TETRIS
Alexej Paschitnow war ein hochbegabter Mathematiker in Moskau, der irgendwann das Interesse fĂŒr Computer entdeckte. Im Computer hatte die Welt der Mathematik kein Limit, und mit diesem Werkzeug konnte Paschitnow seine wissenschaftlich-mathematischen Projekte und Gedanken grenzenlos ausleben.
âSolange er am Rechner sitztâ, sagte Paschitnow mal, âist der Hacker Gott und kann im Universum des Innenlebens eines Computers machen, was er will.â
Also verschlug es den jungen Mathematiker weg von seiner Dozentenstelle an einer Moskauer UniversitĂ€t in das Computerzentrum der Moskauer Akademie fĂŒr Wissenschaften. An einem schwachbrĂŒstigen Rechner der Marke Elektronika 60 verbrachte er Tag um Tag, Nacht um Nacht, stĂ€ndig auf der Suche nach einem Durchbruch in der kĂŒnstlichen Intelligenz oder, seinem Nebenprojekt, der Stimmerkennung.
Sein Rechner war im Prinzip nichts anderes als der russische Klon einer DEC LSI-11, einem PDP-11-Modell. Die PDP-11 wiederum war ein von der Firma DEC vertriebenes mannshohes 16 Bit-Computersystem, das vor allem in den Siebzigern und Achtzigern gekauft wurde. Technisch war das System sehr simpel gehalten, vor allem mit einem universellen Bussystem. Dadurch wurde der Computer einfacher fĂŒr Prozessanwendungen nutzbar, da das Auf- und UmrĂŒsten dank des standardisierten Bussystems keine gröĂeren Probleme mehr machte. Vor allem an UniversitĂ€ten wurde die PDP-11 genutzt, aber auch Kraftwerke wurde mit dem GerĂ€t gesteuert. In Hamburg ist so ein GerĂ€t seit 1981 in der Photonenforschung im Einsatz.
1984 bekam Paschitnow ein Exemplar des Brettspiels Pentomino in die Finger. Der englische RÀtselmacher Henry Ernest Dudeney hatte das Spiel entwickelt. Ein Dutzend Spielsteine musste so in ein rechteckiges Spielfeld einsortiert werden, dass unter Nutzung aller zwölf Spielsteine die komplette FlÀche des Spielfeldes bedeckt war.
Die Spielsteine selbst bestanden aus fĂŒnf quadratischen Elementen. Die Form der Spielsteine ergab sich automatisch; sie musste der Regel folgen, dass sich die einzelnen quadratischen Elemente immer mit einer vollen Kante berĂŒhren.
Je gröĂer die auszufĂŒllende FlĂ€che, desto mehr Lösungen gab es: Bei einem Spielfeld von drei mal zwanzig Quadraten gab es nur zwei Möglichkeiten, alle zwölf Spielsteine auf der FlĂ€che unterzubringen; bei einer FlĂ€che von sechs mal zehn Quadraten waren es schon ĂŒber zweitausend mögliche Lösungsvarianten.
Paschitnow mischte die Spielsteine gut durch und versuchte, sie alle auf dem Spielfeld unterzubringen. Dabei merkte er, dass das gar nicht so einfach war, wie es sich angehört hatte. Der Mathematiker in ihm war erwacht.
Er setzte sich an seine Elektronika 60 und versuchte, das Spiel in eine Computerfassung umzusetzen.
Verschiedene Versionen wurden verworfen, als er endlich eine Variante entwickelte, bei der die Spielsteine nur noch aus vier statt aus fĂŒnf Quadraten bestanden. âTetraâ, das griechische Wort fĂŒr Vier, stand Pate fĂŒr den Namen seines Spiels: Tetris.
Da Paschitnow sich auf vier Elemente bei einem Spielstein beschrĂ€nkte, kam er nicht auf das volle Dutzend an Spielsteinen, sondern nur auf sieben StĂŒck.
Auch das Spielprinzip Ă€nderte er leicht ab. Der Computer sollte eine dieser sieben Formen zufĂ€llig auf dem Bildschirm generieren, wo sie von oben herab ins Spielfeld rutschten â auf einfacher Schwierigkeit langsamer, auf höherer Schwierigkeit schneller. Platzierte man die drehbaren Spielsteine so, dass eine lĂŒckenlose, horizontale Reihe entstand, verschwand diese: Erfolg. Entstanden LĂŒcken, wuchs der Blockhaufen immer weiter an, bis er den oberen Rand des Spielfelds erreichte: Spielende, leider verloren.
Die technischen Möglichkeiten des Elektronika 60 waren mehr als bescheiden. Paschitnow konnte die Spielsteine nur als rudimentÀre Strichzeichnungen darstellen, deren Bewegungen von heftigem Flackern begleitet wurden.
Sonderlich viel Speicher benötigte das Spiel schon damals nicht: Die Pascal-Version kam auf ganze sechzehnhundert Zeilen Code und benötigte kompiliert nicht mehr als siebenundzwanzig Kilobyte.
Er wandte sich an den jungen Hacker Vadim Gerasimov, einem sechzehnjĂ€hrigen SchĂŒler, der sich selbst in Rekordzeit die Programmiersprachen Pascal und Basic beigebracht hatte, Microsofts DOS aus dem Handgelenk beherrschte und selbst angeblich unknackbare Kopierschutzmechanismen entschlĂŒsseln konnte.
Gemeinsam mit Gerasimov tĂŒftelte Paschitnow im Sommer 1985 zwei Monate lang an einer Farbversion fĂŒr IBM-kompatible Computer, um das Spiel einer breiten Ăffentlichkeit zugĂ€nglich machen zu können. SchlieĂlich war es irgendwann geschafft, Paschitnows Kollege Dmitri Pewlowsky fĂŒgte noch eine Punktestands-Anzeige hinzu und Tetris lief farbig und fehlerfrei auf allen IBM-Rechnern.
Paschitnow machte Kopien und verteilte diese in der kompletten Akademie. Wie ein Virus griff das Spiel um sich â ein Virus, der aber die Mitarbeiter befiel und nicht die Computer. Gearbeitet wurde bald kaum noch in der Moskauer Akademie der Wissenschaften.
âEs breitete sich aus wie ein Steppenfeuerâ, erzĂ€hlte Paschitnow wenige Jahre spĂ€ter.
Er sprach Viktor Brjabin an, seinen direkten Vorgesetzten an der Akademie. Könnte man Tetris nicht ins Ausland verkaufen?
âAber bei uns gab es damals kein Urheberrechtâ, erklĂ€rt Paschitnow. âJedem gehörte alles. Es gab kein persönliches geistiges Eigentum und somit auch nicht die Möglichkeit, mit solchen Dingen persönlichen Gewinn zu erzielen.â
Brjabin war trotzdem so begeistert von Tetris, dass er eine Diskette davon an das SZKI in Budapest schickte, das ungarische Institut fĂŒr Computerwissenschaften.
Dort hielt sich damals zufĂ€llig auch Robert Stein auf, Boss der Londoner Spieleschmiede Andromeda. Der gebĂŒrtige Ungar, der bisher nur Software fĂŒr Commodore-Rechner verkauft hatte, grĂŒndete das Unternehmen 1982 in England, um die Programme ungarischer Software-Unternehmen in Westeuropa zu vertreiben. Einer seiner gröĂten Abnehmer war Mirrorsoft, eine Tochter des britischen Medienkonzerns Maxwell.
An diesem Tag im Jahr 1986 war Stein mal wieder in Ungarn, um sich ĂŒber neue Programme zu informieren, als auf irgendeinem Bildschirm Tetris lief. Die ungarischen Programmierer hatten mittlerweile Konvertierungen des Spiels auf C64- und Apple-Systeme entwickelt.
âIch bin ja eigentlich gar kein Spieler, aber von dem Spiel kam ich nicht wegâ, sagt Stein.
Er erfuhr, dass Tetris ursprĂŒnglich aus Russland stammte und schickte ein Fax an die Moskauer Akademie, in dem er sein Interesse an Tetris bekundete.
âDa will einer Ihr Spiel habenâ, sagte Brjabin, als er Paschitnow das Schreiben gab.
âDas war natĂŒrlich absolut unbekanntes Terrain fĂŒr unsâ, erzĂ€hlt Paschitnow heute. âWir hatten alle keine Ahnung, wer, wie was und wo. Also musste ich die Sache irgendwie selber in die Hand nehmen.â
Es dauerte Wochen, bis er einen Kollegen gefunden, der des Englischen mĂ€chtig war und das halbe Dutzend Genehmigungen beisammen hatte, um ein FaxgerĂ€t benutzen zu dĂŒrfen.
âJa, wir sind an einem Vertrag interessiertâ, lautete Paschitnows Antwort.
Stein war aber schon lÀngst einige Schritte weiter.
Er hatte Mirrorsofts amerikanischer Schwesterfirma Spectrum Holobyte in Kalifornien ein Exemplar geschickt, nachdem die Briten kein Interesse gezeigt hatten. Spectrum Holobyte hatte sich bisher hauptsĂ€chlich durch MilitĂ€rprogramme und die Flugsimulation Falcon einen Namen gemacht â jetzt waren die Inhaber nicht mehr von Tetris wegzubekommen.
âBesorgen Sie mir die Rechteâ, lieĂ der Chef von Spectrum Holobyte seine Kollegen bei Mirrorsoft wissen.
Mirrorsoft und die amerikanische Tochter erwarben bei Robert Stein also alle Rechte â mit Ausnahmen der fĂŒr Spielhallenversionen und Handvideospiele. Der bekam einen Vorschuss von dreitausend britischen Pfund, allerdings auch das Recht auf Tantiemen je nach Verkaufserfolg von sieben bis fĂŒnfzehn Prozent.
Stein faxte im November 1986 sein Angebot nach Moskau: Drei Viertel seiner Erlöse plus zehntausend Dollar Vorschuss. Eine Woche spĂ€ter trudelte das Antwortfax des Leiters von Paschitnows Computerzentrum ein: Einverstanden. Stein wollte teilweise mit C64-Computern bezahlen, auch damit war man in Moskau einverstanden. Beide Parteien waren sich einig, nur ĂŒber die IBM-kompatible Version des Spiels zu verhandeln.
Die Lizenzabteilung der Akademie der Wissenschaften ĂŒbernahm alle weiteren Verhandlungen und lud Stein im Dezember 1986 nach Moskau ein.
Dieser traf nicht nur mit dem Ziel ein, mit einem unterschriebenen Lizenzvertrag fĂŒr Tetris heimzufahren, sondern wollte auch noch eine Kooperation Ă€hnlich wie mit dem SZKI in Budapest vereinbaren.
Die Russen jedenfalls feilschten tagelang mit Stein ĂŒber Tantiemen und Vorauszahlungen, so sehr, bis Stein entnervt das Handtuch warf und ohne unterzeichnete VertrĂ€ge die Heimreise antrat.
Er hatte kurz den Gedanken, sich um die Lizenzen der C64-Version zu bemĂŒhen, die ungarische Programmierer beim SZKI erstellt hatten. Als er aber mit Spectrum Holobyte und Mirrorsoft sprach, verwarf er diese Idee schnell wieder, denn die Vermarktungsmaschine war im Begriff, anzulaufen. Die Verpackung war bereits designt, ein knallroter Karton mit einem Druck der Sankt Basilius-Kathedrale, darĂŒber in kyrillischer Schrift Tetris. Die kalifornischen Programmierer fĂŒgten noch Schlachtenszenen als Hintergrundbilder des Spielfeldes und eine Introsequenz zu, in der ein kleines Flugzeug auf dem Roten Platz landete: Eine kleine Anspielung auf den damals Aufsehen erregenden Kremlflieger Matthias Rust. ZusĂ€tzlich hatte man Hintergrundmusik eingebaut und eine Bosstaste, die das Spiel vom Bildschirm verschwinden lieĂ, sobald der Vorgesetzte ins BĂŒro kam.
Im April 1987 schickte Stein wieder ein Fax nach Moskau und drÀngte auf Vertragsunterzeichnung. Er informierte weiterhin, dass alle Rechte der IBM-kompatiblen Tetris-Fassung an den Softwarezweig des britischen Medienkonzerns Maxwell, Mirrorsoft, und deren Schwester Spectrum Holobyte verkauft worden waren.
Im Juni unterzeichnete er den Lizenzvertrag mit den drei HĂ€usern, in dem er versicherte, dass er der rechtmĂ€Ăige EigentĂŒmer aller Urheberrechte auf Tetris sei und frei ĂŒber alle Lizenzvergaben entscheiden könne. Auch zu diesem Zeitpunkt hatte er immer noch keinen unterschriebenen Lizenzvertrag mit den Moskauer Wissenschaftlern vorliegen.
Im Dezember 1987 schrieb er nochmals nach Russland und forderte die Russen auf, ihm zumindest die RechtmĂ€Ăigkeit seines Deals mit Mirrorsoft zu bestĂ€tigen. Er bekam immer noch keine Antwort.
Mirrorsoft und Spectrum Holobyte ahnten von Steins Schwierigkeiten mit den russischen Urhebern natĂŒrlich nichts und brachten Tetris im Januar 1988 in Europa und den USA auf den Markt. Der Titel schlug ein und verkaufte sich sehr gut. Computer Gaming World schrieb: âTetris ist tĂ€uschend einfach und macht schleichend abhĂ€ngig:â
Alexej Paschitnow bekam von dem ganzen Hin und Her am allerwenigsten mit. Der Mathematiker tĂŒftelte schon ĂŒber seinem nĂ€chsten Programm, Biograph, das er fĂŒr Unterrichtszwecke an russische LehrstĂŒhle verkaufen wollte. ZufĂ€llig hörte er von einer neuen Behörde namens Elektronorgtechnica, kurz Elorg, deren Zweck der Im- und Export von Software aller Art war. Er unterhielt sich mit dem obersten Leiter Alexander Alexinko und erwĂ€hnte auch die Probleme, die ihm die Verhandlungen mit Robert Stein um die Tetris-Lizenzen machte, als ihm Alexinko ins Wort fiel.
âSie haben da gar nichts zu verhandelnâ, stellte er klar, âweder Sie noch die Akademie. Dieser Fall gehrt eindeutig in den ZustĂ€ndigkeitsbereich der Elorg. Die Verhandlungen fĂŒhren wir.â
Alexinko lieĂ sich den kompletten Schriftverkehr bringen und stellte schnell fest, dass Paschitnow viele Faxe missverstĂ€ndlich und zu offen formuliert hatte. Sofort war ihm klar, dass der Verkauf von Tetris unverzĂŒglich gestoppt werden musste.
Stein, der immer noch keinen rechtsgĂŒltigen Lizenzvertrag ĂŒber Tetris besaĂ, bekam es also mit der Elorg zu tun. Die teilte ihm lapidar mit, dass die bisherigen Verhandlungen ĂŒber Tetris gegenstandslos...