Ich glaube an die Tat
eBook - ePub

Ich glaube an die Tat

Im Einsatz fĂŒr FlĂŒchtlinge aus Syrien und dem Irak

  1. 192 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub

Ich glaube an die Tat

Im Einsatz fĂŒr FlĂŒchtlinge aus Syrien und dem Irak

About this book

Schwester Hatune Dogan erlebte als Kind in der TĂŒrkei selbst Verfolgung. Als ihr Vater wegen seines christlichen Glaubens eine Todesdrohung erhielt, flohen sie nach Deutschland. Im Nahen Osten steht Schwester Hatune aktuell mit ihrem Hilfswerk vielen FlĂŒchtlingen aus Syrien und dem Irak bei. Sie macht das Schicksal von vergewaltigten und entfĂŒhrten christlichen und jesidischen MĂ€dchen im Westen bekannt. Oft ist sie die Erste, die ihnen zuhört. Die das Leid aushĂ€lt, von dem Christen und Muslime erzĂ€hlen. Ein fesselnder, aufrĂŒttelnder Bericht, der auch unbequeme Fragen zum Islam stellt. SPIEGEL online schrieb, wenn man Hatune Dogan mit ihrer PlastiktĂŒte sehe, ahne man nicht, dass sie "eine humanitĂ€re Großmacht ist".

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
At the moment all of our mobile-responsive ePub books are available to download via the app. Most of our PDFs are also available to download and we're working on making the final remaining ones downloadable now. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Ich glaube an die Tat by Hatune Dogan, Tonia Riedl in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Theologie & Religion & Religiöse Biographien. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Teil 1:
Weil ich selbst ein FlĂŒchtling bin 


image

Flucht

1984, Zaz im Tur Abdin, SĂŒdosttĂŒrkei

Niemand hatte an das Gewehr gedacht. Weder mein Vater noch ich. Das Gewehr trug ich immer bei mir, wenn ich nachts zu meinem Vater auf den Weinberg ging. Erst schĂŒtzte es mich auf dem Weg durch die Dunkelheit, dann uns beide bei der Nachtwache. Doch in dieser Nacht, in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1984, sollte ich nicht wie sonst auf den Weinberg kommen.
„Bleib heute zu Hause“, sagte mein Vater. „Du wirst hier mehr gebraucht.“ Er blickte kurz zum Haus, in dem meine Mutter gerade das Abendessen zubereitete. Meine Ă€lteste Schwester war mit ihrem Mann zu Besuch. Sie wohnten viele Kilometer entfernt, an der Grenze zum Irak, und kamen nicht oft zu uns. Zur Feier des Tages hatte mein Vater am Morgen zwei HĂŒhner geschlachtet. Da mein Schwager nur Kurdisch und Ostsyrisch sprach, meine Mutter jedoch nur AramĂ€isch, sollte ich dableiben, um zu ĂŒbersetzen.
„Und du?“, fragte ich.
„Ich werde gehen.“
Ich merkte, wie schwer es meinem Vater fiel, uns mit dem Besuch allein lassen zu mĂŒssen. FĂŒr jeden Fremden öffnen wir unser Haus, bewirten ihn mit unserem Brot und unseren FrĂŒchten, schenken ihm Wein und SĂ€fte ein, trĂ€nken seine Pferde und richten ihm die Bettstatt her. Es ist diese selbstverstĂ€ndliche Gastfreundschaft, die man gern mit den Orientalen verbindet. Dabei haben die sie einst von uns gelernt. Und wir wiederum von Abraham, der selbstlos und ohne jede Absicht die GĂ€ste Gottes empfing, großzĂŒgig bewirtete und beherbergte. FĂŒr meinen Vater als Christen ist Gastfreundschaft keine bloße Tugend, sondern ein tiefes BedĂŒrfnis. Und ausgerechnet jetzt, wo seine Ă€lteste Tochter mit ihrem Mann gekommen war, musste er das Haus verlassen.
Er hatte keine Wahl. Die Trauben waren fast reif. Nur wenige Sonnenstrahlen brauchten sie noch, bis sie die richtige SĂŒĂŸe und pralle GrĂ¶ĂŸe erreicht hĂ€tten und wir sie ernten könnten. Aus den Trauben machten wir Wein, SĂ€fte und Sirup oder ließen sie zu Rosinen trocknen. Dreihundert Liter Wein produzierten wir im Jahr. Rosinen hatten wir oft tonnenweise, manchmal fĂŒllten die SĂ€cke zwei ganze RĂ€ume, wĂ€hrend sich in den Regalen der Weinkuchen stapelte. Den Weinkuchen stellten wir aus Sirup her, gossen dafĂŒr die dicke Soße ĂŒber schweres Leinen, ließen die Masse in der Sonne gehen und falteten dann die getrockneten und elastischen Fladen in Dreiecke zusammen. Den ganzen Winter ĂŒber hatten wir eine nahrhafte SĂŒĂŸigkeit – eine Art Weingummi, wenn man so will.
Bis heute lasse ich mir den Weinkuchen aus der TĂŒrkei mitbringen. Wenn ich ihn hier, fern der Heimat, auseinanderzupfe und mir der schwache Geruch, in dem neben der Frucht auch das frische Leinen zu ahnen ist, entgegenströmt, muss ich nur die Augen schließen und bin wieder in meinem Heimatdorf Zaz im SĂŒdosten der TĂŒrkei. Dann spaziere ich durch die fruchtbaren Weinberge, klettere durch die Kronen unserer achtundvierzig MandelbĂ€umchen, die so dicht beieinanderstehen, dass man sie nacheinander erreicht, ohne den Boden zu berĂŒhren, und gehe ĂŒber unsere Felder, auf denen nahezu alles wĂ€chst, was man zum Leben braucht – Auberginen, Tomaten, Paprika, Melonen, GranatĂ€pfel, Oliven, Getreide 

Wir hatten von allem reichlich. Doch wenn die FrĂŒchte reif wurden, mussten wir aufpassen, damit uns keiner so kurz vor der Ernte alles zunichtemachte. So wie es erst wenige Wochen vor dem Besuch meiner Schwester in unserem Dorf geschehen war.
Drei junge MĂ€nner waren von der Armee zurĂŒckgekommen und das ganze Dorf feierte ihre unversehrte Heimkehr. Ein solches Ereignis ist bei uns immer Anlass fĂŒr ausgelassene Freudenfeste. Werden Christen in die tĂŒrkische Armee eingezogen, glauben ihre Angehörigen in der Regel nicht, dass sie sie jemals wiedersehen. Unter TrĂ€nen werden die Söhne verabschiedet. Nicht, weil ein Krieg ausbrechen und sie als Soldaten fallen könnten. Sondern weil sie den Krieg vom ersten Fahnenappell an haben – und zwar in der eigenen Kompanie. Vom ersten Tag an sind sie der Feind, das Opfer von Schikane, Misshandlung und Folter, sowohl seitens der Kameraden wie der Offiziere. Ich kenne die Geschichten von meinem Vater und meinen BrĂŒdern. Es sind immer dieselben, auch wenn ein paar Jahrzehnte dazwischenliegen.
So fand sich mein Vater am Anfang seiner Armeezeit eines Abends nach dem Duschen achtzig MĂ€nnern gegenĂŒber, die ihn beschimpften und bespuckten, weil er als Christ nicht beschnitten war. Sie schrien ihn an, dass er sich beschneiden lassen und ein ordentlicher Muslim werden solle. Doch mein Vater blieb standhaft. „Ich bin bereit zu sterben, aber meinen Glauben wechsele ich nicht“, rief er, was die anderen nur noch mehr erregte. Die Spitzen der Soldatenstiefel bohrten sich in seinen Leib, der Speichel der MĂ€nner floss ĂŒber seinen Körper. Mein Vater hat die Armeezeit ĂŒberlebt, mein Bruder auch. Sie hatten GlĂŒck. So wie auch die drei jungen MĂ€nner aus unserem Dorf, fĂŒr die das Fest ausgerichtet wurde.
In dieser glĂŒcklichen Nacht hatte niemand daran gedacht, auf den Feldern, wo die Wassermelonen gerade reiften, Wache zu halten. In dieser glĂŒcklichen Nacht fĂŒhlte man sich unverletzbar, sicher und außer Gefahr. Schließlich hatten die drei jungen MĂ€nner die Armeezeit ĂŒberstanden. Das machte Hoffnung – und leichtsinnig.
Und in dieser Nacht kamen sie. Mit Messern, SĂ€beln und Dolchen machten sie sich ĂŒber die Felder her, metzelten die FrĂŒchte nieder wie eine Armee böser Feinde. Gestohlen haben sie nichts, nur zerstört. Und das grĂŒndlich. Als die Familien am nĂ€chsten Morgen, noch mĂŒde vom Freudenfest der vergangenen Nacht, auf die Felder kamen, bot sich ihnen ein grausames Bild. Alles war rot vom Fleisch der Melonen, das aus den aufgeschlitzten Schalen quoll und sich ĂŒber alle mehr als dreißig Felder ergoss. Keine einzige Frucht war ganz geblieben. Doch viel schmerzlicher als der Verlust der Ernte war die Angst vor der blinden Zerstörungswut, mit der sie die FrĂŒchte der Christen kaputt gemacht hatten. Denn diese galt nicht den Melonen. Sie galt den Menschen.
„Aber dann bist du allein auf dem Feld“, sagte ich zu meinem Vater. Der Gedanke beunruhigte mich so sehr, dass ich mich am liebsten seinem Wunsch widersetzt und ihn auf der Stelle begleitet hĂ€tte.
„Keine Sorge, Hatune“, antwortete mein Vater und wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn zurĂŒck, strich ihm ĂŒber den Kopf, rieb meine HandflĂ€che kurz an seinem Haaransatz und gab ihm dann einen schnellen Kuss auf die Stirn. So hatten wir uns immer verabschiedet, es war unser ganz eigenes Ritual. Dann machte er sich auf den Weg. An das Gewehr hatten wir beide nicht gedacht. Und so war mein Vater ausgerechnet in dieser Nacht ganz allein und ohne Waffe auf dem Weinberg.
image
Schon im 14. Jahrhundert vor Christus war das Land, auf dem wir lebten, von unseren Vorfahren besiedelt: den AramĂ€ern. Noch heute sprechen wir AramĂ€isch, die Sprache Jesu. AramĂ€er waren es auch, welche die erste christliche Gemeinde außerhalb PalĂ€stinas grĂŒndeten – in Antiochien, der drittgrĂ¶ĂŸten Stadt der Antike, in die damals vor gut zweitausend Jahren Juden und Apostel aus PalĂ€stina vor der Christenverfolgung Zuflucht fanden. Aus der urchristlichen Gemeinde entwickelte sich die erste Kirche der Welt: die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien. Sie war Mutter und Ursprung aller östlichen und westlichen Kirchen. In Antiochien war auch zum ersten Mal in der Geschichte von „Christen“ die Rede. „Christianoi“ nannte man die AnhĂ€nger dieser neuen Gemeinde. Von Antiochien aus, dem heutigen Antakya in der TĂŒrkei, verbreitete sich das Christentum schließlich in der ganzen Welt.
Das Zentrum der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien lag jedoch gut sechshundert Kilometer weiter östlich in Mesopotamien: in den Dörfern des Tur Abdin, dem Kalksteingebirge im heutigen SĂŒdosten der TĂŒrkei, meiner Heimat. Bereits im 1. Jahrhundert wurden die hiesigen AramĂ€er von den Aposteln Thomas und ThaddĂ€us zum Christentum bekehrt. „Syrer“ nannten sich die aramĂ€ischen Christen fortan, um sich von ihren heidnischen BrĂŒdern zu unterscheiden. Bis heute bezeichnen wir uns so, auch wenn dies mit Blick auf das heutige Syrien zuweilen fĂŒr Irritationen sorgt. Zahlreiche Kirchen und rund achtzig Klöster entstanden in den Orten des Tur Abdin, die große Gelehrte und Mönche hervorbrachten. „Berg der Knechte Gottes“ heißt Tur Abdin ĂŒbersetzt. Manche sagen auch wegen der ungewöhnlichen Dichte an sakralen Bauten „Berg Athos des Ostens“.
Allein vier Kirchen hatte schon Zaz, das Dorf, in dem ich geboren wurde. „Mor Dimet“ ist die Ă€lteste. Erhaben thront die wehrhafte Anlage auf dem Berg und ist schon von Weitem zu sehen, wenn man sich dem Ort nĂ€hert. Vor der Christianisierung wurde das burgĂ€hnliche GebĂ€ude erst als Sonnentempel genutzt, dann als MilitĂ€rstĂŒtzpunkt der Assyrer. Doch schon ab dem Jahr 192 war es eine christliche Kirche. Anfang des 4. Jahrhunderts, im Jahr 312, kam der Evangelist St. Johannes von Kfone in unser Dorf und taufte in dem kleinen Weiher 3333 Menschen. Ihre Nachfahren – einige von ihnen leben nun in Heidelberg – nennen sich bis heute Zazoye, „aus Zaz stammend“.
Doch die Christen im Tur Abdin hatten es von Anfang an schwer. Immer wieder gerieten sie zwischen die Fronten und wurden verfolgt. Vom 4. bis zum 7. Jahrhundert bildete der Gebirgszug die Grenze zwischen Oströmern und den Sassaniden. SpĂ€ter kamen die Perser. Und mit ihnen der Islam. Zu Beginn glaubten die Syrer noch, Gott habe den Islam geschickt, um sie von den Oströmern zu erlösen. Doch nach den Christenverfolgungen der Römer kamen jetzt die MissionszĂŒge der Muslime. Die Christen wurden gezwungen zu konvertieren – wenn auch nicht immer mit Gewalt, so doch mit zahlreichen Verboten und Schikanen, deren Missachtung mit dem Tod bestraft wurde. In den StĂ€dten durfte ein christliches Haus keine zehn Zentimeter höher sein als die HĂ€user der Muslime. In dieser Zeit verschwanden die KirchtĂŒrme aus den StĂ€dten. Christen mussten bei der Feldarbeit Balkenkreuze tragen und sich anders als die Muslime kleiden, damit jeder schon von Weitem die „Ketzer“ erkannte. Christen durften auch nicht auf Pferde steigen. Als einer einst dennoch beim Reiten entdeckt und von Muslimen verfolgt wurde, ritt er auf ein Kloster zu, in der Hoffnung, dort dem Tod zu entkommen. „Macht die Tore auf“, rief er. Dem Reiter wurde Einlass gewĂ€hrt. Doch sein Vergehen sollte alle Mönche und Schwestern des Klosters das Leben kosten.
Zweihundert Jahre dauerte diese Schikane, viele Christen gaben in jener Zeit auf und konvertierten. Die Islamisierung der TĂŒrkei war bekanntlich sehr erfolgreich. Wie ein Wunder scheint es da, dass sich im Tur Abdin ĂŒber die Jahrhunderte bis heute ĂŒberhaupt noch christliche Dörfer halten konnten. Der Grund ist vor allem in der Geografie zu sehen. Der Tur Abdin ist ein gebirgiges Land und etwas mĂŒhsam zu erreichen und zu durchqueren. Hier gab es weder bedeutende GroßstĂ€dte noch wichtige Handelswege. Die Islamisten sahen daher wenig Sinn darin, sich auf den beschwerlichen Weg zu machen und die Dorfbewohner hier mit harter Hand zu missionieren.
Ihren Frieden fanden die 382 christlichen Dörfer des Tur Abdin deswegen jedoch noch lange nicht. Kein Jahrzehnt verging ohne PlĂŒnderungen, Morde, EntfĂŒhrungen und Vergewaltigungen. Im frĂŒhen 18. Jahrhundert zum Beispiel zogen Prinz Bidin aus Amida (spĂ€ter Diyarbalm) und Prinz Schemdin aus dem kurdischen Gazira im Tur Abdin ein und richteten ein ungeheures Blutbad an. Bidin, so schreibt der Priester Johannon aus Beth Sbirino im Jahr 1711, „tötete jeden Menschen, den er traf. Im Dorf Bote zertrĂŒmmerte er den Altar der Mor-Aphrem-Kirche und zerstörte das ganze Dorf. Im Dorf Zaz gab er Befehl, die Mor-Dimet-Kirche in TrĂŒmmer zu legen. Er zerstörte auch andere Dörfer und Kirchen und zerstreute Familien und Sippen. Von Midun bis Botan steckte er alles in Brand. Bei diesem bitteren Schicksalsschlag wurden selbst Kleinkinder, Kinder und Frauen umgebracht. Und so wĂŒteten sie fĂŒnfzig Tage lang, in denen sie plĂŒnderten und mordeten.“
Rund hundert Jahre spĂ€ter plĂŒnderte und mordete Mohammad Pascha, bekannt als Prinz Kur des großen kurdischen Dorfes Rawanduz, im Tur Abdin. Bischof Gewarigs aus Azech beschreibt in einem Gedicht die Ermordung der Kinder und jungen MĂ€nner, des Priesters Simon, des Diakons Ebed Mschiho, des in den Wissenschaften und in der Geschichte bewanderten Diakons Murad und des Diakons Behnam. Der Kurden-Prinz „fĂŒhrte Krieg gegen die Christen, tötete die MĂ€nner mit dem Schwert, nahm Tausende gefangen, ließ die göttlichen Melodien in den Kirchen und Klöstern verstummen.“
Vor allem gegen Ende des 19. und dann im 20. Jahrhundert kam es zu Massakern durch die osmanische Armee und kurdische Banden, deren grausamer Höhepunkt das Jahr 1915, das sogenannte Jahr des Schwertes, war. Zwei Millionen Christen wurden in diesem Völkermord in der TĂŒrkei vernichtet: 1,5 Millionen Armenier, 500 000 Syro-AramĂ€er. Im Tur Abdin sind ganze Dörfer entvölkert worden. Auch Zaz, mein Dorf, hat damals einen Großteil seiner Bewohner verloren.
Vor dem Aufkommen des Islam im Gebiet der heutigen TĂŒrkei im 8. Jahrhundert umfasste die syrisch-orthodoxe Kirche von Antiochien 72 Millionen Menschen. Selbst unter der beginnenden islamischen Vorherrschaft konnte sie sich weiter entfalten und erlebte bis zum 13. Jahrhundert eine BlĂŒtezeit, in der sie sich von Tarsus, Zypern und Jerusalem im Westen bis nach Herat im heutigen Afghanistan ausdehnte und in ĂŒber hundert BistĂŒmern organisiert war. Heute umfasst diese Kirche noch eine halbe Million Mitglieder. Wo sind diese Christen geblieben?
In der Zeit vom Jahr 1000 bis 1200 gab es die grausamste Verfolgung bisher. Die HĂ€user der Christen mussten niedriger sein als die der Muslime. Wenn ein christliches Haus auch nur zehn Zentimeter höher war als die muslimischen, wurde es zerstört, ebenso wie die KirchtĂŒrme. Bis zum Jahr 1000 bestand die Bevölkerung im gesamten Orient schĂ€tzungsweise zu 96 % aus Christen. Heute sind es insgesamt 6 Prozent.
Seit dem Genozid in der TĂŒrkei an den Christen von 1915 waren die syro-aramĂ€ischen GlĂ€ubigen fĂŒr den Staat und die Welt kaum noch existent. Anders als den griechisch-orthodoxen Christen, den armenischen Christen und den Juden wurde der syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft im Friedensvertrag von Lausanne 1923 nicht der Status einer offiziell anerkannten religiösen Minderheit zuerkannt. Deshalb haben wir in der TĂŒrkei noch weit weniger Rechte als andere Minderheiten. Wir dĂŒrfen keine Schulen einrichten und unterhalten. Wir mĂŒssen staatliche Schulen besuchen und am muslimischen Religionsunterricht teilnehmen.
image
Der staatliche Stundenplan sah zwei Stunden wöchentlich fĂŒr muslimische Religionskunde vor. Auch in meiner Schule, obwohl nur Christen sie besuchten und der einzige Muslim der Religionslehrer war. Wir SchĂŒler hatten uns von Anfang an darauf verstĂ€ndigt, den Religionsunterricht zu boykottieren, wir wollten unter keinen UmstĂ€nden daran teilnehmen. Das blieb natĂŒrlich nicht ungestraft. Wenn die Schulglocke am Freitag die Religionskunde ankĂŒndigte, mussten wir alle an die Tafel und die HĂ€nde vorstrecken. Der Lehrer zĂŒckte sein langes Lineal – es war aus schwerem, scharfkantigem Metall – und schlug uns auf die HĂ€nde. Vier SchlĂ€ge auf die linke Hand, vier SchlĂ€ge auf die rechte. Hatten alle ihre PrĂŒgel erhalten, waren wir entlassen und durften die nĂ€chsten zwei Stunden spielen, lesen oder malen – sofern die geschwollenen Finger den Stift ĂŒberhaupt noch ohne Zittern halten konnten.
In der Schule mussten wir TĂŒrkisch sprechen. AramĂ€isch, unsere Muttersprache, war strengstens verboten. Nicht einmal in den Pausen durften wir uns auf AramĂ€isch unterhalten. Eines Tages – wir waren in der dritten Klasse und hatten Pause − ging Habib zur Tafel. Von seinem Ă€lteren Bruder, der Diakon war, hatte er gelernt, seinen Namen a...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Prolog: Erste Begegnung
  7. Teil 1: Weil ich selbst ein FlĂŒchtling bin 

  8. Teil 2: Kein heimatliches Land – Naher Osten 2014
  9. Die Stiftung Helfende HĂ€nde fĂŒr die Armen