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About this book
In Form mehrerer Debattenbeiträge und Interviews liefert "Russlandkrise" neue Perspektiven und Lösungsansätze, die sich jenseits dessen bewegen, was man aus der Tagespresse kennt. Hochkarätige Gastautoren wie die Historikerin Anne Applebaum, der russische Botschafter Wladimir Grinin und der Russland-Beauftragte der Bundesregierung Gernot Erler garantieren neue Erkenntnisse und einen Blick hinter die Kulissen des gefährlichsten Konflikts dieser Tage.
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Information
GESPRÄCH MIT ANNE APPLEBAUM
„Wie weit
erlauben wir Putin
zu gehen?“

Die polnisch-amerikanische Historikerin Anne Applebaum fordert Europa auf, aus seiner Passivität zu erwachen. Wladimir Putin verfolge einen lang angelegten Plan. Seinen guten Draht nach Deutschland sieht sie kritisch.
The European: Frau Applebaum, warum haben immer noch so viele Menschen ein schlechtes Bild von Osteuropa?
Applebaum: Weil sie noch nicht dort waren und keine Ahnung haben, was dort passiert. Sie sind immer noch in alten Stereotypen verfangen. Es ist einfach nicht mehr sinnvoll, den Osten als separaten Teil Europas zu betrachten. Wir sprechen doch auch nicht mehr vom österreichischen Habsburger-Reich oder dem napoleonischen Frankreich.
Was muss passieren, damit sich das ändert?
Wir müssen aufhören, die osteuropäischen Länder – oder genauer, die zentraleuropäischen – als ehemalige kommunistische Staaten zu bezeichnen. Die politischen und wirtschaftlichen Probleme dieser Länder unterscheiden sich nicht vom Rest des Kontinents.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Es gibt einen starken rechten Flügel in Ungarn, aber den gibt es auch in Frankreich – und er ist dort sogar noch größer. Die Wirtschaft in Bulgarien schwächelt, aber wissen Sie was? Die in Italien ebenso! Und genau wie im Westen gibt es auch im Osten Erfolgsgeschichten. Polen hat 2009 keine Rezession erlebt. Lettland zwar schon, aber es konnte sich gut davon erholen.
Bevor wir über Polen sprechen, würden wir gerne noch über Europa reden. Sie haben Ihre Perspektive auf den Kontinent einmal als „merkwürdig“ beschrieben.
(lacht) Ja, ich finde es ehrlich gesagt sogar schwierig zu erklären, was meine Perspektive genau ist. Mit Ausnahme einer kurzen Zeit in den USA habe ich in den letzten 20 Jahren in Europa gelebt. Ich war entweder in Polen oder Großbritannien, habe in Deutschland und Ungarn gearbeitet und ein bisschen in Frankreich. Ich kann also vor allem von diesem Standpunkt aus kommentieren.
Haben Sie denn in Ihrer langen Zeit hier eine Antwort gefunden auf das berühmte Henry-Kissinger-Zitat „Wen rufe ich an, …
… wenn ich Europa sprechen will?“ Ich wünschte, ich könnte den Amerikanern Europa besser erklären. Und im Grunde genommen mache ich das auch mit meinen Kolumnen. Aber ich weiß immer noch nicht, wen man anrufen muss. Wobei, vielleicht ist es seit Neuestem Angela Merkel.
Warum gerade sie?
Die Krim-Krise hat etwas in Europa verändert. Nicht nur die EU-Institutionen wurden aus Verhandlungsprozessen ausgeschlossen, sogar die Polen und die Schweden – beide spielten zuvor eine sehr wichtige Rolle im Integrationsprozess Osteuropas. Merkel war plötzlich die einzige Person, die mit Putin gesprochen hat. Das war sehr befremdlich.
Vielleicht liegt das an den sprachlichen Gemeinsamkeiten. Merkel spricht russisch, Putin deutsch.
Das ist keine zufriedenstellende Antwort! Andere Leute sprechen andere Sprachen. Ganz im Ernst, dieser Dialog hat viele Leute geschockt. Für die Osteuropäer war es entsetzlich, dabei zusehen zu müssen, wie Deutsche und Russen gemeinsam die Zukunft von Europa ausdiskutiert haben.
Im Frühjahr 2014 haben Sie in einem Artikel geschrieben, der Ukraine-Konflikt sei kein Krieg und nicht mit Waffen zu gewinnen. Wie stehen Sie heute dazu?
Ich bin mir nicht sicher, in welchem Kontext ich das geschrieben habe. Wenn ich über die Lage im Inneren der Ukraine geschrieben habe, dann stimmt die Aussage immer noch. Der Unterschied ist, dass Russland seitdem in die Ukraine einmarschiert ist.
Darauf wollten wir hinaus.
Es ist eine Invasion. Und natürlich waren Waffen nötig, um die Russen vom Durchmarsch abzuhalten. Die Situation hat sich seit Februar dramatisch verändert. Ja, es ist ein Krieg – ein ziemlich merkwürdiger.
Was macht ihn so merkwürdig?
Dass er in so vielen verschiedenen Sphären geführt wird: in Propaganda-Schlachten, wirtschaftlich und auf den Straßen. Es mag sein, dass wir noch nicht das Ende der militärischen Auseinandersetzungen gesehen haben. Es sind immer noch russische Truppen in der Ukraine.
Putin hat gesagt, dass die Krim Teil von Russland ist. Als Historikerin: Stimmen Sie dem zu?
So gesehen ist das Elsass auch ein Teil von Deutschland und Irland ein Teil von Großbritannien. Man kann solche Argumente oft anbringen. Die Krim wurde etliche Male ethnisch gesäubert. Die Ureinwohner leben schon lange nicht mehr dort. Stattdessen eine große Anzahl pensionierter sowjetischer Militärs. Das ist ziemlich einmalig. Aber wenn wir anfangen zu argumentieren, was historisch wem gehört, und die Grenzen per Gewalt ziehen, kommen wir sehr nahe an eine Situation, die wir nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen.
Und da wollen wir auch nicht wieder hin …
Ich will das definitiv nicht.
Es gibt viele Menschen in Deutschland, die die harsche Kritik an Russland in den Medien und der Politik für Russlands Kurs mitverantwortlich machen.
Das stimmt doch gar nicht, wir haben die Russen nicht wirklich hart kritisiert!
Sollten wir sie noch mehr kritisieren?
Putin hat seine Macht in den letzten 15 Jahren vor unseren Augen gefestigt und ausgebaut. Das hat er gemacht, indem er die Zivilgesellschaft zerstört, die Pressefreiheit eingeschränkt und die Privatwirtschaft geschwächt hat. Und: Er hat das alles sehr offensichtlich gemacht.
Meinen Sie, Putin hatte einen lang angelegten Plan?
Ja. Er hat die Dekade zwischen 1990 und 2000 damit verbracht, russisches Geld zu stehlen und damit seinen eigenen Wirtschaftsklüngel heranzuziehen. Heute herrscht dieser Klüngel über Russland. Es gab so gut wie keinen Widerstand dagegen und nur sehr wenig Kritik daran. Erst mit der Invasion in der Ukraine ist die Kritik lauter geworden. Aber es gibt natürlich noch Dialog, Putin spricht immer noch mit einigen europäischen Führern. Mit Silvio Berlusconi zum Beispiel hat er sich in Mailand betrunken.
Auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder pflegt ein inniges Verhältnis zu Putin.
Die Frage, die sich stellt, ist: Wo ziehen wir die rote Linie? Wie weit erlauben wir Putin zu gehen? Denn auf der Propaganda-Seite bereitet Putin das, was jetzt passiert, schon viele Jahre vor – auch in Deutschland.
Haben Sie dafür ein paar Beispiele?
Russland subventioniert Kultureinrichtungen in Deutschland. Viele der Leute, die im deutschen Fernsehen über Russland sprechen, arbeiten auf die eine oder andere Weise für das Land. Es gibt eine Menge russischer Unternehmen und Investitionen in Deutschland. Russisches Geld ist nur sehr selten neutral. Denken Sie an Gazprom.
Eine der größten Firmen der Welt und Teil der russischen Strategie.
Gazprom ist eine Form russischer Außenpolitik. Das ist nicht dasselbe wie – sagen wir – Shell. Gazprom gehört den Leuten, die den Kreml kontrollieren, und ist eines ihrer Werkzeuge. Gazproms Aktivitäten in Deutschland – einschließlich des Kaufs eines Fußballvereins – ist russische Propaganda.
Also sind Deutschland und der Rest des Westens mitverantwortlich, dass Russland geworden ist, was es ist?
Alles hat mit Korruption zu tun. Wenn man sich anschaut, wie die russischen Oligarchen reich geworden sind: Die haben fast alle westliches Offshore-Banking benutzt. Sie haben ihr Geld zusammen mit der russischen Mafia angelegt. Die Firmen haben ein Doppelleben geführt – ein legales und ein illegales.
Auch in Europa haben wir Offshore-Systeme, wie die „Luxemburg Leaks“ gezeigt haben.
Ja, das ist ein Echo davon. Die Russen haben den Rest der Welt inspiriert, es ihnen nachzumachen. Es gab mal eine Zeit, da war Offshore-Banking eine windige Angelegenheit. Jetzt ist es riesig. Es ist nicht mehr nur russisches Geld, sondern auch kasachisches, chinesisches und so weiter. Europa und die USA ermöglichen diese Form der Korruption auf der ganzen Welt. Das ist eine Entwicklung, die mich sehr beschäftigt.
Was Sie ebenfalls sehr beschäftigt, ist Polen. Haben Sie die polnische Entwicklung hin zu einem der wichtigsten europäischen Länder erwartet?
Als ich 1987 nach Polen kam, war es ein kommunistisches Land. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihm mal werden wird. Und obwohl ich Ihre Analyse teile, bin ich mir nicht sicher, ob die Polen selbst es auch tun.
Wieso?
Die Polen sind sehr kritisch mit ihrem eigenen System. Sie fühlen sich in ihrer neuen Rolle noch sehr unsicher und wissen nicht, wie sie von außen betrachtet werden.
So überraschend ist das doch gar nicht. Auch im Westen trifft man immer wieder auf diese Vorurteile.
Es dauert zehn Jahre, bis das Bild eines Landes tatsächlich der Realität entspricht. Ich habe das Gefühl, dass sich in Wirtschaft und Politik die Wahrnehmung von Polen schon gewandelt hat. Wir sind nicht so weit entfernt davon, dass das auch in der Gesellschaft passiert.
Was macht Polen so wichtig?
Ein Teil der Antwort ist, dass Polen erfolgreich ist. Auch hier würden die Polen sagen: Wir sind nicht erfolgreich! Außerdem ist Polen das einzige Land in seiner Region mit einer Großmacht-Mentalität. Es hat eine echte Außenpolitik, es denkt strategisch, es hat Institutionen, die strategisch über die Welt und das transatlantische Bündnis nachdenken. Polen ist ein Vorbild für vie...
Table of contents
- Cover
- Titel
- Impressum
- Inhalt
- Die neue Buchreihe „The European Edition“
- Ein Plädoyer für Grautöne
- Ein russischer Sonderweg
- Psycho-Spiele
- Falsches Harmoniebedürfnis
- Es werden bessere Zeiten kommen
- Zu Gast bei Fremden
- „Reflexartige Politik“
- „Russlands Sicht der Dinge ist die richtige“
- „Wie weit erlauben wir Putin zu gehen?“
- Spielmacher