1 »Beim Jupiter! Die Germanen greifen an!«
Die ganze Nacht hindurch hat es ununterbrochen geregnet. Und auch am nĂ€chsten Tag, dem 9. September 9 n. Chr., ist das Wetter miserabel. Der Himmel öffnet seine Schleusen und schĂŒttet einen Regenguss nach dem anderen auf die Soldaten herab, die vollkommen durchnĂ€sst auf schmalem Pfad, einer hinter dem anderen, in lang auseinandergezogenen, ungeordneten Kolonnen durch das sumpfige, fast undurchdringliche germanische Waldgebiet zwischen Weser und Ems marschieren. Die Soldaten haben es nach dem germanischen Volksstamm der Teutonen Teutoburgensis saltus getauft. Die Stiefel versinken im Morast, und immer wieder gleiten die MĂ€nner auf dem schlĂŒpfrigen Untergrund aus. Marcus Caelius aus Bologna, der 53-jĂ€hrige, erfahrene, hochdekorierte und rangĂ€lteste Zenturio der 18. kaiserlichen römischen Legion, hört ihre FlĂŒche hinter sich. Sie sind noch lauter als das Heulen und Sausen des heftigen Sturms. Seit ein paar Stunden wirbelt er durch die BĂ€ume, knickt sie um, entwurzelt sie und peitscht den Regen in die verzerrten Gesichter. HerabstĂŒrzende Baumkronen schmettern die LegionĂ€re nieder. Ăste und BaumstĂ€mme versperren den Weg und mĂŒssen beiseite gerĂ€umt werden, damit es weitergehen kann.
Marcus Caelius ist besorgt. Aber dieses scheuĂliche Wetter ist nicht der Grund dafĂŒr. Seit er mit seiner Zenturie in Germanien weilt, hat er schon einige dieser WolkenbrĂŒche erlebt. Auch daran, dass die meisten Zenturien der Legion nur aus knapp 80 LegionĂ€ren bestehen, und nicht â wie ursprĂŒnglich vorgesehen und dem Namen entsprechend â aus 100, hat er sich lĂ€ngst gewöhnt. Das war schon in den frĂŒhen Zeiten der römischen Republik so, und allen HauptmĂ€nnern des römischen Heeres geht es in diesem Herbst des Jahres 9 n. Chr. genauso. Sie haben weniger Soldaten unter ihrem Kommando als auf dem Papier steht. Auch die Tatsache, dass er und seine Kameraden durch das fremde, unwegsame und weitgehend unbekannte Germanien marschieren mĂŒssen, weit entfernt von der Heimat und ohne Aussicht, sie bald wiedersehen zu können, ist nicht der Grund fĂŒr seine Besorgnis. Das war schon in Gallien so, als Julius Caesar es eroberte, und erst vor wenigen Jahren kĂ€mpften römische LegionĂ€re auch in Dalmatien und Pannonien gegen aufstĂ€ndische illyrische StĂ€mme. Nein, das ist es nicht, was Marcus Caelius beunruhigt. FĂŒr einen römischen Soldaten ist es normal, in fernen Provinzen herumzumarschieren, sie â wie Caesar es ausgedrĂŒckt hatte â zu »befrieden«, StraĂen und BrĂŒcken zu bauen, Lager anzulegen, die römische Kultur zu verbreiten und immer wieder zu kĂ€mpfen.
Marcus Caelius wittert Unheil, eine konkrete Gefahr. Nach langen Jahren Dienst in der Armee und vielen Gefechten hat er eine Nase dafĂŒr bekommen. Wie alle Zenturionen ist er aus dem Mannschaftsdienstgrad aufgestiegen, nur die Stabsoffiziere mĂŒssen aus dem Ritter- oder Senatorenstand stammen. Seine Kameraden hatten ihn wegen seiner Umsicht, HĂ€rte und Tapferkeit vorgeschlagen, der Legionskommandeur, der Tribun, hatte ihn daraufhin ernannt, und Kaiser Augustus persönlich hatte die Beförderung bestĂ€tigt. Er wurde ein guter Zenturio und sorgte mit seinem PflichtgefĂŒhl und Gerechtigkeitssinn fĂŒr Disziplin in seiner Zenturie. Sie gilt als beste der ganzen 18. Legion, die schon um das Jahr 40 v. Chr. herum von Octavian, dem spĂ€teren Augustus, aufgestellt worden war. Die Soldaten rekrutieren sich ĂŒberwiegend aus Hirten und Bauern aus Latium und Samnium. Sie sind dunkel und vierschrötig und haben breite Schultern und starke Muskeln. Ihr hervorstechendstes Merkmal aber ist, wie Caesar gesagt hat, die brevitas, die kleine, untersetzte Statur, die fast alle Völker des SĂŒdens besitzen. Auch Marcus Caelius hat sie und nahezu alle Soldaten der 18. Legion.
Bei seinen MĂ€nnern ist Marcus Caelius sehr beliebt. Als Vorgesetzter ist er fĂŒr ihre Ausbildung und AusrĂŒstung verantwortlich. Sein Sold ist etwa viermal so hoch wie der seiner MĂ€nner, und er muss auch nicht das Zelt mit ihnen teilen. Er ist befugt, sie auszuzeichnen oder zu bestrafen. Von der vitis, dem langen Stock, Erkennungszeichen eines römischen Zenturios und dazu da, die Soldaten zu zĂŒchtigen und mit SchlĂ€gen zu Ordnung und Disziplin anzuhalten, macht Marcus Caelius allerdings nur selten Gebrauch. Seine Soldaten achten ihn nicht nur wegen seiner vielen phalerae, den runden goldenen oder silbernen, mit Gravuren und Verzierungen versehenen Platten, die er als Tapferkeitsauszeichnungen an einem Riemengeflecht auf seinem Brustpanzer neben dem Rangabzeichen trĂ€gt. Die Soldaten mögen ihn auch, weil er sich ihrer Probleme und Sorgen annimmt, sie hĂ€ufig ins Vertrauen zieht und sich mit ihnen berĂ€t.
Bei der erstbesten Gelegenheit will er das auch jetzt tun. Sobald es das widrige GelĂ€nde zulĂ€sst, will er alle seine MĂ€nner um sich scharen und ihnen mitteilen, warum er so besorgt ist. Seine Zenturie gehört neben fĂŒnf weiteren zur 1. Kohorte, der Eliteeinheit der 18. Legion. Nachdem die Legion nach einer lĂ€ngeren Besatzungszeit in Aquitanien im Jahr 15 v. Chr. an die Rheinfront nach Germanien verlegt worden war, sind seit 9 n. Chr. alle ihre zehn Kohorten in dem groĂen militĂ€rischen Basislager Castra Vetera am Rhein stationiert, nahe dem heutigen Xanten. Auch die Nachbarlegionen, die 17. und 19., haben dort ihre Basis. Diese drei Legionen, insgesamt rund 20.000 Mann einschlieĂlich des Trosses, sind Anfang September bei Minden an der Weser aufgebrochen, um sich in das Winterquartier bei Aliso (Haltern) an der oberen Lippe zu begeben. Den Oberbefehl hat Publius Quinctilius Varus, seit dem Jahre 7 n. Chr. Statthalter in ganz Germanien.
Die 1. Kohorte der 18. Legion marschiert am Ende des 20 Kilometer langen Heerwurmes, den die drei Legionen samt ihrem Tross und einigen germanischen Hilfstruppen bilden. Dazu kommen noch knapp 400 Reiter, die hauptsĂ€chlich zur AufklĂ€rung und NachrichtenĂŒbermittlung dienen, Aufgaben, die sie in dem unzugĂ€nglichen Dickicht jedoch kaum wahrnehmen können. AuĂer dem Offiziersstab, Ărzten, VerwaltungsfachkrĂ€ften und zahlreichen Arbeitsburschen, die die Pferde pflegen und versorgen sowie Zelte und anderes schweres GepĂ€ck auf die hölzernen Wagen und Karren laden mĂŒssen, gehört zu jeder Legion auch noch eine technische Truppe. Sie besteht gröĂtenteils aus Freiwilligen. Diese Pioniere hat Marcus Caelius schon immer hoch geachtet. Denn sie sind es, die mit ihrem vielseitigen handwerklichen Können StraĂen und Lager anlegen und BrĂŒcken â oder wenigstens provisorische Stege â ĂŒber die WasserlĂ€ufe bauen, wenn keine geeignete Furt ausfindig gemacht werden kann. Diese fabri haben das unwegsame GelĂ€nde Nordwestgermaniens fĂŒr die Legionen ĂŒberhaupt erst einigermaĂen passierbar gemacht. Doch in dieser felsigen, engen Waldschlucht, in der sich Marcus Caelius mit seinen MĂ€nnern seit ein paar Stunden mĂŒhsam fortbewegen muss, stets neuen Gefahren und Hindernissen ausgesetzt, sind selbst die fabri mit ihrer Kunst am Ende.
Eigentlich hĂ€tte die Aussicht, in wenigen Tagen im stark befestigten Winterquartier zu sein und dort von den Strapazen der beschwerlichen militĂ€rischen Unternehmungen ausruhen zu können, bei den Soldaten Freude auslösen mĂŒssen. Aber kurz vor dem Aufbruch werden Varus Nachrichten ĂŒberbracht, die von einem angeblichen Aufstand eines germanischen Stammes, vermutlich der Marser, in den tiefen WĂ€ldern zwischen Weser und Ems sprechen. Ohne genauere Nachforschungen anzustellen, beschlieĂt Varus sofort, einen Umweg zu machen, von der groĂen, befestigten, nach Westen fĂŒhrenden HeerstraĂe abzubiegen und sich in das sumpfige Waldgebiet zu wagen, um den Aufstand â sozusagen im Vorbeigehen â niederzuschlagen.
Als sich diese Kunde unter den Soldaten der drei Legionen verbreitet, ist die Freude auf den baldigen Winterurlaub etwas gedÀmpft. Aber die Tribune, die Kommandeure der Legionen und Kohorten, verbreiten Optimismus. Mit dieser kleinen regionalen Erhebung werde man schnell fertig werden, sagen sie. Es können nicht viele sein, die es unverstÀndlicherweise und geradezu selbstmörderisch wagen, die mÀchtigen römischen Truppen herauszufordern und ihnen die Stirn zu bieten, beruhigen sie die MÀnner. Das sei sicherlich nur ein unbedeutender germanischer Volksstamm mit wenig Kampfkraft, militÀrischer Disziplin und Erfahrung, sozusagen eine Lappalie.
Marcus Caelius glaubt das anfangs auch. Doch wĂ€hrend er mit seinen MĂ€nnern am Ende des endlosen Heerwurms durch die widerlichen, aus den SĂŒmpfen aufsteigenden DĂ€mpfe marschiert, durch eine kilometerlange Senke hindurch und ĂŒber Gebirgsschluchten und enge TĂ€ler hinweg, werden seine Bedenken immer gröĂer. Die Sicht ist gleich null. Und die einzelnen Marschkolonnen kommen kaum voran, insbesondere die Begleittiere und die vielen Wagen nicht, die Proviant und Verwundete befördern und in denen auch Frauen, hauptsĂ€chlich Marketenderinnen und Dirnen, sowie einige Kinder sitzen. Immer wieder mĂŒssen die weit auseinander gezogenen Kolonnen anhalten und warten, bis Hindernisse beseitigt sind und der Weg notdĂŒrftig frei gemacht ist.
Schon wieder stockt es vorne. Die rund 500 MĂ€nner der 1. Kohorte mĂŒssen stehen bleiben, wo sie gerade sind. Aber diesmal ist das Marcus Caelius gar nicht so unlieb. Dort, auf dieser kleinen, von BĂ€umen und Buschwerk dicht umschlossenen Lichtung kann er ein paar Soldaten seiner Zenturie um sich scharen und sich mit ihnen beraten. Die MĂ€nner sind erschöpft. Die Bewaffnung ist schon schwer genug. Dazu kommt noch das MarschgepĂ€ck: eine SĂ€ge, ein Spaten, ein Beil, zwei oder drei SchanzpfĂ€hle, ein Topf, ein Korb und ein Getreidevorrat fĂŒr sechs Tage. Alles in allem muss jeder LegionĂ€r knapp einen Zentner auf seinem RĂŒcken tragen! Ein hohes Marschtempo ist damit kaum möglich, und schon gar nicht bei derart widrigem Wetter und in schwierigstem GelĂ€nde. Marcus Caelius sieht besorgt in die schweiĂnassen Gesichter seiner MĂ€nner. WĂ€re es nach ihm gegangen, hĂ€tten sie diesen extremen Marsch nicht fortgesetzt, sondern wĂ€ren umgekehrt, zurĂŒck auf die befestigte HeerstraĂe nach Aliso. Die Sache mit dem Aufstand kommt ihm merkwĂŒrdig vor. Germanien gilt doch als »befriedet«, Unruhen hat es schon seit einiger Zeit nicht mehr gegeben. Statt durch eine sorgsame AufklĂ€rung herauszufinden, was es mit dieser angeblichen Erhebung eines germanischen Stammes auf sich hat, marschieren drei Legionen völlig ungeordnet immer tiefer in diesen unheimlichen Wald. Seine Nase sagt ihm, dass etwas nicht stimmt. AuĂerdem ist ihm aufgefallen, dass die Reitereinheit der germanischen Hilfstruppen, die zusammen mit einigen leicht bewaffneten FuĂsoldaten der Cherusker das Schlusslicht der Nachhut bildete, seit kurzem nicht mehr hinter ihnen ist. Das ist doch merkwĂŒrdig! Wo sind sie geblieben?
Da auch ihn der stundenlange beschwerliche Marsch angestrengt hat, kniet er sich schwer atmend ins nasse Gras, das nach Moos riecht und frischem Laubwerk. Der Sturm hat es zusammen mit dĂŒnneren, abgebrochenen Baumzweigen hierher geweht. Die BlĂ€tter beginnen schon, sich gelb zu fĂ€rben. Seine beiden Burschen Privatus und Thiaminus, die sich um sein GepĂ€ck im Trosswagen kĂŒmmern, lassen sich neben ihm nieder. Der prasselnde Regen hat seit ein paar Minuten aufgehört. Marcus Caelius legt seinen rechteckigen, ĂŒber einen Meter hohen hölzernen Schild auf den Boden. Das graue Fell, mit dem er ĂŒberzogen ist, ist völlig durchgeweicht. Er nimmt seinen wollenen Mantel ab, der auf der rechten Schulter durch eine Spange geschlossen wird und ihn gegen den Regen wenigstens ein bisschen schĂŒtzt, reibt mit einem Tuch den eisernen Buckel in der Mitte des Schildes trocken und setzt sich darauf. Schwer atmend zieht er die vier Riemen seiner hohen, geschlossenen Lederstiefel fest, dann lockert er, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen, seine Beinschienen. Als Zenturio darf er diesen bis zu den Knien reichenden Schutz anlegen und zum Zeichen seines Ranges auch den Helmbusch aus roten und schwarzen Federn quer tragen. Marcus Caelius löst den Kinnriemen, nimmt den Metallhelm ab, rĂŒckt das an seiner linken Seite baumelnde Schwert etwas zurecht, damit er besser sitzen kann, und wischt sich mit dem Tuch den SchweiĂ aus dem Gesicht. Das gekrĂ€uselte Haar an seinen SchlĂ€fen ist schon grau.
»Das gefĂ€llt mir nicht!«, murmelt er vor sich hin. »Das gefĂ€llt mir ganz und gar nicht! Ich habe das GefĂŒhl, dass ich aus dieser Wildnis nie mehr herauskommen werde. Mein ganzes Leben hindurch haben GlĂŒck und UnglĂŒck aneinander geklappert wie WĂŒrfel in einem Becher. Und jetzt höre ich das UnglĂŒck ganz laut klappern!« Einer seiner UnterfĂŒhrer lacht laut auf. »Wen die Götter lieben, Marcus Caelius, den lassen sie jung sterben. Und du bist alt!« Der Zenturio schĂŒttelt den Kopf. »Hier sind wir vollkommen eingeengt«, sagt er mit nun krĂ€ftiger, lauter Stimme, damit ihn auch alle in seiner NĂ€he hören können. »Wir kennen dieses Gebiet ĂŒberhaupt nicht. Wir marschieren auf schmalen Wegen ungeordnet Mann hinter Mann mit ungedeckten Flanken. Unsere RĂŒstungen und Schilde sind vom Regen nass und schwer geworden, im Nebeldunst können wir kaum etwas sehen, und im Falle eines feindlichen Angriffs ist unsere Beweglichkeit stark eingeschrĂ€nkt. MĂŒssen wir nicht mit einem solchen Angriff der AufstĂ€ndischen rechnen? Wir wissen nicht das Geringste ĂŒber sie, insbesondere nicht, wo sie sich momentan befinden.« Der UnterfĂŒhrer nickt mit dem Kopf. Auch er hat seinen Helm abgenommen. »Das stimmt«, brummt er, »vorausgesetzt es gibt ihn ĂŒberhaupt, diesen aufstĂ€ndischen Stamm.« Marcus Caelius schaut ihn nachdenklich an. »Aber wenn es ihn gibt und wir in dieser Schlucht angegriffen werden, können wir unsere bewĂ€hrte Kampftechnik in diesem tiefen Dickicht ĂŒberhaupt nicht entfalten. Wir können kein geschlossenes Viereck bilden und keine Gefechtslinien. Das ist fatal!«
Er kneift die Augen zusammen und starrt auf BĂŒsche und StrĂ€ucher und in die hohen BĂ€ume, die ihn ringsum wie undurchdringliche, schwarzgrĂŒn schimmernde WĂ€nde umgeben. »Gebt Obacht, MĂ€nner! Bleibt dicht beieinander! Und gebt euch, so gut es eben geht, gegenseitig Deckung! Wo ist unser KohortenfĂŒhrer? Ich möchte ihn warnen. Die germanischen Hilfstruppen hinter uns sind plötzlich von der BildflĂ€che verschwunden. Das ist doch sehr seltsam! Wir sollten schleunigst an einer geeigneten Stelle ein Lager errichten, das uns mehr Schutz bietet, mit GrĂ€ben und WĂ€llen drum herum! Und morgen frĂŒh sollten wir sofort umkehren! Das ist das Beste, was Quinctilius Varus in dieser Lage tun kann!« Marcus Caelius erhebt sich mit einem Ruck und verschwindet hinter dicken StĂ€mmen. Seine MĂ€nner wird er nicht mehr wiedersehen.
Als hĂ€tte der Zenturio das Stichwort gegeben, tauchen plötzlich wie aus dem Nichts und von allen Seiten riesige germanische Krieger auf, stĂŒrzen mit Geschrei und GebrĂŒll aus dem dichten Buschwerk und Unterholz hervor, stĂŒrmen von den HĂ€ngen hinunter, springen aus Baumkronen herab und umringen blitzschnell nicht nur die Zenturie des Caelius, sondern die ganze 1. Kohorte. An die 1000 wilde, schrecklich anzusehende, nur mit Tierfellen bedeckte Germanen umzingeln 500 völlig ĂŒberraschte Römer und werfen aus der Entfernung ihre Speere und andere Wurfgeschosse auf sie. Marcus Caelius hört noch aus der Ferne, wie sein UnterfĂŒhrer schreit: »Beim Jupiter! Die Germanen greifen an!«
Zahlreiche LegionĂ€re werden getroffen und sinken verwundet oder getötet zu Boden. Das Kriegsgeschrei schwillt an, als die Germanen, ihrer momentanen Ăberzahl gewiss, nĂ€her an die ĂŒberrumpelten römischen Soldaten heranrĂŒcken. Mit ihren kurzen Speeren und schweren Holzkeulen stechen und hauen sie alles nieder. Die LegionĂ€re versuchen vergeblich, in der Enge des Waldes eine Gefechtslinie zu bilden. Die meisten sind vor Entsetzen starr und kommen nicht einmal dazu, ihr Schwert zu ziehen und sich zu wehren. Wer es tatsĂ€chlich schafft, hat nicht genĂŒgend Raum fĂŒr einen wirkungsvollen Einsatz. Und die Kameraden der anderen Kohorten sind zu weit entfernt, um den Eingeschlossenen zu Hilfe kommen zu können.
In wenigen Minuten ist der erste Akt des Dramas vorĂŒber, das spĂ€ter weltgeschichtliche Bedeutung erlangen wird. WĂ€hrend die Germanen keine Verluste haben, ĂŒberlebt aus der 1. römischen Kohorte niemand, auch Marcus Caelius nicht. Das Letzte, was er hört, ist das Surren des tödlichen Speeres, der sich in seinen Unterleib bohrt und ihn niederstreckt. Dann steht ein groĂer, rothaariger Germane ĂŒber ihm; der Zenturio sieht sein hasserfĂŒlltes Gesicht. Die Keule spaltet seinen SchĂ€del mit einem Schlag.
Die Gebeine des Marcus Caelius werden nie geborgen. Wir wissen von ihm nur, weil sein Bruder Publius Caelius ein Kenotaph fĂŒr ihn hat errichten lassen, ein leeres Grab fĂŒr den fern der Heimat Verstorbenen mit einigen Inschriften im Relief und sogar einer plastischen Abbildung. Dort sollte des toten Zenturios gedacht werden. Der Inschriftstein stand wahrscheinlich zunĂ€chst auf dem FĂŒrstenberg gegenĂŒber der LippemĂŒndung in der NĂ€he der heutigen Stadt Xanten, wo sich frĂŒher das groĂe römische MilitĂ€rlager Castra Vetera befand. Jedenfalls ist der sogenannte Caeliusstein dort auf dem Ehrenfriedhof gefunden worden. Er zeigt den Zenturio Marcus Caelius in sitzender Stellung in seiner vollen Uniform und mit all seinen militĂ€rischen Auszeichnungen. Der rechte Unterarm ist stark angewinkelt, die Hand hĂ€lt den Zenturio-Stock, und auf dem Kopf trĂ€gt der Geehrte eine Corona Civica. Diese aus einem Kranz aus EichenblĂ€ttern bestehende »BĂŒrgerkrone« war eine der höchsten militĂ€rischen Auszeichnungen in der römischen Republik und wurde demjenigen verliehen, der als civis, als römischer BĂŒrger, einem MitbĂŒrger in der Schlacht das Leben gerettet und den Feind getötet hatte. Ihr TrĂ€ger besaĂ besondere Privilegien. Bei öffentlichen Spielen durfte er neben dem Senat sitzen, und bei seinem Eintritt mussten sich alle von den PlĂ€tzen erheben.
Auf dem Caeliusstein steht in durch einzelne EfeublĂ€tter abgeteilten Worten in lateinischen Buchstaben: Dem Marcus Caelius, dem Sohn des Titus, aus dem Stimmbezirk Lemonia, aus Bologna, dem Hauptmann der 1. Kohorte der 18. Legion, 53 Jahre alt. Er ist gefallen im Krieg des Varus. (Seine) Gebeine dĂŒrfen hier bestattet werden. Publius Caelius, der Sohn des Titus, aus dem Stimmbezirk Lemonia, sein Bruder, hat (diesen Stein) gemacht. Links und rechts von dem Reliefbild des Zenturio sind noch zwei weitere Köpfe abgebildet. Eine weitere Inschrift klĂ€rt darĂŒber auf, dass es sich um seine freigelassenen Sklaven Marcus Caelius Privatus und Marcus Caelius Thiaminus handelt, seine beiden Burschen, die sehr wahrscheinlich mit ihm zusammen in der Schlacht umgekommen sind.
Dieser Grabstein, der heute im Rheinischen Landesmuseum Bonn besichtigt werden kann, ist bislang die einzige archĂ€ologisch-epigrafische Quelle dafĂŒr, dass die sogenannte »Schlacht im Teutoburger Wald« ĂŒberhaupt stattgefunden hat. Wo genau, ist noch immer heiĂ umstritten. DarĂŒber werden wir noch ausfĂŒhrlicher zu reden haben. Und ĂŒber vieles andere ebenfalls, zum Beispiel auch ĂŒber die Ursachen und GrĂŒnde fĂŒr das entsetzliche Gemetzel in dem germanischen Walddickicht. Und Sie wollen wahrscheinlich auch wissen, warum denn und in welcher Weise die »Römer frech geworden« sind, wie der frĂŒher sehr populĂ€re Liedtext von Joseph Viktor von Scheffel (1826â1886) verkĂŒndet. Der Mann ist im Zeitalter des Wilhelminismus, als das deutsche NationalgefĂŒhl in vollster BlĂŒte stand und die nationale Begeisterung keine Grenzen kannte, mit seinem Versroman »Der Trompeter von SĂ€ckingen« und vor allem als Studentenliederdichter bekannt geworden. Ich nehme an, Sie kennen das Lied auch:
Als die Römer frech geworden, sim serim sim sim sim sim, zogen sie nach Deutschlands Norden, sim serim sim sim sim sim. Vorne mit Trompetenschall, te rĂ€ tĂ€ tĂ€ tĂ€ te rĂ€, ritt der Generalfeldmarschall, te rĂ€ tĂ€ tĂ€ tĂ€ te rĂ€, Herr Quin(c)tilius Varus, wau, wau, wau, wau, wau, Herr Quin(c)tilius Varus, schnĂ€de rĂ€ng tĂ€ng, schnĂ€de rĂ€ng tĂ€ng, de rĂ€ng tĂ€ng tĂ€ng ⊠Weh, das ward ein groĂes Morden âŠ, und so weiter. Sie wissen schon.
2 Antike Geschichtsschreibung â ein Problem
Bitte runzeln Sie jetzt nicht die Stirn! Wir sind ja erst beim zweiten Kapitel, und ich verspreche Ihnen, dieses ehemals sehr populĂ€re Lied, das sich ĂŒber den blutigen Untergang der römischen Soldaten im Teutoburger Wald lustig macht und sie verhöhnt und verspottet, nicht mehr zu erwĂ€hnen. Aber vielleicht legen Sie Ihre Stirn auch deshalb in Falten, weil Sie sich nach den ersten gelesenen Seiten erstaunt fragen: »Ach so, so war das? Das also war die berĂŒhmte Schlacht im Teutoburger Wald?« Ich kann Sie beruhigen, das war sie nicht. Das war erst ihr Beginn, denn andernfalls wĂ€ren wir schon am Ende des Buches angelangt. Und das wĂ€re doch recht Ă€rgerlich.
Habe ich Sie nun neugierig gemacht, und wollen Sie ein wenig mehr wissen ĂŒber dieses dramatische Geschehen, das die weitere Zukunft Germaniens und auch Roms weitgehend beeinflusst hat? Das Ende der dreitĂ€gigen â nach einigen Historikern sogar viertĂ€gigen â Entscheidungsschlacht hat die neuere Forschung mehrheitlich auf den 11. September 9 n. Chr. festgelegt. Der 11. September, ein dĂŒsteres Datum, das auch rund 2000 Jahre spĂ€ter böse Erinnerungen weckt â Erinnerungen an den 11. September 2001, als das New Yorker World Trade Center Opfer eines brutalen Terroranschlags wurde und ĂŒber 3000 Menschen starben. Eine merkwĂŒrdige Ăbereinstimmung des Datums. Auch die Katastrophe dieses Tages, eine neue Dimension von hinterhĂ€ltiger Gewalt, verĂ€nderte die Welt. Seitdem fĂŒhren die USA einen unerbittlichen Krieg gegen den internationalen Terrorismus.
Doch auch das, was vor 2000 Jahren geschah, lĂ€sst uns nicht los, insbesondere uns Deutsche nicht, fĂŒr die die Schlacht im Teutoburger Wald zur bedeutendsten Schlacht ihrer Geschichte geworden ist. Möglicherweise erwarten Sie nu...