Umweltgeschichte: Ein Plädoyer für Rücksicht und Weitsicht
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Umweltgeschichte: Ein Plädoyer für Rücksicht und Weitsicht

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Umweltgeschichte: Ein Plädoyer für Rücksicht und Weitsicht

About this book

Umweltgeschichte untersucht die Ursachen und Folgen langfristiger Entwicklungen in der Vergangenheit. Aus diesem Wissen sind die Unsicherheiten, möglichen Nebenwirkungen und unerwarteten Synergien in der Zukunft abzuleiten. Einsicht, Umsicht, Voraussicht, Rücksicht auf Natur und Menschen aber auch Zuversicht sind nötig, um die umfassende gesellschaftliche Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu bewerkstelligen. Ein solches Denken erfordert neue Wege der Ausbildung, des Handelns und der Bewertung. Umweltgeschichte liefert Einsichten, etwa in die Geschwindigkeit natürlicher und gesellschaftlicher Prozesse, Einsicht in die Unumkehrbarkeit vieler Eingriffe, oder in die langfristigen negativen Folgen kurzfristig erfolgreicher Anpassung. Die Wandelbarkeit unserer Wahrnehmungen und Bewertungen ist ebenso Thema wie die Antriebskräfte des Wandels im Anthropozän. Das Futterhäuschen 'Kontraspatz', die sowjetischen Großbauten des Kommunismus, die Bewässerungsanlagen der Hohokam im Südwesten der heutigen USA und die Geschichte der Niederlande machen diese Einsichten praktisch greifbar.

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Information

Umweltgeschichte:
Ein Plädoyer für Rücksicht und Weitsicht

Beobachtungen im Hier und Jetzt

2013 war ein aktives Jahr für die Bemühungen um einen besseren Schutz der Umwelt: Ein neuer Sachstandsbericht des IPCC, des Intergovernmental Panel on Climate Change (deutsch oft als Weltklimarat bezeichnet), wurde veröffentlicht und mehr Klarheit als je zuvor wurde erreicht: Der Klimawandel ist mit hoher Wahrscheinlichkeit überwiegend auf menschliche Eingriffe zurückzuführen (IPCC 2013).
Mehr als sieben Milliarden Menschen bevölkern die Erde. Sie eignen sich durch den Anbau von Kulturpflanzen inzwischen etwa 25–30 Prozent der über die Fotosynthese insgesamt produzierten Energie an – als Nahrung, Brennstoff oder Rohmaterial (Haberl et al., 2007). Der anhaltend sehr hohe Verbrauch fossiler Brennstoffe lässt den CO2-Gehalt der Atmosphäre weiter ansteigen, mit Folgen nicht nur für das Klima. Die Ozeane versauern und es wird Tausende Jahre dauern, bis diese Versauerung wieder zurückgeht (Tyrell, 2011). Häufig werden die Menschen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten erinnert, wenn es zu schweren Erdbeben, Tsunamis, großflächigen Wald- und Torfbränden oder tropischen Stürmen kommt.
Doch es gibt auch Gutes zu berichten. Die Weltgemeinschaft hat sich entschlossen, aus einer der giftigsten Technologien auszusteigen. Die Quecksilberkonvention (Minamata-Konvention) wurde im Oktober 2013 von 92 Staaten unterzeichnet. Auch wenn es Jahre dauern wird: Der Wille, die Nutzung dieses hochgiftigen Schwermetalls aufzugeben, erfüllt mit Hoffnung. Ebenso weckt die in Deutschland ausgerufene Energiewende positive Erwartungen. Diese Entscheidung war vorbereitet durch den Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltfragen (WBGU), ein hochrangiges Beratungsgremium der deutschen Bundesregierung, dessen Jahresgutachten 2011 von der Notwendigkeit einer »großen Transformation« handelt, die auf Einsicht, Umsicht und Voraussicht baut: Die freiwillige Beschneidung von Optionen herkömmlichen Wirtschaftswachstums zugunsten der Sicherung von Freiheitsräumen für künftige Generationen sei unabdingbar. Der Zivilgesellschaft komme eine bedeutende Rolle als Mitgestalterin für das Gelingen des Transformationsprozesses zu. Bürgerinnen und Bürger sollen die Transformation in Bewegung setzen und den Prozess durch ihre Partizipation legitimieren. Sehr eindringlich ist die Mahnung formuliert, dass der »fossilnukleare Metabolismus« der Industriegesellschaft keine Zukunft hat. Je länger an ihm festgehalten wird, desto höher werde der Preis für die nachfolgenden Generationen sein. In der Transformation bestehe, so der Beirat, eine Alternative, die allen Menschen zumindest die Chance auf ein gutes Leben in den Grenzen des natürlichen Umweltraums eröffnen könnte (WBGU 2011).
Wir meinen: Zu Einsicht, Umsicht und Voraussicht muss Zuversicht treten. Eine umfassende gesellschaftliche Transformation braucht zuversichtliche Menschen, die Neues entwerfen wollen und die sich mutig in unbekanntes Terrain vorwagen. Andererseits müssen sie bei jeder ihrer Handlungen Rücksicht auf Natur und Menschen nehmen. Ein solches Denken erfordert neue Wege der Ausbildung, des Handelns und der Bewertung.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt die Europäische Umweltagentur. »Es ist etwas grundlegend falsch an der Art, wie wir heute leben. Ungleichheit überall um uns ist wie eine aggressive Krankheit, ob es nun um eine sichere Umwelt, um das Gesundheitssystem, um Bildung oder um Zugang zu sauberem Wasser geht. Diese Ungleichheiten werden durch kurzfristige politische Maßnahmen und eine sozial spaltende Sprache, die auf der Verklärung von Reichtum beruht, verstärkt. Eine fortschrittliche Antwort erfordert nicht nur mehr Wissen über den Zustand des Planeten und seiner Ressourcen, sondern auch ein Bewusstsein darüber, dass viele Aspekte unbekannt bleiben werden. Wir brauchen eine stärker ethisch bestimmte Form der öffentlichen Entscheidungsfindung in einer Sprache, in der unsere moralischen Bedürfnisse und Anliegen besser ausgedrückt werden können.« (EEA, 2013, Übersetzung d. A.)
Die Umweltagentur hat die Geschichten des Berylliums, das in der Atomwaffenindustrie beschäftigten Arbeitern eine chronische Lungenkrankheit bescherte, des Tetrachlorethens, das als giftige, organische Chlorverbindung in vielen Kunststoffwasserleitungen vorkommt, von Blei, das Benzin zwecks höherer Klopffestigkeit seit 1925 zugesetzt wurde, und von DDT, Bisphenol A und weiteren Substanzen, deren Gefährlichkeit wesentlich früher hätte erkannt werden können, zusammengestellt. Quecksilber, Klimawandel, gentechnisch veränderte Organismen, die Wirkung von durch Medikamente ins Wasser gelangenden Hormonen auf Fische, Hochwasser und die Frage des Hirntumorrisikos bei Handynutzung bilden weitere Schwerpunkte. Eine ethische Entscheidungsfindung, wie sie die Umweltagentur fordert, bedarf allgemein verständlicher Informationen und erfolgreicher, transparenter Verbreitungsstrategien, um zivilgesellschaftliche Lernprozesse in Gang zu bringen. (EEA, 2013)
Wie soll angesichts solcher Herausforderungen Zuversicht entstehen, ohne die Einsicht, Umsicht und Voraussicht nicht wirksam werden? Wir müssen verstehen, dass die notwendige gesellschaftliche Transformation weit mehr ist als ein Wandel des Energiesystems und damit eine drastische Reduktion des Einflusses von Menschen auf Energie-, Wasser- und Stoffhaushalte und damit auf das Klima. Es werden Menschen gebraucht, die in Denken und Handeln zuversichtliche Pioniere des Wandels werden.
Eine Reise in die Geschichte des menschlichen Umgangs mit Natur kann hierfür wichtige Anregungen liefern. Das neue Fachgebiet der Umweltgeschichte erarbeitet die wissenschaftlichen Grundlagen. Dank dieser interdisziplinären Wissenschaft sind Zeitreisen in vergangene Umwelten inzwischen virtuell möglich. Illustrierte Forschungsreiseberichte von Tibet bis zur Osterinsel, von Grönland bis in den Sahel, von der Jungsteinzeit bis (fast) zur Gegenwart haben die Autoren dieses Textes in einer illustrierten Umweltgeschichte andernorts zusammengestellt (Winiwarter und Bork, 2014). Dieses kleine Buch beruht auf dem, was wir aus den darin vorgestellten Fällen gelernt haben.
Wie lernen Gesellschaften? Die anzustrebende Transformation setzt einen Lernprozess voraus, in dem die Natur als sich verändernde und von Menschen veränderte Umwelt die zentrale Rolle spielt. Gesellschaftliches Lernen ist nicht einfach die Summe individueller Lernvorgänge, wenngleich Individuen in Prozessen gesellschaftlichen Lernens durchaus etwas lernen (Hoffmann et al., 2007). Gesellschaften müssen sich selbst beobachten, um eine Grundlage für Eingriffe zu haben. Was sehen wir durch die Brille der Umwelthistorikerinnen und Umwelthistoriker, wenn wir die Geschichte der Menschheit langfristig betrachten? Die Umwelteffekte menschlicher Eingriffe vollziehen sich oftmals schleichend; manchmal treten sie sehr schnell ein. Sie wirken auf alle Umweltsysteme und damit auf alle Lebewesen. Überraschende Umwelteffekte sind normal.
Niemand vermag, ausgestorbene Tiere wieder lebendig zu machen. Können wir verhindern, dass weitere aussterben? Niemand vermag die Natur früherer Zeiten wiederherzustellen. Können wir aber für unsere Umwelt und damit für unsere Zukunft Vorsorge tragen? Dafür müssen wir über frühere Nutzungen und den Zustand vergangener Landschaften genau Bescheid wissen. Umweltgeschichte erforscht Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt in der Vergangenheit mit Blick auf die Zukunft. Dabei sind wichtige Einsichten zu gewinnen.

Umwelthistorische Einsichten

Einsicht in Dynamik

Die Natur ist hochdynamisch. Das zeigen nicht nur das Wetter, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis und Hochwasser, das zeigt sich auch in unserem ständigen Kampf gegen Krankheitserreger. Grippeviren mutieren so schnell, dass wir jedes Jahr einen neuen Impfstoff brauchen. Resistenzen gegen Pflanzenschutzmittel entwickeln sich innerhalb weniger Jahre.
Auch Gesellschaften verändern sich ständig. Seit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht in der Neolithischen Revolution versuchen sie, die Dynamik der Natur zu kontrollieren. Derartige Versuche der Kontrolle haben Nebenwirkungen, Kontrolle ist nicht langfristig oder global möglich.
Niemand hat diese Dynamik in ein eingängigeres Bild gefasst als Lewis Carroll in seinem Kinderbuchklassiker. Die kleine Alice ist bei der Roten Königin zu Gast. Doch dieser Besuch ist überraschend unruhig:
»Los! Los«, schrie die Königin. »Schneller! Schneller!« Zuletzt sausten sie so schnell, dass sie beinahe dahinflogen und ihre Füße kaum mehr den Boden berührten. Doch plötzlich, als Alice wirklich nicht mehr konnte, hielten sie an; und Alice plumpste ganz erschöpft und schwindlig auf die Erde. Alice sah sich verblüfft um. »Aber waren wir nicht die ganze Zeit unter dem Baum? Alles ist genau wie vorher.« »Selbstverständlich«, sagte die Königin....

Table of contents

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Umweltgeschichte: Ein Plädoyer für Rücksicht und Weitsicht