SOZIAL WIRD DIE MARKTWIRTSCHAFT SCHON DURCH IHRE UNTERNEHMER
Christopher Gohl
Das Argument
Wie kommt Verantwortung in die Wirtschaft? Linke Kritiker wie konservative Ethiker oder Finanzmarktinvestoren verbindet der Glaube, dass aus einer kapitalistischen Wirtschaft erst dann eine verantwortliche und soziale Marktwirtschaft wird, wenn der Staat sich zum wirtschaftlichen Geschehen gesellt. Entweder, um in linkem Auftrag Armut durch Umverteilung von Gewinnen am Markt zu beenden, oder, um in ordoliberaler Absicht dem Markt einen Rahmen zu geben.
Doch so einfach liegt die Sache nicht. Zwar ist diese Betrachtungsweise wirtschaftswissenschaftlich fundiert. Aber indem sie die Verantwortung von unternehmerischer Freiheit abtrennt, verkennt sie, was fĂŒr viele mittelstĂ€ndische Akteure der real existierenden Sozialen Marktwirtschaft konstitutiv ist: eine Praxis der selbstverstĂ€ndlichen sozialen Verantwortung. Sie wird pointiert durch unterschiedliche Formen sozialer Verantwortung: von der Philanthropie bis zum Social Entrepreneurship. Um diese Formen in den Blick zu bekommen, muss man freilich die Brille der neoklassischen Ăkonomie durch eine humanistische und pragmatische Brille ersetzen. Dabei wird deutlich: Die Soziale Marktwirtschaft ist als Teilhabewirtschaft wesentlich besser verstanden denn als profitgetriebener, staatlich erst domestizierter Wildwestwettbewerb.
Das gÀngige Vorurteil: Hier Gier, da Gerechtigkeit
In einer der Debatten mit Hillary Clinton kommentierte Donald Trump den Vorwurf, die wenigen vorliegenden Steuerunterlagen hĂ€tten gezeigt, dass er keine Einkommensteuer zahle, mit den Worten: »That makes me smart.« Das fand auch fast die HĂ€lfte der US-Amerikaner, wie eine Reuter/Ipsos-Umfrage zeigte. In der Tat ist die Vorstellung, dass ein guter GeschĂ€ftsmann nach seinem eigenen Profit schaut und sich Verantwortung erst vom Staat aufzwingen lassen muss, nicht nur in der Ăffentlichkeit weit verbreitet, sondern auch unter Kapitalismusexperten wie dem Investor George Soros, dem Philosophen Wolfgang Kersting oder dem Soziologen Niklas Luhmann.
»MĂ€rkte sind amoralisch«, behauptet etwa George Soros in seinem Buch ĂŒber die Globalisierung (Soros 2005: 6). Die anonyme Teilnehmerin mĂŒsse sich nicht um die sozialen Konsequenzen ihrer Entscheidungen kĂŒmmern. Als Teilnehmer des Marktes sollten die Leute vielmehr ihre eigenen Selbstinteressen verfolgen â und erst als Teilnehmer des politischen Prozesses sollten sie vom Gemeinwohl geleitet sein. Die MĂ€rkte brĂ€uchten daher ein politisches Regulativ.
Die Verantwortung fĂŒr die Mitwelt, Umwelt oder Nachwelt kommt bei dieser Sichtweise erst durch ein staatliches Gesetz oder Gebot in die Wirtschaft. Ein institutionelles Rahmenwerk von Spielregeln, das die SpielzĂŒge der Akteure bei der Verfolgung ihrer Einzelinteressen mit den grundlegenden Allgemeininteressen harmonisiert: Das ist ja eben die grundlegende Idee liberaler Ordnungspolitik, wie sie der Ordoliberalismus der Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm vorsieht.
Es sind also die Waffen des Gesetzes, die fĂŒr die Gemeinwohldienlichkeit der Wirtschaft sorgten, »nicht die appellative Bearbeitung des Gewissens der Wirtschaftssubjekte«, wie der Philosoph Wolfgang Kersting sagt. Das besondere Interesse der Ethiker gelte »den modernen Wilden, den Barbaren vom Stamm des Homo oeconomicus. Sie sollen zivilisiert werden, ihnen sollten Sitte und Anstand beigebracht werden. Aber der homo oeconomicus ist ethikresistent, nicht unbedingt als Privatmann, jedoch als Wirtschaftssubjekt. Ihm ins Gewissen zu reden, ist verlorene LiebesmĂŒhâ und schadet ĂŒberdies der Moral« (Kersting 2002).
Wirtschaftsethik wĂ€re demnach ein völlig fruchtloses GeschĂ€ft. So spottete jedenfalls auch der Soziologe Niklas Luhmann: »Die Sache hat einen Namen: Wirtschaftsethik. Und ein Geheimnis, nĂ€mlich ihre Regeln. Aber meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die StaatsrĂ€son oder die englische KĂŒche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheim halten mĂŒssen, dass sie gar nicht existieren« (Luhmann 1993: 134). Noch kĂŒrzer und vernichtender heiĂt es in einem Bonmot, das dem Aphoristiker Karl Kraus zugeschrieben wird: »Sie wollen Wirtschaftsethik studieren? Dann entscheiden Sie sich fĂŒr das eine oder das andere« (zitiert nach Ortmanns 2016: 17).
Der Konsens dieser so erfahren und klug daherkommenden Köpfe findet Widerhall in der Politik. Der Markt gilt als schlecht: ein wildes, gieriges Monster. Aber der Staat ist gut: eine milde Mutti, ein gerechter Vater. Die ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles etwa verfolgt ihre Vorstellungen einer »demokratischen Marktwirtschaft«. Der zufolge zahlen die Unternehmen nicht genug Lohn â also wird der allgemeine Mindestlohn gesetzlich festgelegt. Der Wettbewerb ist unbarmherzig â aber die rettende Rente kommt immer frĂŒher. Die Wirtschaft nutzt flexible Arbeitszeiten nur zur LohndrĂŒckerei â deshalb muss der Staat das NormalarbeitsverhĂ€ltnis stĂ€rken. MĂ€nner diskriminieren â also sorgt der Staat mit einer Quote fĂŒr die Frauen.
Denselben Vorstellungen â hier Gier, da Gerechtigkeit â unterliegen auch Gesetzeswerke wie das EEG (Gesetz fĂŒr den Ausbau erneuerbarer Energien), das mit staatlichen Subventionen eigentlich unrentable Energieerzeugung beatmet. Oder Forderungen nach einer Aufweichung des europĂ€ischen StabilitĂ€tspaktes, damit Staaten das Wirtschaftswachstum mit gröĂeren Investitionen fördern â also gute ArbeitsplĂ€tze mit Schulden kaufen â können. Auch dass die erfolgreiche deutsche Wirtschaft einen ExportĂŒberschuss hat, ist vielen Berliner Politikerinnen und Politikern eigentlich peinlich.
Sozial wird die Marktwirtschaft also erst dann, wenn der Staat eingreift. Als gĂ€be es zwei Reiche: hier die Wirtschaft als Wilder Westen des ungerechten, rĂŒcksichtslosen Wettbewerbs, dort das Paradies des Staates als Retter der Menschlichkeit. In dieser Arbeitsteilung macht die Wirtschaft ungerechte Profite, aber der Staat sorgt fĂŒr gerechte VerhĂ€ltnisse. Ethik und Wirtschaft sind getrennt. Verantwortung kommt nur als erzwungene Korrektur in die Wirtschaft â in der Form von Haftung, von Pflichten oder EinschrĂ€nkungen der Freiheit der Akteure. Und Verantwortung kostet Geld, statt Profite zu fördern.
Die Quelle des Vorurteils: Die Wirtschaftswissenschaften
»Die Ideen von Ăkonomen und politischen Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mĂ€chtiger als ĂŒblicherweise angenommen. (âŠ) Praktiker, die von sich glauben, sie unterlĂ€gen keinerlei intellektuellen EinflĂŒssen, sind gewöhnlich die Sklaven eines lĂ€ngst verstorbenen Ăkonomen«, schrieb einer, der es wissen muss: John Maynard Keynes (1966: 323). Das gilt auch fĂŒr George Soros, Wolfgang Kersting, Niklas Luhmann und viele Politiker: Indem sie die Ethik in der Wirtschaft ins Exil schicken, wiederholen sie bloĂ die Vorurteile der Wirtschaftswissenschaften der vergangenen 200 Jahre (hierzu einschlĂ€gig und fĂŒr die folgende Argumentation grundlegend und maĂgeblich: Dierksmeier 2016).
Zu Anfang des 19. Jahrhunderts lieĂen sich Volkswirtschaftler von den Naturwissenschaften beeindrucken. Die Rekonstruktion und Vermessung der materialen Welt, wie sie der Physik gelang, sollte im Bereich der Wirtschaft auch den Volkswirtschaftlern gelingen. Die bestehenden teleologischen, auch religiös motivierten Traditionen wirtschaftlichen Denkens von Aristoteles bis zum Moralphilosophen Adam Smith, die wirtschaftliches Handeln im Dienste höherer menschlicher Zwecke beurteilten, sollten ersetzt werden durch die objektive Beschreibung eherner Gesetze wirtschaftlichen Handelns. Wirtschaft wurde jetzt als Mechanik aufeinander einwirkender KrĂ€fte verstanden. Qualitative Werturteile und Werte wie Freiheit und Verantwortung wurden Schritt fĂŒr Schritt ĂŒbersetzt in quantifizierbare Kategorien â schlussendlich in Interessen und Kategorien einer Zahlungsbereitschaft im Dienste der Interessen.
Dabei verabschiedete sich die Volkswirtschaft von der Sozialwissenschaft und orientierte sich am methodologischen Fundus der Physik und der Mathematik. Besonders die Mechanik versprach einen Weg zur Modellierung ökonomischer Probleme ohne Rekurs auf ein Wertesystem jenseits der jetzt als abgetrennte SphĂ€re betrachteten Ăkonomie. John Stuart Mill (1806â1873), Auguste Comte (1798â1857) und andere begannen, die ökonomische Praxis mit quasi mechanischen Gesetzen zu beschreiben, die sich in mathematische Gleichungen ĂŒbersetzen lieĂen.
WĂ€hrend der Fluss des Geldes oder der GĂŒter kein groĂes Problem fĂŒr die entstehende Disziplin der Statistik darstellte, war es wesentlich schwieriger, ethische Ăberlegungen in ökonomische Kalkulationen zu ĂŒbersetzen, also von qualitativen Werturteilen zu einer quantitativen Wertzuschreibung zu kommen. Hier hatten die Utilitaristen wie Jeremy Bentham (1748â1832) und James Mill (1773â1836) Vorarbeit geleistet. Sie hatten die jahrhundertealten Konfliktlinien der Metaphysiker ĂŒberwunden und das vermeintlich objektiv erkennbare Werturteil radikal subjektiviert. Nicht mehr Philosophen oder Priester sollten sagen, was einem universalen Geltungsanspruch zufolge ökonomisch gut sei, sondern jeder Marktteilnehmer sollte selbst entscheiden, was fĂŒr gut befunden wird. Das Gute wechselte seinen Status vom philosophischen Axiom zum praktischen Nutzen des Einzelnen in der Annahme, dass der Nutzen fĂŒr jeden und jede am Ende das GlĂŒck aller befördern wĂŒrde.
Die zuvor so zentrale Idee eines Gemeinwohls wurde ersetzt durch das Aggregat der Einzelinteressen â durchaus ein egalitĂ€rer, emanzipativer Schritt â, das den einzelnen Menschen ins Zentrum der Theoriebildung stellte, statt traditionelles, oft auch klassenorientiertes aristotelisches oder scholastisches Denken fortzufĂŒhren. Allerdings war das eine empirische Wende in der Bewertung der Werte: Jetzt wurde gemessen, was Menschen tatsĂ€chlich wertschĂ€tzten, ohne zu fragen, was sie möglicherweise mit guten GrĂŒnden wertschĂ€tzen sollten. Diese Wende öffnete das Tor zum Exil ethischer â moralischer, sozialer, politischer â Ăberlegungen zur Organisation von Gesellschaft jenseits ökonomischer Interaktionen.
Der programmatische Schritt, die Idee des Gemeinwohls durch das aggregierte Interesse zu ersetzen, fiel mit anderen utilitaristischen Konzeptionen menschlichen Verhaltens zusammen. Die Utilitaristen beschrieben Schmerz und Freude als entscheidende Faktoren menschlichen Handelns, wobei diese auf der Basis des gröĂten Treibers menschlichen Verhaltens, des Eigeninteresses, vermieden oder gesucht wurden. Nun konnte die IntensitĂ€t von Schmerz oder Freude als qualitativer Zustand quantitativ nicht direkt erfasst werden. Aber William Stanley Jevons (1835â1882) und Alfred Marshall (1842â1924) gingen den nĂ€chsten Schritt in der Quantifizierung ethischer Dispositionen: NĂŒtzlichkeit in Bezug auf die Vermeidung von Schmerz und die Suche nach Freude konnte gemessen werden in der Bereitschaft, fĂŒr GĂŒter zu zahlen, die Schmerz vermieden und Freude brachten. Schmerz und Freude konnten jetzt quantitativ vermessen und kalkuliert werden. Das vormals qualitative Problem der Optimierung sozialen Nutzens wurde zum einfachen, quantitativ lösbaren Problem des maximierten GĂŒterkonsums. Werturteile wie »besser« oder »schlechter« wurden ersetzt durch die Ausmessung von »mehr« oder »weniger«.
Die österreichische Schule um Carl Menger (1840â1921) eröffnete diesem physikalistischen Ansatz mit der Grenznutzentheorie die Modellierung von Werten und Preisen. Substanzielle Wertbeurteilungen in Bezug etwa auf eine moralische QualitĂ€t oder soziale Funktion wurden ersetzt durch eine prozedurale Bemessung anhand von Preisen und ihrer Entwicklung. Im epistemologischen Programm einer naturwissenschaftlichen Volkswirtschaftslehre störten Werte wie Freiheit und Verantwortung nur die mechanische RegelmĂ€Ăigkeit ökonomischer Transaktionen, das Fundament wissenschaftlicher Genauigkeit.
Jahrtausende ökonomischen Denkens bis Adam Smith waren davon ausgegangen, dass es objektive Werte gab, mit denen die Wirklichkeit nicht nur deskriptiv erfasst, sondern auch prĂ€skriptiv geprĂ€gt werden sollte. Indem Werturteile mit Blick auf die Gesamtheit menschlichen Lebens aber ersetzt wurden durch subjektive Wertzuschreibungen, kollabierte die kritische Distanz zwischen Werten und empirischen Fakten â und damit der gesamte prĂ€skriptive, kritische und auch kontrafaktische Mehrwert volkswirtschaftlichen Denkens. Nach dem Werturteilsstreit zwischen Max Weber (1864â1920) und Werner Sombart (1863â1941) setzte sich Webers Sichtweise durch, dass sich die Volkswirtschaft normativer Urteile zu enthalten und sich auf die Beschreibung und ErklĂ€rung ökonomischen Handelns zu konzentrieren habe. Der einflussreiche Wiener Kreis, den Otto Neurath (1882â1945) gar in den »Wiener Kreis des Physikalismus« umbenennen wollte, begrenzte deshalb die Methodologie der Volkswirtschaftslehre auf empirische Beobachtung und analytisches Denken.
Nachdem das Problem qualitativer Bewertung in die Beschreibung quantitativer Bepreisung ĂŒberfĂŒhrt worden war, wurde zum zentralen Problem ökonomischen Denkens, wie knappe Ressourcen im Dienste gegebener Ziele eingesetzt werden können. Robbins formulierte kanonisch: »Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses« (Robbins 1932: 6). Seither dominiert die Sprache der Interessen, Profite und Preise sowie der Effizienz sowohl die Wirtschafts- als auch die Betriebswirtschaftslehre.
Werte, Ideale, Zwecke und soziale oder ökologische Anliegen haben keinen Platz mehr in den dominanten Theorien der Wirtschaftswissenschaften. Und auch wenn die mentalen Modelle wirtschaftlicher Mechaniken zunehmend durch mentale Modelle der Thermodynamik und Entropiegesetze ersetzt werden, bleibt die Grundausrichtung modernen ökonomischen Denkens physikalistisch. Werte wie Freiheit und Verantwortung, die moralische Beurteilung erst ermöglichen, begrĂŒnden und sinnvoll machen, haben in der Wirtschaftslehre gar keinen Platz mehr.
Kein Wunder, dass deshalb der Glaube weit verbreitet ist, Verantwortung könne der SphÀre der Wirtschaft all...