Verlorene Söhne
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Verlorene Söhne

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Verlorene Söhne

About this book

Ein deutscher Beamter bei der Fremdenpolizei, der seinen Sohn an den Kosovo-Krieg verliert. Ein redseliger und lebenserfahrener kosovarischer Rom, der mit seinen drei Frauen und elf Kindern nach Deutschland zieht. Eine rätselhafte Uranvergiftung, die etliche KFOR-Soldaten dahinrafft. Eine Lebensgeschichte, die von Anfang an von Armut, Diskriminierung und Gewalt bestimmt ist, aber auch von Lebensfreude und Liebeslust, von der Fähigkeit, sich zurechtzufinden, sowie vom Bildungshunger eines Unangepassten.Haben die beiden Männer doch mehr Gemeinsamkeiten, als es auf den ersten Blick scheint? Der pflichtbewusste Beamte, der das Wichtigste im Leben an sich vorbeiziehen lässt, und der andere, vom Rande der Gesellschaft, der allen Widrigkeiten zum Trotz den Wunsch nach einem besseren und schöneren Leben nicht aufgibt?"Verlorene Söhne" ist der vierte in deutscher Übersetzung erscheinende Roman des vielfach ausgezeichneten Autors. Ein gleichermaßen poetischer wie realistischer Text, der brutale Momente genauso wenig scheut wie folkloristischen Humor.

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Information

Zweiter Teil

Flussaufwärts

ALLES WAR IN BESTER ORDNUNG und alles an seinem Platz. Sowohl der Strick als auch der Stuhl als auch mein Hals in der Schlinge, die riesigen Augen, so ausgerichtet, dass sie die ersten Sonnenstrahlen treffen würden, die rötlichgelben, nicht grell und nicht stark, die in die Pupille passten. Vielleicht wollte ich dieses Licht, das noch kein Licht war, stehlen und in meine Seele legen. Ich sage Seele und weiß nicht, ob ich eine habe, denn die Seelenlosesten, die Beengtesten und die Sündhaftesten sind diejenigen, die Hand an sich legen. Das hatte ich von anderen gehört, aber ich weiß nicht, ob es so ist. Mir schien immer, dass ich eine Seele hatte, und zwar eine, die weiter war als diese Ebene. Warum hätte man sonst zu mir gesagt: Sulejman, du hast eine gute Seele, du wirst viel erleiden. Und auch jetzt, als ich mich von ihr trennen sollte, war ich nicht sicher, ob ich sie hatte. Wieder mochte ich den Blick der Sonne am Horizont, er bedeutete für mich etwas Schönes und ich sagte zu mir: Bravo, Sulejman, du bist ein echter Zigeuner und hast eine Seele. In diesem Bruchteil der Sekunde, als das letzte Wort aus mir herausschlich, hob ich den linken Fuß vom Stuhl und mit dem rechten drückte ich gegen seine Kante. Der Stuhl stand nun schief. Er hätte nur noch umfallen müssen und ich hätte mich erfolgreich erhängt. In den heiligen Büchern steht, dass jene, die Hand an sich legen, sicher in die Hölle kommen, und dass Gott ihnen das um nichts in der Welt und niemals verzeihen wird. Aber ich bin kein besonders gläubiger Mensch, und wenn schon, sagte ich zu mir und prägte mir das gut ein. Sulejman, es gibt nur ein Paradies und eine Hölle, und du hast in deiner Hölle schon zu Lebzeiten gebrannt, und wenn du ins Paradies kommst, ist es gut, und wenn nicht, sondern in die Hölle, wird es für dich nicht ungewöhnlich sein. Deshalb drückte ich den Stuhl noch ein bisschen zur Seite, und als auch er begann, das Gleichgewicht zu verlieren und der Strick fester zog, fasste ich mit den Augen nach der Röte der Sonne, da kehrte der Stuhl plötzlich zurück und meine beiden Füße standen darauf.
Ich dachte, ich phantasiere vor Angst, aber Angst hatte ich keine. Ich hatte schon alles gut durchdacht und geplant, mein Vorhaben ausgeführt, und da war ich nun. Wieder versuchte ich den Stuhl mit den Füßen zur Seite zu stoßen, aber sie schliffen nur vergeblich über seine ziemlich raue, blaue Oberfläche. Aus meinen Augen, aus mir, meiner Seele, meinem Schädel und meinem Gedächtnis verschwand jener erste rötliche Sonnenstrahl. Ich höhlte mich aus wie ein getrockneter Kürbis.
Ich hatte keine Wahl – ich öffnete die Augen.
Auch sie waren leer und kalt. Ich sah über mich hinauf, der Strick war um einen Hilfsbalken geschlagen, hart und seit Kurzem angespannt. Ich senkte schüchtern den Blick an mir herunter, der Stuhl war da und meine Füße standen fest darauf.
-Du hast gedacht, du kannst mir entkommen – hörte ich die bekannte, samtene Stimme von Haris.
Und er lächelte mich noch einmal an. Das war mir nicht recht. Ich schämte mich, dass er mich in dieser Lage ertappt hatte und mich jetzt auch noch bemitleiden würde. Vor Zorn drückte ich mit beiden Füßen nach vorne, aber der Stuhl rührte sich nicht. Als wäre er in den Boden hineingewachsen.
-Ha, ha. Jetzt ist es zu spät. Lass aber den Blödsinn sein, vor meinen Augen, in deinem Alter sollte man nicht mehr Wahnsinn treiben – lachte Haris wieder.
-Du bist wie ein böser Geist!
-Vielleicht bin ich dein guter Geist, vielleicht wirst du dich später bei mir bedanken. Aber ich frage dich nicht, warum du dich erhängen willst und werde dich nicht lange stören. Ich brauche dich nur kurz, dann kannst du deine Arbeit fortsetzen.
-Nicht einmal meine eigenen Kinder brauchen mich mehr.
-Sag das nicht zweimal. Komm besser herunter, dann reden wir wie zwei vernünftige Menschen miteinander. Kannst du dich erinnern, dass ich mit dir ein Interview vereinbart habe, für eine Zeitung, für das Radio, vielleicht auch für ein Buch. Siehst du, ich habe auch ein Diktaphon und Kassetten mitgebracht, das bist du mir schuldig – sprach Haris, nun schon ruhiger.
-Ich habe jetzt Besseres zu tun als in dieses Gerät zu plaudern.
-Ja, aber ausgemacht ist ausgemacht. Du hast mir dein Wort gegeben, und du weißt, dass man selbst ein Zarenwort brechen kann, aber ein Zigeunerhauptmann-Ehrenwort niemals – blieb Haris stur.
Ja, ich hatte es versprochen. Das hatte er so hartnäckig von mir verlangt. Ich wusste nie, wozu er das brauchte und wen meine Geschichte interessieren könnte. Je mehr ich mich aber auf ein Gespräch mit ihm einließ, desto mehr nagte der Wurm des Zweifels an meiner Entschlossenheit. Er aber, durchtrieben wie er war, sah mich nicht mehr an, sondern schaute in Richtung der aufgehenden Sonne, die schon über dem Horizont aufgetaucht war und unsere Gesichter zu wärmen begann.
-Die Hitze wird uns erwischen, sei doch vernünftig. Es kann auch sein, dass sich langsam Leute versammeln, bald ist auch die Polizei da – dann bin ich schlimmer dran als du. Vielleicht hat uns schon jemand gesehen und jetzt können gleich die Sirenen losheulen. Und wenn du dich erhängst, werden sie mich verhören.
Ich brach mit meinem Vorhaben.
-Machen wir so, ich bleibe hier bis zum Schluss stehen. Und wenn ich mein Zeug zu Ende erzählt habe, mache ich weiter. Geht das? – fragte ich, entschlossen, später weiterzumachen.
-Wir sind doch Menschen – lächelte Haris.
Und ich fing an; ich wusste doch nicht, wie man ein Interview gibt, sondern ich sprach so, als wäre ich bei einem Verhör, fast rezitierend:
Ich bin das älteste Kind in der Familie von Adem und Đulsa Selmani aus dem Dorf Zlatare bei Uroševac, Albaner nennen es Ferizaj. Meine Mutter brachte vier Mädchen zur Welt und noch ein kleines Mannsbild. Zwei Mädchen starben, als sie noch klein waren. Ich bin sicher, dass sie erfroren sind. Man streifte herum und zog überall hin und her. Viele würden sagen – typisch Zigeuner, kein Ort kann sie festhalten. Aber das ist es nicht, sondern Not und Elend. Niemand zieht aus gutem Willen ständig von Brache zu Anger. Uns Zigeuner hat nie jemand ernst genommen, sondern so, als wären wir einfach aus Spaß ins Leben und in die Welt gekommen. Am Fluss ist es auch im Sommer kalt, und erst recht im Herbst und im Winter. Andere glauben, dass wir gerne am Fluss sind, weil wir es gern behaglich haben. Das stimmt auch, aber nur, wenn die Sonne zu wärmen beginnt, wenn sie so glasig auf seiner unruhigen Oberfläche spielt. Und damals waren die Flüsse sauber, aus jedem konnte man trinken.
In einem Winter starben beide Mädchen. Nach Neujahr. Zuerst Rabija, zweijährig, und dann auch Alja mit drei Jahren. Innerhalb von zwei Monaten beide. Allah gebe ihnen Paradies und leichte Erde. Sie waren lustig und richtige Wildfänge. Alja sang auch noch, immer und schön, auch wenn sie spielte und wenn sie aß und wenn wir sie schlugen. Als wäre von irgendwoher ein Paradiesvogel geflogen gekommen. Als sie krank wurde, brachte einer von Vaters Freunden ein Pulver. Mutter gab es ihr, aber es half nicht. Sie sang zwei Tage lang, aber immer schwächer und immer dünner, bis sie ganz versiegte. Und als auch ihr Lied erloschen war, wussten wir alle, dass sie nicht mehr lebte. Der Vater schwieg, rauchte und schwieg. Mir schien, dass wir alle in dieser Siedlung in diesem Winter weggestorben waren, so sehr hatte uns Alja umgehauen. Ich träumte später von ihr, wie sie im Paradies sang. Ich erzählte davon der Mutter, und Tränen strömten in großen Tropfen ihr Gesicht hinunter und sie sagte noch: Möge der Gnädige geben, dass sie wirklich dort singt.
Sobald es zu apern begann und der große Wind wehte, verschwand der Vater. Der Schnee war weg, Knabenkraut, Primeln und Schneeglöckchen kamen und vergingen wieder, dann kamen Löwenzahn, Sauerampfer und Pappeln, alle bunten Sommerblumen reiften heran und Mutter nahm uns mit, sie für den Tee zu pflücken und sagte uns, welche bei welchen Krankheiten heilsam waren. Gemähtes Getreide fiel und Gras verging, von Vater keine Spur. Nur Mutter machte uns Angst und drohte uns: Jetzt wird Vater hereinstürzen, ich werde ihm alles erzählen. Mit der Zeit gewöhnten wir uns die Furcht ab, im Wissen, dass Mutter leeres Stroh drosch.
Ich erinnere mich auch an die anderen Männer, die lustigeren, die spät abends von irgendwoher zurückkamen, zerzaust, mit Musik und Gesang, mit schief aufgesetztem Hut, nicht selten auch ohne. Sie sangen etwas, küssten und umarmten einander eine Weile vor den Zelten, klagten und radebrechten einen halben Satz, dann ging jeder unter sein Zelt. Darauf folgte auch der eine oder andere strenge Satz einer Frau, aber die Frauen tadelten ihre Männer vergeblich, sie fluchten und schimpften und schlugen dann um ins Weinen. Meistens wegen einer nur ihnen verständlichen Ordnung, selten auch wegen der Prügel, die sie dann von den betrunkenen Männern bekamen.
Oder ein warmer Sommerabend. Die Zelte stehen herum, wie Pilze in einem Feenreigen. In der Mitte ist ein Platz, so groß wie ein schöner Hof. In der Mitte steht eine Feuerstelle mit gekreuzten Holzbalken. Da wurde Feuer gemacht und im Sommer wurde darauf gekocht. Das ist nicht nur eine Erinnerung, das ist Anmut, Schmerz, meine Seele, das bin ich, mein Name, mein ganzes Gedächtnis, meine Wurzeln. Das habe ich gut gesagt – das sind meine Wurzeln. Und wenn mich etwas am Leben hält, dann ist es dieses Feuer, diese Flamme, der Funke, der Feuerstein, der in mir funkte zur Bewegung meines ganzen Lebens, mein Strahl, der mich irgendwohin führte, jemand würde sagen, ins Leben, mich irgendwohin führte, ich weiß nicht, wohin, aber ich weiß, dass er mich bisher am Leben erhalten hat.
Die Sonne versinkt hinter den Bergen, der erste Rauch schlängelt sich weiß und dicht dem Himmel entgegen. Kettenringe werden eingehängt, eiserne Kesselhalter, Deckel und Schüsseln aus Ton. Am Rand der Feuerstelle flüstert kochendes Wasser in der kupfernen Kaffeekanne.
Es ist dunkel, das Feuer beleuchtet schon den Hof. Jeder hat sich hingesetzt, manche auf die Erde, manche auf einen Hanfteppich, andere auf einen Fleckerlteppich. Die Männer auf dreibeinige Stühle. Jedes Gesicht wird vom Glanz der Flamme beleuchtet, daraus strahlen Funken wie Diamanten und bilden einen Sternen...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Erster Teil: Der Goldzahn
  6. Zweiter Teil: Flussaufwärts
  7. Dritter Teil: Die Narbe