Rahmenkonzept der Initiative »Übergänge mit System«
Handlungsfelder und Praxisbeispiele für den gemeinsamen Reformprozess
Dieter Euler, Eckart Severing
1 Ausgangslage
Die Berufsbildungspolitik hat in den kommenden Jahren eine zentrale Herausforderung zu bewältigen: Begabungsreserven müssen ausgeschöpft werden, um der demographisch bedingten Gefahr eines zukünftigen Fachkräftemangels entgegenzuwirken. Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine Berufsausbildung mit anerkanntem Abschluss ist neu zu ordnen, damit Schulabsolventen, denen die direkte Einmündung in eine duale Berufsausbildung nicht gelingt, ohne unnötige Warteschleifen eine Ausbildung und Beschäftigung finden, die ihren Potenzialen entspricht. Um den künftigen Fachkräftebedarf zu sichern, sind zwar auch Anstrengungen jenseits der Berufsausbildung erforderlich, doch einen wesentlichen Beitrag zur ausreichenden Ausbildung von Fachkräften werden Aktivitäten zur Ausschöpfung von Begabungsreserven am Übergang von den allgemeinbildenden Schulen in eine Berufsausbildung leisten.
Integration ins Berufsleben
Bis in die 1990er Jahre verlief der Weg in eine qualifizierte Beschäftigung für das Gros der Jugendlichen über ein Hochschulstudium oder über das duale System der Berufsausbildung. Es gelang in einem weit höheren Maße als heute, die Unternehmen mit qualifizierten Fachkräften zu versorgen und die Schulabsolventen in eine qualifizierte Beschäftigung zu führen. Das duale System hat auch jetzt noch ein hohes Integrationspotenzial, doch ist es in den vergangenen zwei Dekaden nicht gelungen, hinreichend qualitative betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Im Nationalen Bildungsbericht werden drei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems abgegrenzt, die sich quantitativ wie folgt entwickelt haben:
Tabelle: Verteilung der Neuzugänge auf die drei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems
Quellen: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 96; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 80
Demotivierende Warteschleifen
Die Berufsausbildung kann aktuell nur noch begrenzt die vorhandenen Begabungspotenziale ausschöpfen und zur sozialen Integration der Jugendlichen beitragen. Stattdessen ist im Übergangssektor zwischen Schule und Ausbildung ein Dickicht an Programmen, Maßnahmen und Projekten entstanden, in die eine hohe Zahl von Schulabgängern münden. Für viele Jugendliche führt das in demotivierende Warteschleifen. Aus Sicht der öffentlichen Hand entstehen Bildungsaufwendungen von mehreren Milliarden Euro pro Jahr, ohne dass nachhaltige Wirkungen erzielt werden.
Bildungspolitische Kontroversen
Seit einigen Jahren wird kontrovers über die Frage diskutiert, unter welchen Bedingungen das duale System der Berufsausbildung (wieder) in der Lage sein könnte, einen reibungslosen Anschluss an die allgemeinbildende Schule zu gewährleisten und in der Konsequenz zu einem wesentlichen Abbau des heutigen Übergangssektors beizutragen. In dieser berufsbildungspolitischen Kontroverse stehen sich zwei Grundpositionen gegenüber: Während die eine Seite auf die fehlende Ausbildungsreife der Jugendlichen im Übergangssektor abhebt und Verbesserungen in den allgemeinbildenden Schulen fordert, fokussiert die andere Seite den deutlichen Mangel an quantitativ ausreichenden und qualitativ hinreichenden betrieblichen Ausbildungsplätzen. Daraus wird abgeleitet, dass eine strukturelle Neuausrichtung des Übergangssektors hin zu einer bedarfsgerechten Profilierung der Maßnahmen mit einer verstärkten Orientierung an einem Abschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf notwendig ist.
Hier setzen die Überlegungen eines »Übergangs mit System« an. Die duale Ausbildung soll weiterhin der Regelweg für die berufliche Bildung der Schulabsolventen sein. Trotz der demographischen Entwicklung auch in den kommenden Jahren ist nicht gewährleistet, dass für alle ausbildungsfähigen Schulabsolventen ein dualer Ausbildungsplatz verfügbar sein wird. Vielmehr besteht die Gefahr, dass ohne Veränderungen und effektive Interventionen eintreten wird, was der Nationale Bildungsbericht 2010 prognostiziert: dass die Zahl der Jugendlichen im Übergangssektor aufgrund der demographischen Entwicklung bis 2025 zwar zurückgehen, jedoch noch immer auf einem Niveau von etwa 238.000 bestehen bleiben wird. Die jährlichen Kosten würden sich bei dieser Zahl auf rund 3,3 Milliarden Euro jährlich (gegenüber 4,3 Mrd. Euro im Jahr 2010) belaufen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 317).
Vorausschauende Berufsbildungspolitik
Eine vorausschauende Berufsbildungspolitik muss daher dafür sorgen, dass bei immer wieder zu erwartenden Ungleichgewichten auf dem Ausbildungsstellenmarkt ein abgestimmtes, bedarfsgerechtes Angebot an Übergangswegen subsidiär zur Verfügung steht, das den betroffenen Jugendlichen ohne Zeitverlust den Weg zu einem anerkannten Berufsausbildungsabschluss ermöglicht.
Dritte Säule zur Berufseinmündung
Das hier vorgelegte Rahmenkonzept sieht vor, dass neben dem dualen System und dem Schulberufssystem mit seinen etablierten Ausbildungsberufen eine dritte Säule der Berufseinmündung zielgenau ausgerichtet und in ihrer Funktion anerkannt wird. Sie wird nicht wie in den vergangenen zwanzig Jahren als ein temporäres Provisorium verstanden, sondern als ein subsidiärer, aber tragfähiger Weg zu einem anerkannten Berufsausbildungsabschluss aufgebaut.
Unterschied zu bisherigen Maßnahmen
Diese dritte Säule ist in einem hohen Maße staatlich alimentiert. Darin unterscheidet sie sich nicht von den Maßnahmen, die heute für viele Jugendliche zwischen Schule und Ausbildung stehen. Im Gegensatz zum aktuellen Übergangssektor sollen die staatlichen Mittel jedoch so verwendet werden, dass sie alle geeigneten Jugendlichen zielgerichtet zu einem Ausbildungsabschluss führen. Dadurch werden zeitliche Leerläufe bei den Jugendlichen unterbunden, ihre Ausbildungsmotivation wird gestärkt und die Ressourcen sowohl auf individueller als auch volkswirtschaftlicher Ebene werden effektiver eingesetzt. Die Herausforderung besteht im Kern darin, die unüberschaubare Vielfalt an Maßnahmen und Programmen so zu lichten und zu systematisieren, dass den Jugendlichen entsprechend ihren heterogenen Ausgangssituationen passende Wege zu dem gleichen Ziel, einem Berufsausbildungsabschluss, zur Verfügung stehen.
Gliederung des Rahmenkonzepts
Nachfolgend wird zunächst das Rahmenkonzept »Übergänge mit System« mit seinen Kernkomponenten beschrieben. Ausgehend von dieser Beschreibung werden notwendige Veränderungen des Status quo herausgearbeitet und entsprechende Implikationen für die politisch verantwortlichen Akteure benannt. Anschließend werden mögliche Einwände aufgenommen und erörtert.
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2 Das Rahmenkonzept
2.1 Überblick
Das Rahmenkonzept »Übergänge mit System« soll mit der folgenden Graphik veranschaulicht werden.
Abbildung: Rahmenkonzept »Übergänge mit System«
Quelle: Bertelsmann Stiftung
Die Maßnahmen zur Neuausrichtung des Übergangssektors fokussieren sich auf drei Kernbereiche:
• die Intensivierung einer schulischen Berufsorientierung
• das Angebot von betriebsnahen Formen der Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf
• die Hinführung zur Ausbildungsreife
Flankierende Unterstützung für Betriebe
Die Pfeile bedeuten, dass diese drei Bereiche untereinander sowie mit der betrieblichen, dualen Berufsausbildung in spezifischer Weise verbunden sind. Unabhängig davon erscheint es wesentlich, dass Betriebe flankierend unterstützt werden bei der Bewältigung von Herausforderungen, die in der Ausbildung von Jugendlichen mit Startdefiziten und schlechten Ausgangsvoraussetzungen auftreten können.
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Schulische Berufsorientierung
Die schulische Berufsorientierung soll durch eine Potenzialanalyse so gestaltet werden, dass gefährdete Jugendliche früh identifiziert und gegebenenfalls durch präventive Maßnahmen in ihrer Ausbildungsreife so weit entwickelt werden, dass sich ihre Chance auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz im Anschluss an die allgemeinbildende Schule deutlich erhöht. Das Ziel besteht darin, besonders Jugendliche mit kognitiven und/oder sozialen Schwierigkeiten individuell und gezielt zu fördern und so ihre Ausbildungsreife zu sichern. Dabei kann auf Instrumente zurückgegriffen werden, die in der Praxis bereits vielerorts erprobt sind, wie die Potenzialanalyse in der 7. Klasse, die Berufsorientierungsmaßnahmen in der 8. Klasse und die Berufseinstiegsbegleitung.
Im Anschluss an die allgemeinbildende Schule ist die Aufnahme einer dualen Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf (oder bei entsprechenden Berechtigungen eine Hochschulausbildung bzw. weiterführende schulische Bildungsgänge) weiterhin der prioritäre Anschluss. Nur wenn dieser Weg verschlossen bleibt, soll eine der beiden Alternativrouten eingeschlagen werden. Die bisherige Vielfalt von Projekten und Maßnahmen sollte dabei abgelöst werden von zwei Grundtypen mit einer klaren Zielsetzung und einem scharfen Profil: Typ 1 – betriebsnahe Ausbildung, oder Typ 2 – Hinführung zur Ausbildungsreife. Beide Grundtypen können zwar innerhalb eines Landes durch verschiedene Maßnahmen umgesetzt werden, doch repräsentieren alle Maßnahmen spezifische Merkmale, um den Zielen des Rahmenkonzepts gerecht werden zu können. Den Zugang zu einem der beiden Grundtypen erhalten die Jugendlichen abhängig von ihren jeweiligen Voraussetzungen nach Ende der Schulzeit auf der Grundlage einer Potenzialanalyse.
Betriebsnahe Ausbildung (Typ 1)
Jugendliche sollen im Falle eines fehlenden betrieblichen Ausbildungsplatzes in eine betriebsnahe Ausbildung (Typ 1) einmünden, wenn sie prinzipiell bereit und in der Lage sind, eine Berufsausbildung aufzunehmen, gegebenenfalls mit einer unterstützenden Förderung. Eine betriebsnahe Ausbildung soll in einem anerkannten Ausbildungsberuf an berufsbildenden Schulen und/oder bei Bildungsträgern absolviert werden, betriebliche Phasen beinhalten und mit einer Prüfung vor der Kammer enden. Die Gestaltung dieser Ausbildungsform kann innerhalb eines zeitlichen Korridors flexibel erfolgen und durch sozialpädagogische und fachliche Unterstützungsmaßnahmen flankiert werden. Bereits im Verlauf ist darauf hinzuarbeiten, dass ein Übergang in eine duale Ausbildung erfolgt und dass dabei die bereits erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen angerechnet werden. Wenn dieser Übergang nicht gelingt, soll die Ausbildung ohne Zeitverlust bis zur Abschlussprüfung außerbetrieblich abgeschlossen werden können.
Hinführung zur Ausbildungsreife (Typ 2)
Für Schulabsolventen mit hohem Förderbedarf wird der zweite Typus vorgesehen, der auf die Hinführung zur Ausbildungsreife zielt und bei Erfolg mit der Möglichkeit verbunden ist, anschließend eine Berufsausbildung aufzunehmen. Im Vergleich zu heute würde dieser Bereich deutlich reduziert und – in Weiterführung der Berufseinstiegsbegleitung aus den allgemeinbildenden Schulen – auf eine individuelle, intensive und möglichst kurze Förderung und Betreuung abzielen. Idealerweise würde nach erworbener Ausbildungsreife eine duale Ausbildung bzw. eine Ausbildung innerhalb des Schulberufssystems aufgenommen. Ist dieser Anschluss nicht möglich, so erfolgt die Einmündung in eine betriebsnahe Ausbildung. Für einen (kleinen) Teil der Jugendlichen ist nicht auszuschließen, dass sie trotz einer individuellen, intensiven Förderung die Voraussetzungen für die Aufnahme einer Ausbildung nicht erarbeiten können. In diesem Fall bleibt zunächst nur das Ziel einer Einmündung in das Beschäftigungssystem.
Betriebliche Ausbildungsressourcen stärken
Innerhalb der skizzierten Bereiche wird großer Wert darauf gelegt, dass betriebliche Ausbildungsressourcen aktiviert und integriert werden. Da B...