Ich liege in meiner Schlafnische des Hauses, in das ich erst vor Kurzem endgültig eingezogen bin. Die Sonne dringt durch die Fenster der gegenüberliegenden Seite, und ihre Strahlen greifen bis in die Mitte des Raumes – fast bis zur Kochecke. An der Seite, auf der ich schlafe, ist das Haus von Bäumen umstanden. Mein Haus. Ich bin hier. Gestern Abend bin ich relativ früh ins Bett gegangen und gleich eingeschlafen, denn ich war ziemlich müde. Jetzt ist es erst halb sechs, und ich bin schon völlig munter. So früh am Morgen ist mir das lange nicht mehr passiert.
Ich denke an unsere Plattenbauwohnung im zehnten Stock. Im Sommer schien die Sonne dort vom frühen Morgen an ins Schlafzimmerfenster, man konnte ihr nicht entrinnen. Während ich arbeiten war, konnte ich die Bewegung der Sonne nicht verfolgen, höchstens mal am Wochenende, wenn es sonnig war. Erst nachmittags gegen halb zwei kam der gnadenbringende Schatten hervorgekrochen, die Sonne zog weiter und schien ins Wohnzimmer, doch sie war nicht mehr so intensiv. Ich habe mich dort manchmal wie in einem Adlerhorst gefühlt. Im Herbst sah ich den schweren Wolken zu, die unmittelbar über meinem Kopf hinwegzogen. Auf dem Dach nistete ein Turmfalken-Pärchen – so lautet die offizielle Bezeichnung dieser kleinen Raubvögel, die man von Weitem mit Tauben verwechseln könnte, würden sie nicht anders fliegen. Manchmal waren die eindringlichen Rufe der Falken den ganzen Tag über unserer Küche zu hören. Ich hatte das Wohngebiet wie auf einem Präsentierteller vor mir liegen. Alles war weit weg, alles war klein. Die in der Ferne aufragenden Berge wirkten wie ein kitschiges Gemälde. Sterne, Mond, Flugzeuge am Himmel, Wolken, Sonne – all das war in dieser Wohnung im zehnten Stock näher, dafür spürte ich die Erdanziehung stärker als anderswo. Ich beneidete die Falken darum, dass sie ihnen nicht gefährlich werden konnte.
Als mein Mann und ich über dieses Häuschen nachdachten, fürchtete ich, die Aussicht von dort oben würde mir fehlen, wo ich so lange einen freien Blick nach allen Seiten hatte. Sie fehlte mir nicht. Erst hier gestand ich mir ein, wie sehr ich die Höhe satt hatte. Es tat mir gut, mich an der Grenze zum Alter auf der Erde niedergelassen zu haben.
Trotzdem es noch früh ist sollte ich jetzt aufstehen, um mich von den Erinnerungen zu lösen. Es kommt mir vor, als hätten sie sich heiß gelaufen, ich bin ihrer müde, doch wenn ich nicht aufpasse, kommen sie immer wieder wie ein Film, der gegen meinen Willen in meinem Kopf als Endlosschleife läuft. Ich kenne ihn in und auswendig, sowohl vom Anfang, als auch vom Ende her … die einzelnen Sequenzen lassen sich auch nicht austauschen oder löschen, es macht einfach keinen Sinn, das Ganze erneut abzuspulen. Wie gern würde ich meine Erinnerungen in einem sicheren Safe ablegen, in dem sie nicht verderben können, denn ich habe insgeheim Angst, dass ich sie verliere und mir überhaupt nichts bleibt. So erkläre ich mir das – mir allein, es ist ja niemand sonst hier. Es ist, als würde ich mich jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Aufwachen von neuem vergewissern, dass sie nicht verschwunden sind, dass sie noch hier sind, bei mir. Die Erinnerungen an lange verlorene Menschen sind in jener Form erhalten geblieben, die mein Gedächtnis gespeichert hat. Doch manchmal geraten sie mir einfach außer Kontrolle, und ich finde nicht den Schalter, sie abzustellen. Und so schwirren die Erinnerungen und schwirren, und ich kann nicht einschlafen. Sie wecken mich auch am Morgen, es gelingt mir nicht, sie abzuschütteln.
Zum Glück kann ich aufstehen und etwas arbeiten. Vielleicht würde ja helfen, das Bett in eine andere Ecke des Hauses zu stellen, damit mich die Sonne nicht weckt, die zu dieser Jahreszeit morgens von der Kochecke bis zu mir ins Bett gekrochen kommt. Doch wenn ich dann überhaupt nicht mehr aufstünde? Vielleicht würde ich so den halben Tag verschlafen, vielleicht auch den ganzen. Niemand würde es merken, denn hier ist niemand. Nur ich mit meiner Befürchtung, ich könnte dann meine letzten Angewohnheiten verlieren. Ich werde das Bett also nicht an eine dunklere Stelle schieben, wenigstens vorläufig nicht. Inzwischen scheint mir die Sonne direkt in die Augen. Ich schließe sie. Noch eine Minute. Gleich, gleich stehe ich auf und mache mir eine Liste, welche Dinge ich heute erledigen werde. Nichts davon wird mich sonderlich berauschen, es wird aber auch nichts dabei sein, was mich anöden würde. Ich kann mir Frühstück machen, ich muss aber nicht, ich kann in den Garten gehen, ich muss aber nicht, ich kann die Veranda sauber machen …
Der Tag beginnt gerade erst. Genau wie der Sommer, auch wenn davon noch nicht viel zu merken ist. Ich weiß nicht, wie ich hier den Winter überstehen soll, doch darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Die Sonne scheint, und daran wird sich der heutige Tag ausrichten. Ich werde damit beginnen, mir einen Kaffee zu kochen, dazu werde ich getoastetes Brot und etwas von dem essen, was ich gestern eingekauft habe: Käse, Marmelade oder die Mettwurst. Den Vormittag über werde ich im Garten sein. Zum Mittag gibt es, was von dem gestern Gekochten übrig ist und danach werde ich mich ausruhen. Dann werde ich ein wenig sauber machen, vielleicht gehe ich auch in den Laden, vielleicht auch zur Post. Der Tag hat ja gerade erst begonnen.
Ich bin also endgültig hierher gezogen. Die Wohnung habe ich der Tochter überlassen. Ursprünglich hatten mein Mann und ich vor, in die Zweiraumwohnung der Tochter zu ziehen und ihr unsere Vierraumwohnung zu geben. Doch dann war uns klar geworden, dass wir uns in dieser kleinen Wohnung streiten würden. In der Vierraumwohnung konnten wir unsere Einsamkeit voreinander verbergen, doch in den zwei Zimmern würde das nur schwer gelingen. So hatten wir uns zu dem umfassenden Wohnungswechsel entschlossen und waren in diesem Häuschen auf dem Dorf gelandet. Wir hatten es nie angesprochen, doch im Stillen waren wir uns beide sicher, dass dieses Haus, auch wenn es nur einen Raum hatte, ausreichend unterteilt war, so dass wir zusammen sein könnten und uns gleichzeitig nicht im Wege wären. Mein Mann freute sich auf den Werkzeugschuppen, die Spaziergänge im Wald und das Angeln, ich auf den Garten. Wir machten uns keine Illusion, dass aus uns das ideale Rentnerehepaar werden würde, das Hand in Hand durchs Dorf spaziert, doch wir hofften, die Leere und die drückende Stille würden sich hier natürlicher und schmerzloser auflösen als in der rastlosen Stadt ohne Grün. Endlich konnten wir uns auf etwas freuen. In der Stadtwohnung hatte sich die Freizeit allmählich mit sinnlosen Stereotypen angefüllt, auch wenn wir uns das nicht eingestehen wollten. Und als wir uns geeinigt hatten, hier in dieses Haus zu ziehen, bekam mein Mann einen Herzinfarkt. Es ging wahnsinnig schnell. Die Ärzte sagten, der Infarkt sei gnädig gewesen. Obwohl der Umzug bereits vorbereitet war, mietete ich mir in der Stadt eine Einraumwohnung und dachte darüber nach, dieses Haus aufzugeben. Was sollte ich denn allein damit anfangen?
Wenn die Tochter mit ihrem Mann endgültig in unsere alte Plattenbauwohnung zieht, werde ich diesen gesamten Bereich meines Lebens verlieren. Sie hat bereits mit der Renovierung begonnen. Den Raum, in dem ich das Erwachsenwerden und meine Ehe erlebte, den Raum, in dem wir Kinder großzogen – es wird ihn nur noch in meiner Erinnerung geben, und sie wird zusammen mit meinem Gedächtnis verblassen und sich verlieren. Doch das wird immer noch besser sein, als sie jeden Morgen und jeden Abend herbeizurufen und dann wieder zu verscheuchen. Eigentlich ist es doch gut, dass ich mich um diese Wohnung nicht mehr kümmern muss, ich muss nicht länger in allen Ecken Staub wischen, auch nicht, wenn ich bei der Tochter Blumen gieße und lüfte, so lange sie im Ausland ist.
Ich habe mich schon immer schwer damit getan, einen angestammten Lebensbereich zu verlassen. In meinem bisherigen Leben bin ich erst zwei Mal umgezogen – von den Eltern in die Plattenbauwohnung, in der ich bis vor Kurzem mit meinem Mann gelebt habe, und von dieser Wohnung hier in das Haus. Wir dachten, wir hätten Zeit, uns allmählich im eigenen Haus einzuleben. Doch der Tod kam. Urplötzlich, unumkehrbar, schockierend und unangekündigt wie er letztendlich immer kommt, selbst wenn er herbeigesehnt wird und das Totenbett bereits durchgelegen ist. Und das Leben geht weiter, als sei nichts geschehen.
Die Leute, die ich hier kennenlerne, bringen keinen Mann mit mir in Verbindung, weder einen lebendigen noch einen toten. Sie kennen mich ohne. Sie können sich nicht einmal daran erinnern, dass wir ein paar Mal gemeinsam hier waren. Für sie gibt es nur noch mich. Ich fühle mich unvollständig. Manchmal aber auch befreit. Doch das sage ich nicht laut.
»Die Welt ist blind und unaufmerksam« hat mal jemand zu mir gesagt. Ich selbst beachte den Schmerz anderer ja auch nicht, jedenfalls nicht so, wie sie es nötig hätten. Dass traurige Menschen egoistisch sind, habe ich schon vor längerer Zeit festgestellt, doch jetzt wird mir klar, dass auch ich so geworden bin. Es gelingt mir nicht, etwas dagegen zu tun. Vielleicht geht es ja irgendwann vorüber, vielleicht auch nicht, egal. Die Leute hier nehmen mich so wie ich jetzt bin. Und auch das ist mir egal. Jedenfalls bis jetzt.
Die Zahl meiner Toten wächst. Manchmal komme ich mir vor wie im Krieg. Ich zähle die Gräber, ich zähle jene, die dort sind. Bisweilen scheint mir, als seien dort mehr von den Meinen als hier, doch dann weise ich mich selbst darauf hin, dass ich bei dieser Rechnung die Tochter und den Sohn nicht gebührend berücksichtige. Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass sich lichtende Reihen zur zweiten Lebenshälfte dazugehören, also zu den Jahren jenseits der fünfzig, und ich bereits in die Lebensphase eingetreten bin, in der die mir wichtigen Toten langsam aber stetig eine längere Reihe bilden, als die mir wichtigen Lebenden. Mit den Lebenden entschwindet die Welt, wie ich sie von meiner Kindheit und Jugend her kenne. Das Leben geht weiter, doch für mich rückt mit jedem Menschen, der dorthin übertritt, die Grenze näher. Schließlich werde auch ich sie passieren. Ich plane zwar vorerst noch nicht, mich aufzumachen, doch man kann es nie wissen. Und meine Kinder werden hier bleiben, in einer anderen, neuen Welt.
Ich muss etwas tun. Dafür bin ich schließlich hier, in diesem Haus. Zum Glück gibt es hier immer irgendeine Arbeit. Der Blumengarten, der Rasen, die Gemüsebeete. Niemand verlangt von mir, dass ich etwas davon erledige. Nicht einmal ich verlange es von mir. Doch selbst eine unnötige Tätigkeit ist besser als nichts. Im Sommer wird es Arbeit zuhauf geben, doch schon jetzt, da der Frühling in den Sommer übergeht, ist draußen viel zu tun. Wer weiß, ob hier der Sommer genauso schnell vorübergeht. Und wie wohl der Herbst wird, und der Winter? Werde ich es hier aushalten? Schon wieder eile ich mir selbst voraus. Bislang habe ich dafür immer draufgezahlt.
Ich plane mir meine Tage, um die Pläne dann nach Belieben operativ zu ändern. Am Nachmittag räume ich die Kochecke auf, und mir wird dabei klar, dass ich weder Lust habe, in den Laden zu gehen, noch zur Post. Ich kann alles auf morgen verschieben. Draußen ist es herrlich, doch ich bin ja frei, ich muss nicht hinaus stürzen, nur weil gerade ein schöner Tag anbricht, schließlich kann ich das jederzeit tun, auch wenn ein vernichtender Wind geht oder wenn es gießt. Ich muss mich nicht nach den Wetterprognosen für das Wochenende richten und Angst haben, dass es genau an den freien Tagen regnet. Draußen ist also ein herrlicher Tag, und mir ist klar, dass mir nichts davonrennt, ich werde ganz in Ruhe auf den Dachboden steigen, vielleicht gehe ich auch in den Keller. Im Garten war ich heute ja schon, und ich kann dort wieder hingehen, wann immer ich will. Dieses Gefühl tut mir gut. Ich muss nicht, ich kann, wann es mir gefällt. Ich habe Lust darauf, alle Räume des Hauses, in dem ich wohl den Rest meines Lebens verbringen werde, nacheinander gründlich durchzusehen. Eine seltsame Vorstellung. Werde ich mich von hier tatsächlich nicht mehr wegrühren?
Mein Mann und ich mussten hier nicht viel Hand anlegen. Wir haben nur gemalert und sauber gemacht. Der Architekt, der uns das Haus verkaufte, hatte es erst knapp zwei Jahre zuvor fertiggestellt. Er hatte es nur selten genutzt, und wenn, dann als Wochenendhäuschen und während des Urlaubs. Das Haus war komplett fertig bis ins kleinste Detail, wir änderten nur ein paar Kleinigkeiten. Als seine familiäre Situation sich unvermittelt und drastisch veränderte, beschlossen er und seine Frau in aller Eile zu den erwachsenen Kindern nach Australien zu ziehen. Das Haus wollte er so schnell wie möglich loswerden, er brauchte Geld.
Als wir zum ersten Mal herkamen, konnte ich kaum glauben, dass dieses, von außen unauffällige und nicht sonderlich ansprechende, dafür innen umso schöner gestaltete Haus auf uns wartete. Die Dame vom Maklerbüro erklärte uns, ein solches Haus entspreche nicht den Vorstellungen der gewöhnlichen Kunden von einem Wochenendhaus, und es eigne sich auch nicht als ständiger Wohnsitz für eine Familie mit Kindern. Der Architekt hatte die ursprüngliche äußere Form belassen – es war ein unauffälliges Gebäude aus den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, wie man sie auf den Dörfern zu Hunderten findet. Innen war es jedoch von Grund auf umgebaut worden. Betrat man es, hatte man das Gefühl, in eine andere Dimension einzutauchen. Das Haus hat keine separaten Zimmer, nur verschiedene Nischen. Eine davon ist die Kochecke, die über eine Lüftung verfügt; der restliche Teil des Innenraumes besteht aus einem einzigen Raum, von dem nur das Bad mit dem WC durch eine Wand abgetrennt ist. Der Architekt hatte auch die Speisekammer abgerissen, dafür richtete er im vorderen Teil des Kellers einen Vorratsraum ein. Im hinteren Teil befindet sich ein Raum, in dem man Obst einkochen, konservieren und trocknen kann, dort lassen sich auch Nüsse lagern, und in einer Ecke mit sauberem Sand Gemüse und Kartoffeln.
In der Draufsicht bildet das Haus ein klassisches Quadrat, das nur eine einzige Unregelmäßigkeit aufweist – die Veranda zum Garten hin. Einst muss es hier zwei mittelgroße Zimmer und ein sehr kleines Zimmer gegeben haben, dazu eine Küche, einen L-förmigen Flur, ein Bad sowie eine Toilette. An die Küche wird sich die Kammer angeschlossen haben, denn an dieser Seite gibt es nur ein kleines Fenster. Ich kann mir das nur ungefähr zusammenreimen, denn der alte Grundriss ist verloren gegangen. Die Hausecken wurden zu Nischen, die durch Tisch, Couch, Öfen oder mittels Raumteiler voneinander abgetrennt sind. Das Fenster zur Straße hin ist höher gelegen, der Architekt hat es offenbar etwas hoch gesetzt und unten zugemauert, und so kann ich, wenn ich will, von drinnen die ganze Straße überblicken, von draußen hineinzuschauen ist aber unmöglich, außerdem kann ich noch die Jalousien herunterlassen.
Die meisten Nischen im Haus sind Wohnnischen, ich kann von der einen in die andere ziehen oder einfach kurz hinüberrutschen. Von der Bank unter dem zum Garten zeigenden Fenster rüber zum Tisch und der Kommode in der Nische, die zwar kein richtiges Fenster hat, in die aber tagsüber durch das oben eingelassene, einst wahrscheinlich zur Speisekammer gehörende Fensterchen genug Licht dringt, sodass man darunter sogar lesen k...