Mittelschicht unter Druck?
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Mittelschicht unter Druck?

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Mittelschicht unter Druck?

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About this book

Die soziale Schere öffnet sich immer weiter: In der Bundesrepublik Deutschland wĂ€chst die Armut am unteren Ende der Gesellschaft - am oberen Ende steigt der Reichtum. Bedeutet das das Ende der traditionellen Mittelschichtgesellschaft? TatsĂ€chlich wird die Status-sicherung schwieriger: Soziale Ungleichheiten und Unsicherheiten verstĂ€rken die Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft. Status, Bildung und Beruf, ĂŒber lange Jahrzehnte Faktoren, die das SelbstverstĂ€ndnis fĂŒr die breite Mitte bestimmt haben, geraten ins Wanken. Vor diesem Hintergrund veröffentlicht die Studie "Mittelschicht unter Druck?" Daten zur ökonomischen und sozialen Entwicklung der mittleren Schichten in Deutschland. Ein systematischer europĂ€ischer Vergleich ermöglicht eine Verortung im gesamteuropĂ€ischen Kontext und macht gemeinsame Trends und Herausforderungen besser verstĂ€ndlich.

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1 Die Mittelschichtgesellschaft

Eine breite und wohlintegrierte Mittelschicht gilt als Merkmal moderner Wohlfahrtsgesellschaften. Zwar lĂ€sst sich ein Wachstum der Mittelschicht ĂŒber eine lĂ€ngere historische Periode beobachten, aber vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in der Bundesrepublik zu einer Expansion des Gesellschaftssegments, welches wir heute als Mittelschicht oder Mitte bezeichnen (Mau 2012). Die Zeit des »Wirtschaftswunders« eröffnete ungeahnte Möglichkeiten des Zugewinns an Wohlstand fĂŒr breite Schichten. Das Modell der »sozialen Marktwirtschaft« verband ökonomischen Erfolg mit sozialem Ausgleich. Es gab einen wachsenden Lebensstandard und Lebenskomfort und fĂŒr die breite Bevölkerung verbesserte sich der Zugang zu höherer Bildung.
Durch das System der sozialen Sicherheit, welches EinkommensausfĂ€lle kompensierte und stark auf die Erhaltung des Lebensstandards ausgerichtet war, konnten Existenzunsicherheiten abgebaut werden. Wer sich leistungsbereit und fleißig zeigte, sollte und durfte am Wachstum des Wohlstands teilhaben. Es entstand eine »Mehrheitsklasse« (Dahrendorf 1992: 169) derer, die dazugehören und die darauf hoffen durften, am allgemeinen Wohlstand dauerhaft zu partizipieren und vor materiellen Mangelerfahrungen geschĂŒtzt zu sein.
Die Mittelschichten, denen im 19. Jahrhundert noch wortgewaltig ihr Untergang prophezeit worden war und die selbst lange fĂŒrchteten, zwischen »Kapital« und »Arbeit« zerrieben zu werden, entwickelten sich damit zum dominierenden Bezugspunkt der Sozialstruktur. Allerdings beruhte die Ausweitung der Mittelschichten weniger auf einem Wachstum des traditionellen »Mittelstands«, also der kleinen SelbststĂ€ndigen in Kleingewerbe und Einzelhandel, der freien Berufe und der Beamten* – vielmehr speiste sie sich aus der wachsenden Gruppe der abhĂ€ngig BeschĂ€ftigten, insbesondere aus den damals als »neuer Mittelstand« bezeichneten Angestellten, die ĂŒberwiegend BĂŒroberufe ausĂŒbten und sich durch das weiße Hemd bei der Arbeit von den »blue collar workers« abhoben.
Im Laufe der Zeit schwĂ€chte sich jedoch die starke Statusunterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ab. Zum einen ĂŒbten zunehmend auch viele Angestellte einfache und repetitive TĂ€tigkeiten aus, zum anderen verbesserte sich die Stellung von Teilen der Arbeiterschaft. Mit den genannten Entwicklungen des Wirtschaftswachstums und der Sozialstaatsexpansion verloren sich fĂŒr große Teile der Arbeiter- und ehemaligen Unterschichten die Merkmale der »ProletaritĂ€t« (Mooser 1984), und es konnte sich ein »respektables Arbeitermilieu« (Vester 1998) etablieren. Viele Arbeiterberufe wurden aufgewertet und erforderten ein Mehr an Qualifikation (Mau 2012: 16 f.). Zur Mitte gehören daher heute nicht nur Gewerbetreibende, HĂ€ndler, Beamte und freie Berufe, sondern ebenso breite Arbeitnehmerschichten, vor allem die qualifizierten Angestellten und Facharbeiter im industriellen Sektor wie auch im wachsenden Dienstleistungssektor (Mau 2012; Heinze 2011; Vogel 2009).
Zur Abgrenzung und Definition der Mitte werden hĂ€ufig sozialstrukturelle Merkmale herangezogen: Zur Mitte gehört danach, wer ĂŒber ein mittleres Einkommen verfĂŒgt, zumindest einen mittleren Schulabschluss (mittlere Reife oder Berufsausbildung) hat und mindestens einen qualifizierten Angestellten- oder Arbeiterberuf ausĂŒbt. Andere AnsĂ€tze fokussieren stĂ€rker auf typische MentalitĂ€ten oder einen Habitus der Mittelschicht und verbinden bestimmte Werte (z. B. bĂŒrgerliche Werte, Leistungsorientierung, Autonomie), Lebensweisen und soziale und kulturelle PrĂ€ferenzen mit der Mittelschicht (Nolte und Hilpert 2007; Hradil und Schmidt 2007). Allerdings ist mit der Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Mitte kein so eindeutiger Bezug zu spezifischen Werten oder kulturellen Orientierungen mehr gegeben. Die Mitte ist, so MĂŒnkler (2010: 43), ein Ensemble von verschiedenen Gruppen, »in denen es kein einheitliches Ethos mit entsprechenden Werten und Normen mehr gibt, sondern materialistische und postmaterialistische, pflichtorientierte und hedonistische Grundeinstellungen nebeneinander existieren«.
Folgt man der These der »Individualisierung« (Beck 1986), so hat der kollektive Zuwachs an Wohlstand dazu gefĂŒhrt, dass Ungleichheiten zwar nicht verschwanden oder aufgelöst wurden, aber fĂŒr Fragen sozialer IdentitĂ€t, des Lebensstils oder der Teilhabe am Konsum eine immer geringere Rolle spielen. Helmut Schelsky (1956) hat schon in den 1950er Jahren die Tendenz zu einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« diagnostiziert und damit eine Entwicklung hin zu einer Verschmelzung einstmals stark voneinander abgegrenzter Bevölkerungssegmente. Dies hieße, dass das hierarchische Modell ĂŒbereinandergestapelter Schichten von dem Modell einer sozial und kulturell dominierenden Mitte abgelöst wurde. Dagegen hat die soziologische Ungleichheitsforschung jedoch wiederholt den bleibenden Einfluss mentalitĂ€ts- und habitusprĂ€gender Klassen- und Schichtunterschiede nachgewiesen (Vester et al. 2001; Weber-Menges 2004). In der »pluralisierten Klassengesellschaft« (Vester 1998) erhalten sich damit relative soziale AbstĂ€nde des Einkommens, der Bildung und des sozialen Status, die sich in entsprechende, hĂ€ufig subtile kulturelle Abgrenzungen und »feine Unterschiede« (Bourdieu 1987) ĂŒbersetzen.
WĂ€hrend die Rede von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nicht nur in den 1950er Jahren, sondern bis in die Gegenwart hinein als Zustandsdiagnose stets angreifbar blieb, so bezeichnet sie doch die dominante, fast schon zur SelbstverstĂ€ndlichkeit gewordene Erwartung, dass mit dem Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand vor allem die »Mitte« der Gesellschaft profitieren und ebenfalls wachsen sollte. Die wachsende und integrierte Mitte galt als »Chiffre fĂŒr die aufstiegsorientierte und durchlĂ€ssige Nachkriegsgesellschaft« (Heinze 2011: 55). Seit einigen Jahren hat diese Selbstbeschreibung jedoch Kratzer bekommen, die Position der Mittelschicht scheint weniger robust und auf Dauer gestellt als oft angenommen (Mau 2012). Die erste Ölkrise zu Beginn der 1970er Jahre und das Wiederaufkommen des PhĂ€nomens von Massenarbeitslosigkeit können als Ausgangspunkt fĂŒr eine Relativierung der Mittelschichtgesellschaft angesehen werden. Mit der Wiedervereinigung und durch die stĂ€rkere globale wirtschaftliche Verflechtung hat der deutsche Sozialstaat zwei weitere strukturelle BrĂŒche zu verkraften, die in ihren Auswirkungen andauern und sich auf die Gesellschaftsstruktur auswirken.
Durch die jĂŒngeren Entwicklungen einer Zunahme von Armut wie von Reichtum und damit einer Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung ist auch die Erwartung, dass sich ökonomische Gewinne breit ĂŒber die Gesellschaft verteilen sollten, immer weniger erfĂŒllt worden. Wenn die RĂ€nder der Einkommensverteilung wachsen, dann gerĂ€t auch »die Mitte« unter Druck. Die Diagnose einer »schrumpfenden Mittelschicht« (Grabka und Frick 2008) hat dementsprechend fĂŒr Aufruhr gesorgt. In den Feuilletons wurde sie mitunter zum massenhaften dramatischen Absturz ehrenwerter Mittelschichtfamilien in materielles Elend, Verschuldung und Hartz IV stilisiert, wĂ€hrend auf der anderen Seite auch die Entwarnungen nicht lange auf sich warten ließen: Die Zahlen belegten allenfalls eine Stagnation, so die Interpretation, aber keine Schrumpfung der ökonomischen Mittelschicht und es gebe keinen Grund zur Panik (Enste, Erdmann und Kleineberg 2011).
Die Dramatisierung von Abstiegsprozessen aus der Mitte in bittere Armut lĂ€sst sich in der Tat empirisch widerlegen (Groh-Samberg und Hertel 2010). Andererseits kann aber auch der entwarnende Verweis auf eine stabile ökonomische Mitte nicht ĂŒberzeugen, denn es finden sich tatsĂ€chlich grundlegende VerĂ€nderungen in der Mittelschicht. Neben dem Schrumpfen der Einkommensmitte sind dies VerĂ€nderungen auf dem Arbeitsmarkt (durch Restrukturierungen und das Wachstum atypischer BeschĂ€ftigung), der Umbau des sozialen Sicherungsstaates und sozialstrukturelle VerĂ€nderungen, die die Mittelschicht weniger stabil und statussicher erscheinen lassen. Gleichzeitig garantieren ein guter schulischer Abschluss und eine berufliche Qualifikation nicht mehr eine sichere Positionierung in der Mitte.
Die Bildungsexpansion, von der gerade die Mittelschichten ĂŒber viele Jahrzehnte besonders profitiert haben, geht zunehmend Hand in Hand mit einer Inflationierung von Bildungstiteln – fĂŒr eine gute Lehrstelle ist heute das Abitur fast schon Voraussetzung – und einem immer intensiveren Bildungswettbewerb (Bude 2011). Der Wettlauf um die bestmögliche Förderung der Kinder birgt erhebliche Verunsicherungen in der Mitte. Dazu kommen die Schwierigkeiten gerade junger Familien, ihre AnsprĂŒche an eine befriedigende berufliche Karriere beider Elternteile mit den Anforderungen beruflicher FlexibilitĂ€t und regionaler MobilitĂ€t und der Sorge um das Wohl der Kinder vereinbaren zu können. Ebenso gibt es in der Mitte Klagen ĂŒber hohe Abgabenlasten und nur geringe ZuwĂ€chse oder sogar Stagnation bei den Nettolöhnen.
Die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz nimmt kontinuierlich zu (Erlinghagen 2010), Sorgen um die soziale Absicherung bei Krankheit, Alter und Pflege trĂŒben den Blick in die Zukunft. Dazu kommt die neue Unberechenbarkeit der FinanzmĂ€rkte. In der Mittelschicht drohen zwar keine unmittelbaren Deprivationsgefahren, aber viele glauben nicht mehr, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird als ihnen selbst (Schöneck, Mau und Schupp 2011). Kurz: Es gibt neue Dynamiken der gesellschaftlichen Mitte (Burzan und Berger 2010), welche auch zu neuen Unsicherheiten und StatusĂ€ngsten fĂŒhren (Lengfeld und Hirschle 2009).
Ziel dieser Studie ist es aufzuzeigen, wie sich die gesellschaftliche Schichtung besonders im Hinblick auf die Mittelschicht in den vergangenen mehr als 25 Jahren entwickelt hat. Dabei gehen wir in mehreren Schritten vor: Nach einer kurzen ErlĂ€uterung zu den verwendeten Daten und Konzepten (Kapitel 2) werden zunĂ€chst VerĂ€nderungen der Mittelschicht im Hinblick auf Einkommen (Kapitel 3) und Vermögen (Kapitel 4), aber auch Bildung und beruflichen Status dargestellt. Anders als in bisherigen Studien versuchen wir eine mehrdimensionale Bestimmung der Mitte zu geben (Kapitel 5). Dann wird die Frage aufgeworfen, ob die Wohlstandssorgen und AbstiegsĂ€ngste in der Mitte zugenommen haben (Kapitel 6). In einem letzten Schritt geht es um die VerĂ€nderung der Mittelschicht im europĂ€ischen Vergleich, wobei hier sowohl die Einkommenspositionierung wie auch subjektive soziale Unsicherheiten betrachtet werden (Kapitel 7). Im Schlusskapitel resĂŒmieren wir die wichtigsten Ergebnisse und ziehen Schlussfolgerungen fĂŒr die Zukunft der Mitte (Kapitel 8).
* Wir verwenden in dieser Publikation nicht durchgĂ€ngig eine geschlechtergerechte Sprache. Mit »Beamte«, »Arbeiter«, »KĂŒnstler« etc. sind immer auch Frauen gemeint.

2 Datenbasis und Methoden

Die folgenden Kapitel beruhen auf empirischen Analysen unterschiedlicher DatensĂ€tze. Die empirischen Analysen zu Deutschland basieren auf den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) (vgl. Wagner, Frick und Schupp 2007). Das SOEP ist eine reprĂ€sentative Wiederholungsbefragung von Personen in Privathaushalten, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 in Ostdeutschland jĂ€hrlich durchgefĂŒhrt wird. Im Jahr 2010 wurden rund 20.000 erwachsene Personen zu nahezu allen relevanten Lebensbereichen ausfĂŒhrlich befragt. Durch den LĂ€ngsschnittcharakter der Studie ist es möglich, gesellschaftliche VerĂ€nderungs- und MobilitĂ€tsprozesse angemessen zu beschreiben.
Die europĂ€isch vergleichenden Analysen basieren auf den Daten der European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC), die im Auftrag von Eurostat von den nationalen StatistikĂ€mtern erhoben werden. Die EU-SILC wurde 2004 gestartet und bietet sowohl LĂ€ngsschnitt- als auch Querschnittdaten zu den Themen Einkommen, Lebensbedingungen sowie Armut und soziale Ausgrenzung in Europa. Die Analysen in Kapitel 7 stĂŒtzen sich auf die Daten des Erhebungsjahrs 2009. Das Referenzjahr fĂŒr die Erhebung von Einkommen ist in den meisten LĂ€ndern 2008. FĂŒr das Jahr 2009 stehen Daten von Befragten aus 29 LĂ€ndern zur VerfĂŒgung: Belgien, Bulgarien, DĂ€nemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, RumĂ€nien, Schweden, die Slowakei, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, Ungarn, das Vereinigte Königreich und Zypern.
Als eine zentrale Variable zur Bestimmung der ökonomischen Mittelschicht wird im Folgenden das verfĂŒgbare Haushaltseinkommen verwendet, da dieses ein fĂŒr die gesamte Bevölkerung relevanter Wohlfahrtsindikator ist, der vergleichsweise einfach zu erheben und transparent nachzuvollziehen ist. Um unterjĂ€hrige Schwankungen der Einkommensposition – etwa aufgrund von saisonaler Arbeitslosigkeit oder unregelmĂ€ĂŸig anfallenden Einkommen wie KapitaleinkĂŒnften oder sogenannten Einmalzahlungen wie dem 13. Monatsgehalt oder Boni – zu berĂŒcksichtigen, werden hier die Jahreseinkommen analysiert. Im SOEP handelt es sich dabei um die retrospektiv fĂŒr das jeweilige Vorjahr erhobenen Einkommen, die um fehlende Werte ergĂ€nzt wurden. Im EU-SILC stehen unterschiedliche Einkommensdaten zur VerfĂŒgung, die teils – wie im SOEP – aus den Angaben aller Haushaltsmitglieder rekonstruiert werden, teils aus Registerdaten stammen, die den Surveydaten zugespielt wurden, und teils aus den Angaben des Haushaltsvorstandes. Da wir die Vermögen gesondert untersuchen, werden – sofern nicht explizit anders ausgewiesen – die Einkommensvorteile, die aus selbst genutztem Wohneigentum resultieren, bei der Analyse nicht eingerechnet.
Zur besseren Vergleichbarkeit der Einkommenssituation von Personen in Haushalten unterschiedlicher GrĂ¶ĂŸe und Zusammensetzung werden sogenannte bedarfsgewichtete oder Äquivalenzeinkommen berechnet. Im vorliegenden Bericht wird die modifizierte OECD-Äquivalenzskala angewendet: Der Haushaltsvorstand erhĂ€lt ein Gewicht von 1, alle weiteren erwachsenen Haushaltsmitglieder werden mit 0,5 und alle Kinder bis 14 Jahre mit 0,3 gewichtet. Das bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen ergibt sich aus dem Haushaltseinkommen geteilt durch die Summe der Bedarfe im Haushalt.
In den einkommensbezogenen Analysen werden in der Regel nicht nominelle oder reale (inflations- und kaufkraftbereinigte) Einkommenswerte dargestellt, sondern relative Einkommenspositionen. Diese errechnen sich durch das VerhĂ€ltnis der individuellen Äquivalenzeinkommen zum nationalen Durchschnittswert (des jeweiligen Jahres). Den ĂŒblichen Konventionen der EU und der OECD folgend, verwenden wir den Median zur Berechnung des nationalen Durchschnittseinkommens. Der Median ist der Einkommenswert, der die gesamte Population in zwei gleich große HĂ€lften teilt: eine obere HĂ€lfte mit höheren Einkommen als dem Median und eine untere HĂ€lfte mit geringeren Einkommen als dem Median. Anders als das arithmetische Mittel reagiert der Median damit nicht auf Ausreißer oder VerĂ€nderungen innerhalb der oberen EinkommenshĂ€lfte. WĂŒrden die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung ihr Einkommen schlagartig verdoppeln oder wĂŒrde ein riesiger Lottogewinn zufĂ€llig ĂŒber die obere EinkommenshĂ€lfte verteilt werden, so bliebe der Median unverĂ€ndert, weil er nach wie vor die Bevölkerung in zwei HĂ€lften teilt.
Die weiteren Konzepte zur Bestimmung des Vermögens, der Bildung und der beruflichen Klassenlage werden in den jeweiligen Kapiteln kurz erlÀutert.

3 Entwicklung und MobilitÀt der ökonomischen Mittelschicht

Will man die Mittelschicht möglichst einfach und direkt bestimmen, bietet es sich an, das Einkommen als Grundlage zu nehmen. In modernen Marktgesellschaften gibt das verfĂŒgbare Einkommen nicht nur Auskunft ĂŒber die Konsum- und Teilhabechancen, sondern indirekt auch ĂŒber die Erwerbsposition – da der grĂ¶ĂŸte Teil der Einkommen aus Erwerbsarbeit stammt – und damit grundsĂ€tzlich ebenfalls ĂŒber die soziale Position. Das Einkommen kann als allgemeines Äquivalent fĂŒr Lebenschancen und sozialen Status betrachtet werden: Letztlich sollte sich jede Art von individuellem Erfolg und sozialem Status, auf die sich die Zugehörigkeit zur Mittelschicht begrĂŒndet, auch im Einkommen niederschlagen. Das Einkommen eignet sich auch deshalb besonders gut fĂŒr Verteilungsanalysen, weil es ein transparenter, ĂŒber Zeit und Raum gut vergleichbarer Indikator ist, der – als numerischer ZĂ€hlwert – flexibel analysiert werden kann (zu den vielfĂ€ltigen Problemen bei der Erhebung bzw. Messung von Einkommen vgl. generell Canberra Group 2001). Damit ist jedoch auch umgekehrt die EinschrĂ€nkung verbunden, dass die Abgrenzung einer Einkommensmittelschicht arbitrĂ€r bleiben muss.
Das Bild einer »Mittelschichtgesellschaft« lĂ€sst sich vor allem anhand der Einkommensverteilung plausibel machen. Bolte, Kappe und Neidhardt (1975) haben das Bild der Einkommensverteilung moderner Gesellschaften mit der Form einer Zwiebel verglichen: Sie hat einen dicken Bauch der Mitte, ein eher stumpf zulaufendes unteres Ende der Armut und eine antennenförmig nach oben gestreckte Spitze des Reichtums. Damit unterscheidet sich die Ungleichheitsstruktur moderner, kapitalistischer Wohlfahrtsgesellschaften grundsĂ€tzlich von der anderer Gesellschaftstypen, insbesondere von der pyramidenförmigen Verteilungsstruktur frĂŒherer Epochen. Betrachtet man das Bild der Einkommensverteilung in Deutschland (im Jahr 2010), so lassen sich diese zwiebelförmigen ZĂŒge deutlich wiedererkennen. Mit der lang gestreckten Antenne des Reichtums, dem konvexen oberen und konkaven unteren Teil der Einkommensverteilung erinnert es vielleicht am ehesten an ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Das Wichtigste in KĂŒrze
  6. 1 Die Mittelschichtgesellschaft
  7. 2 Datenbasis und Methoden
  8. 3 Entwicklung und MobilitÀt der ökonomischen Mittelschicht
  9. 4 Entwicklung der Vermögen
  10. 5 Eine multidimensionale Betrachtung der Mitte
  11. 6 Subjektive EinschÀtzung der eigenen wirtschaftlichen Situation
  12. 7 Die Mittelschicht im europÀischen Vergleich
  13. 8 Schlussbetrachtung: Die Zukunft der Mitte
  14. Literatur
  15. Anhang
  16. Summary