfĂ€higen Alter auf eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung in Europa, wirkt sich dies zudem negativ auf die preisliche WettbewerbsfĂ€higkeit der europĂ€ischen Volkswirtschaften aus: In Europa ist demographisch bedingt mit einem Lohnanstieg zu rechnen, wĂ€hrend das starke Wachstum der potenziellen Erwerbsbevölkerung in den aufholenden Schwellen- und EntwicklungslĂ€ndern tendenziell lohnsenkend wirkt.
Mit der Bevölkerungsentwicklung in den SchwellenlĂ€ndern gehen neue Marktchancen fĂŒr europĂ€ische Firmen einher. Die Rekrutierung vergleichsweise junger FachkrĂ€fte aus diesen LĂ€ndern wird zudem als Möglichkeit diskutiert, um dem drohenden FachkrĂ€ftemangel in den alternden europĂ€ischen IndustrielĂ€ndern zumindest etwas entgegenzusetzen â auch wenn bereits absehbar ist, dass Zuwanderung alleine dieses Problem nicht lösen wird (siehe Abschnitt 2.2).
Tabelle 2: Entwicklung der Weltbevölkerung zwischen 2017 und 2050
Quelle: Population Reference Bureau 2017: 8â18 und eigene Berechnungen
Zweitens ist davon auszugehen, dass sich die internationale WettbewerbsfĂ€higkeit der Schwellen- und EntwicklungslĂ€nder auch infolge eines schnelleren technologischen Fortschritts verbessern wird. So steigerte beispielsweise China seine gesamtwirtschaftlichen Ausgaben fĂŒr Forschung und Entwicklung zwischen 2005 und 2015 von rund 86,8 Milliarden US-Dollar auf 368,7 Milliarden. In Deutschland stiegen diese Ausgaben im gleichen Zeitraum von 64,3 Milliarden US-Dollar auf 111,2 Milliarden (EFI 2017: 140). Dieser starke Anstieg der Forschungs- und Entwicklungsausgaben Ă€uĂert sich mittlerweile auch in einer hohen Anzahl von Patenten. WĂ€hrend China Mitte ...