IX
Ich unternahm einen letzten Versuch, verfasste mit fliegender Hand einen umfänglichen Brief an Ulla, 17 randvolle Seiten, die ich, um sicher zu gehen, dass sie nicht wieder abhanden kamen, eingeschrieben und per Eilboten abschickte. Obwohl oder gerade weil ich ahnte, dass ich den Kampf um Ulla bereits verloren hatte, schilderte ich meine inwendige Verwundung und Zerrüttung in den grellsten Farben, malte ihr, ein wenig wie Werther, mein Liebesleid aus. Mir sei, ließ ich in Kleists Manier verlauten, »eine Welt eingestürzt«; mein Vertrauen zu anderen, besonders zu Frauen, sei auf Dauer gestört und ich gänzlich am Boden vernichtet. Ich irrte, fuhr ich fort, wie ein verrücktes Tier im Kerker umher, halblaut mit mir selbst und mehr noch mit ihr und ihrem Bild redend. Ich verurteilte ihren Egoismus und ihren Wankelmut, bejammerte meine traurige Lage und buhlte um Mitgefühl, indem ich auf unsere innigen Frühlingswochen anspielte, ihr unser erstes Zusammentreffen in einem Shakespeare-Seminar vor Augen rückte und im Gegenschnitt den durch ihren so schmerzhaften Brief bei mir ausgelösten Schock beschwor, auch Todeswünsche andeutete.
Zugleich gab ich vor, Ulla die Entscheidung zwischen mir und Herrn X, an dem ich kein gutes Haar ließ, obwohl ich ihn gar nicht kannte, zu erleichtern und mich freiwillig zurückzuziehen, wenn sie mir zuvor ein deutliches Wort sagen würde. Nur dürfe sie mich nicht länger im Unklaren lassen. Eine rasche Entscheidung sei zu meiner Beruhigung nötig. Sie solle mir ein Telegramm schicken, schrieb ich, drei Wörter genügten, ich wolle keine Erklärungen lesen, nur Fakten zählten. Sie möge einfach schreiben: »Ich wähle Herrn X« oder »Geh zum Teufel«, und sie würde nie wieder etwas von mir hören. Ich würde fortan die Heimatstadt und selbst die Nähe der geliebten Mutter meiden, denn ihr, Ulla, noch einmal zu begegnen, und sei es zufällig, wäre für mich unerträglich, eine peinliche Qual, so als ob nicht sie mir, sondern ich ihr Kummer zugefügt hätte.
Wenige Tage später erhielt ich von Ulla eine recht knappe, ebenfalls eingeschriebene Antwort. Ja, ich hätte richtig vermutet, mein vermisster Brief sei wirklich von Herrn X abgefangen und beiseite geschafft worden. Und sie könne auch begreifen, dass er der Versuchung vorm Briefkasten nicht widerstehen konnte und eifersüchtig hineingegriffen habe. Sie sei sich jedoch sicher, dass er meinen Brief nicht geöffnet und gelesen habe – »so etwas würde er nie tun!« -, sondern ihn der nahe stehenden Mülltonne zugeführt habe. Er sei doch kein neugieriger oder geschwätziger Mensch.
Vor allem jedoch wolle und müsse sie mir nun ehrlicherweise mitteilen, dass sie Herrn X liebe. Sie sei endlich so weit, das zu wissen, auch wenn es für mich vermutlich unbegreiflich sei. Man könne das Ende einer Liebe nie verstehen. Sie sei sich sicher, Herrn X, der sich in einer schwierigen Situation befinde und ihre ganze Zuwendung brauche, zu lieben, soweit man überhaupt sicher sein könne. Sie leide aber gleichermaßen mit mir, sie ahne, wie mir zumute sei, wie deprimiert ich sein müsse, und denke häufig an mich und dieses seltsame Wunsiedel, das sie nun doch nicht kennen lernen werde. Wir könnten uns ja weiterhin schreiben. Und ich möge jetzt bitte nichts überstürzen und ja keinen Fehler machen, schrieb sie abschließend… ich hörte ihre Stimme, die immer so klang, als ob sie für alle Welt Mitleid empfinde und für Jeden Verständnis habe. Ich müsse mich beruhigen, auch meiner Mutter zuliebe, die mich brauche, meine literarischen Talente bedenken und etwas daraus machen. Ob ich mich denn nur im Extremen wohl fühle?
Nun hatte ich endgültig ausgespielt und auch diese letzte Rolle verloren, die des Liebhabers einer geheimnisvollen Frau. Ich fühlte mich stumpf und ausgesogen, vollkommen leer. Herr X war jedenfalls ständig in Ullas Nähe, er wohnte im Haus, und ihre Mutter schien im Hintergrund die Fäden zu ziehen, während man mich wegen Unbeherrschtheit aus dem Spiel genommen und ausgesperrt hatte. Um mich ein wenig zu revanchieren, schrieb ich Ulla auf einer Theater-Postkarte, auf welcher ich selber als Gerichtsschreiber, einen Federkiel in der Hand, abgebildet war, ich plante, meine Zelte in Wunsiedel vorzeitig abzubrechen und würde in spätestens drei Tagen zu einer Aussprache bei ihr sein.
Postwendend traf ein Brieftelegramm ein, in dem nur der unbestimmte Satz »Ich bin in der Abreise« enthalten war. Im ersten Moment legte ich die fünf Wörter selbstbezogen so aus, dass Ulla ihre Ansicht revidiert hatte und im Begriff war, zu mir aufzubrechen, und schäumte über vor Freude. Ich räumte in Eile mein Zimmer auf, kaufte Blumen und gab der Wirtin Bescheid, sie möge, falls Ulla während meiner Abwesenheit auf der Luisenburg eintreffe, sie erst einmal in mein Zimmer führen. Bis mir am Ende des Tages, da Ulla noch immer nicht eingetroffen war, klar wurde, dass sie überhaupt nicht vorhatte, zu mir nach Wunsiedel zu reisen, sondern im Gegenteil vor mir floh mit unbekanntem Ziel. Ich brauchte erst gar nicht nach Heidelberg aufzubrechen, so der Orakelspruch, weil ich Ulla dort nicht mehr antreffen würde. Vielleicht war sie mit ihrer Mutter nach Südfrankreich geflohen, wo diese in der Nähe von Orange ein Landhaus besaß, vielleicht auch mit Herrn X zusammen nach Venedig, ihrer Lieblingsstadt gereist.
»Ach diese Lücke! diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle! – Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt sein.«
(Goethe, »Die Leiden des jungen Werther«)
Nein, ich trauere meiner Jugend nicht nach, jetzt nicht mehr, seit ich ein wenig Bescheid weiß und dies stille Feuer in mir fortbrennt. Ich vermisse die Jugend nicht, sie war voller Enttäuschungen, Irrwege, Torheiten und nahe am Abgrund gebaut. Und es ist mir im Lauf meiner Jahre, je grauer ich wurde, auch immer besser ergangen, zumal die Beweglichkeit des Geistes eher zu- als abnahm. Ich lernte zu differenzieren und fand mich im Alltag einigermaßen zu Recht. Ich hatte auch kleinere Erfolge, berufliche wie private, hielt mich aber ständig am Rand auf und kämpfte allein. Die Jugend kommt unbedingt daher, polternd und unwissend. In meinem Fall war es eine Mischung aus Anmaßung und Furchtsamkeit, Ich-Besessenheit und Depression, aus Besserwisserei und der Unfähigkeit, standzuhalten und etwas zu leisten. Meine eine Seite konnte unvermittelt in die andere umschlagen, ohne dass ich es bemerkte. Ich lief tatsächlich wie ein offenes Messer herum, an dem man sich schneiden konnte. Ich hatte die allerhöchsten Ansprüche an mich, an die anderen und an den Weltkreis, brachte aber so gut wie nichts zustande. Erst das Alter (oder der Abstand von mehr als vierzig Jahren) ermöglicht einen gelassenen Rückblick, sogar eine gewisse Bescheidenheit und Einkehr, Um- und Auswege… Staunen über mich selbst.
Mein Hirn (mein Ich), notierte ich im Sommer 1964, verliert die Orientierung, es beginnt zu halluzinieren, versteht sich und seine Arbeit nicht mehr. Es beherrscht seine Sprache nicht mehr, sie ist krank. Es stottert, alles zerfällt ihm, löst sich auf, zerkrümelt. Nur die Flucht nach Hause könnte mir vielleicht helfen.
Meine Mutter kommt mir auf einer leeren sommerlichen Straße entgegen, im sandfarbenen Kamelhaarmantel, viel zu warm angezogen. Weshalb ist sie, zumal bei dieser Hitze, mit dem Zug nach Wunsiedel gefahren, ohne mir vorher etwas zu sagen? Vom Bahnhof aus biegt sie mit ihrem Koffer in die Döbereiner Straße ein, wo ich für sie ein Zimmer im Erdgeschoss eines hellen Hauses bei einer Familie Schübel gemietet habe, unseren kleinen Hund, einen Rauhhaardackel an der Leine. Sie wirkt müde von der Reise, ist blass und hohlwangig, aber auch glücklich, mich wieder zu sehen und zu berühren, endlich in meiner Nähe zu sein. Dann höre ich nur noch ihre sanfte Stimme, die ganz deutlich in mein Ohr sagt: Was für ein schöner Abend heute.
Die Ausflüge mit ihr auf Wald- und Feldwegen, zum Zollstock, zum Weißen Stein, sie in einem blauen Sommerkleid, unter Obstbäumen, leichten Schritts, noch immer jung und schön in meinen Augen, doch bereits schwer atmend und häufig innehaltend beim Aufstieg mit klopfendem Herzen. Und daneben ich, der kleine Egoist, der fortwährend schwätzte, ohne ihre Einsamkeit zu bemerken, noch mit zwanzig ein mitleidloses, unwissendes Kind. Ich blieb aus purer Schwäche bei ihr. Wo sonst hätten meine hochfahrenden Reden über die wahre Kunst, mein kindisches Zetern und Toben, mein Gejammer über die Sinnlosigkeit der Existenz mehr Aufmerksamkeit gefunden; wo hätte ich mehr Zuwendung erfahren…
Zur Ablenkung machte ich mich wieder an die Geistesarbeit. Ich bemühte mich, das in Wunsiedel Erfahrene aufzuschreiben, es in eine poetische Prosa zu fassen, doch es wollte mir nicht recht gelingen. Ich war unruhig und voller Angst, konnte mich schlecht konzentrieren und floh bald den Schreibtisch. Unter einem gewittrigen Himmel, im Felsenmeer, studierte ich Clemens Brentanos verwilderten Roman »Godwi«, ein genialisches Jugendwerk mit lyrischen Einlagen, das die freie Sinnlichkeit und den Müßiggang feiert, hastig hingehauen und trotz der witzigen Maskerade nur mit äußerster Anstrengung lesbar. Auch der Schluss wirkt satirisch überdreht: Der Erzähler des Buches, Maria, stirbt am Wortwitz, so dass der Held, Godwi, gezwungen ist, den Roman selbst zu Ende zu schreiben, indem er vom Tod des Autors berichtet.
»Ist es denn wahr? Kann denn der Mensch nicht lieben?
Ist keine Wahrheit in dem dunklen Leben?
Wird jeder Schmerz im Tode nur gesund?«
(Clemens Brentano)
Mit Siegfried, dem neu gewonnenen Freund, unternahm ich an spielfreien Tagen einige wahrhaft romantische, den Kummer eindämmende Ausflüge, Entdeckungsreisen in die fränkische Vergangenheit. Zuerst steuerten wir die berühmte Basilika Vierzehnheiligen an, eine Wallfahrtskirche, die den vierzehn Nothelfern gewidmet ist, die als heilige Märtyrer starben. Sie liegt auf einer Anhöhe über dem Main und ist mir als der schönste Barockbau, den ich je gesehen habe, in Erinnerung geblieben… besonders die leicht vorschwingende Fassade Balthasar Neumanns mit den aufragenden Westtürmen aus gelblichem Sandstein. Der helle Innenraum ist ganz auf den Gnadenaltar zentriert, in dessen Fundament sich die erdige Stelle befindet, an welcher das Jesuskind im Jahr 1446 einem Schäfer namens Hermann Leicht dreimal erschienen sein soll. Gegenüber, auf der anderen Mainseite, antwortet das ältere, nicht ganz so prächtige, längst aufgegebene Kloster Banz mit seinen Kirchtürmen.
Und dann der Bamberger Dom. Er verfügt, anders als die mir vertrauten Kaiserdome von Speyer und Worms, noch über einen Teil seiner ursprünglichen Ausstattung aus dem Mittelalter, also Chorschranken, Skulpturen der Heiligen aus Holz und Stein, Schnitz-Altäre, ein Kaiser- und ein Papstgrab, die Grabplatten der strengen Fürst-Bischöfe und Hexenbrenner, Reliefs, Taufbecken, Kruzifixe, Silbergefäße, Reliquiare – Gegenstände, die andernorts calvinistischen Bilderstürmern, französischen Marodeuren oder einer beflissenen Säkularisation zum Opfer fielen… Der steinerne Domreiter am Nordpfeiler des Georgenchors blickt von seiner Akanthuskonsole auf die Sterblichen herab wie vor acht Jahrhunderten, als würde er gleich Dominus vobiscum sagen, ein ernster schlanker Jüngling mit Königskrone, zu Pferd, doch ohne Rüstung, waffenlos, ein Ausspähender und Fremdling auf Erden, noli me tangere. Dass er einst farbig bemalt war, ist schwer zu begreifen. Wen mag die rätselhafte Skulptur darstellen? Einen heilig gesprochenen Kaiser, einen königlichen Franken oder Staufer? Einen messianischen Reiter und Friedensfürst, den Herrscher eines kommenden Reichs, den wiederkehrenden Messias selbst? Wolframs Parzival, den Muttersohn, den Vaterlosen, Reinen… War er gar ein Ahne Claus von Stauffenbergs, wie man im Kreis um Stefan George munkelte? Je länger ich mir den Reiter ansah, umso mehr schien er meinem Freund Siegfried zu gleichen, der aufrecht neben mir stand, Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick verkörpernd. Ich konnte die Augen kaum von ihm abwenden.
Ein andermal brachen wir in das tschechische Grenzgebiet auf, eine herbe Landschaft. Besuchten die tausendjährige Burg Hohenberg an der Eger, in deren Nähe ein einsamer amerikanischer Panzer den mit Stacheldraht bekrönten Grenzzaun und die maroden Wachtürme observierte. Bei dem Ort Schirnding missachteten wir alle warnenden Hinweise, überwanden übermütig die Landesgrenze und drangen ein Stück weit in Feindesland vor, um Eger und Karlsbad zu befreien. Wir fühlten uns ein wenig als Helden, robbten unter Zäunen hindurch, warfen mit Steinen und Knüppeln nach den Türmen und schweiften ins Unterholz aus, ohne dass irgendetwas passierte.
Im nahen Dorf Konnersreuth schlossen wir uns dem Pilgerzug zur Grabstätte der stigmatisierten Bauernmagd Therese Neumann an, mischten uns unter die Krüppel und Kranken, die den Rosenkranz betend die Lippen bewegten. Muss man in dieser Gottes-Landschaft, dieser Marienluft, nicht an Wunder glauben? Die Resl von Konnersreuth war knapp zwei Jahre zuvor gestorben und zog noch immer, besonders an Feiertagen, an denen einst ihre Wundmale aufzubrechen pflegten, viel gläubiges Volk an, das zu ihr aufsah und ihre Seligsprechung verlangte. 36 Jahre hat sie, wie uns eine Nonne versicherte, außer der Heiligen Kommunion, weder gegessen noch getrunken. Zeugt das nicht auch von Hochmut, ja von Größenwahn, über so lange Zeit nahezu nichts zu sich zu nehmen, nur um sich als von Gott Erwählte zu präsentieren und sich über die anderen zu stellen... Ich hätte ihr dienen können als eine Art Schreiber und Gottesknecht, demütig wie Clemens Brentano, der fast fünf Jahre lang am Krankenbett der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerich in Dülmen in Westfalen zubrachte und ihre Visionen niederschrieb.
Wir besuchten auch die inmitten von Feldern und Wiesen auf dem Glasberg gelegene Wallfahrtskirche Kappel, der heiligen Dreieinigkeit wegen auf dreipassförmigem Grundriss erbaut von Georg Dientzenhofer und von drei skurrilen Zwiebeltürmchen überragt. Ich entzündete eine Kerze, versuchte – nicht zum ersten Mal in diesen Wochen – zu beten, was Siegfried als knechtisch missbilligte, doch auch hier, in völliger Abgeschiedenheit, gelang es mir nicht, zu Gott zu sprechen. Ganz in der Nähe der Ort Waldsassen mit seiner berühmten Klosterbibliothek, deren Galerie von geschnitzten Großfiguren getragen wird, die in ihrer grotesken Bewegung Szenen aus Sebastian Brants »Narrenschiff« und Georg Rollenhagens »Froschmeuseler« nachspielen und zugleich etwas mit der Papier- und Buchherstellung zu tun haben. Nur ein kühner Schritt oder besser ein Kniefall war nötig – der Eingang ins Kloster stünde mir offen, und ich könnte mich fortan ungestört dem Studium der hier versammelten Handschriften und Bücher widmen…
Über das Betriebsbüro der Luisenburg-Festspiele gelang es mir, eine Karte für die Bayreuther Festspiele zu ergattern, wo ich einer Aufführung der »Meistersinger von Nürnberg« mit gemischten Gefühlen beiwohnte. Ich fand das Festspielhaus auf dem Grünen Hügel reichlich pompös, während es im Nachhinein betrachtet seinen Zwecken durchaus angemessen und fast bescheiden wirkt, ein Fachwerkbau aus rotem Ziegelstein. Der ansteigende, mit Holz verkleidete Zuschauerraum mit dem unsichtbaren Orchester und den nicht gepolsterten Sitzen erschien mir schon damals, als Kontrast zu dem festlich herausgeputzten Publikum, das ihn füllte, extrem karg. Richard Wagners Musik kam mir abwechselnd leer und lärmend, dann wieder höchst subtil und anrührend und sogar mitreißend vor, ein begeisterndes, nicht endendes Rauschen, dem ich mich auslieferte… dieses stete Anschwellen der Töne, dieses kaum mehr für möglich gehaltene Überschreiten der Gefühle, ein Jubeln, Wühlen, Kreiseln, ein Aufbruch zu immer höherer Klarheit… Entgrenzung, Erlösung – sehnen sich nicht alle danach? Bei Hans Sachs’ Takten »Was duftet doch der Flieder / So mild, so stark und voll« oder »Dem Vogel, der heut sang, / Dem war der Schnabel hold gewachsen«, meinen Lieblingsstellen, liefen mir Schauer über den Rücken, ein Glücksgefühl, das ich seither auch mit dem hervorgehobenen Ort und der mystischen Frankenlandschaft verbinde. Enttäuscht war ich von Wieland Wagners Regie, die ich so konventionell nicht erwartet hatte. Ich störte mich auch an der oft unbeholfen archaisierenden Verssprache des Meisters. Besonders irritierte mich die das Werk abschließende Feier der »heil’gen deutschen Kunst«, wobei Jubelchor und Solisten, in sechs Reihen nahe der Rampe aufgebaut, frontal ins Publikum sangen.
Doch was ist im Ernst gegen Richard Wagners Libretto, das einige Jahre vor der zweiten Reichsgründung entstand, vorzubringen? Es mag manchmal etwas hausbacken klingen, auch unfreiwillig komisch, aber worin liegt seine »Gefährlichkeit« (die Regisseure heutzutage modisch unterstellen, indem sie Hans Sachs zur »pro-faschistischen Führerfigur« herrichten, die es zu zerstören gilt)? Sind nur einige Zeilen verdächtig oder ist es das ganze Werk? »Verachtet mir die Meister nicht, / Und ehrt mir ihre Kunst!« mahnt Hans Sachs die auf der Festwiese versammelte Menge (und weshalb sollte man auch die poetische Tradition des Meistersangs verachten?), um prophetischen Tons, wenn auch im Konjunktiv, zu enden: »Zerging in Dunst / Das heil’ge röm’sche Reich, / Uns bliebe gleich / Die heil’ge deutsche Kunst!« Mag auch das alte Reich und mit ihm die politische Macht untergehen (zu Sachsens Zeit kaum vorstellbar, doch in Wagners Ära längst wirklich geworden), so bleibt uns Eingeweihten zumindest die große deutsche Kunst, auf die es eigentlich ankommt, als Sage und Mythos erhalten. Klingt es nicht mehr wie eine Beschwörung als wie eine Gewissheit? Dieser harmlose Idealismus, der seiner patriotischen Sache nicht ganz sicher zu sein scheint, erregte meinen liberalen Unwillen so sehr, dass ich auch die besondere Qualität des Orchesters und der Sänger (unter ihnen die junge Anja Silja) nicht angemessen würdigen konnte.
Die Jean Paul-Stätten in Bayreuth habe ich leider versäumt, etwa die »Rollwenzelei« mit der Studierstube des Dichters, die er am Morgen mit Ranzen und Pudel aufzusuchen pflegte, das letzte Wohnhaus in der Friedrichstraße, das Grab, das er mit dem Sohn, der vor ihm starb, teilte. Dafür unternahm ich einen Abstecher in das der Zeit entrückte Kuhdorf Joditz an der Saale, in welchem der spätere Weltendichter Johann Paul Friedrich Richter seine Kindheit zugebracht hat – ein Flecken mit wenigen schlichten Häusern, Bauernhöfen, kargen Gärten. Aus solcher Enge kam er also, der Dichter der Himmelsweite, hier fand und sammelte er seine kosmischen Bilder. Er träumte viel, hatte Gesichte, erlebte Ekstasen, zeitweise leugnete er Gott. Die kleine einschiffige Barockkirche mit dem mächtigen Glockenturm, von deren reich geschmückter und vergoldeter Kanzel Jean Pauls früh gestorbener Vater predigte, auch das lang gestreckte, ockerfarbene Pfarrhaus, das Schulhaus, das Wirtshaus und der Kirchhof sind noch vorhanden, ebenso das alte Sägewerk am Dorfbach, in dem die Forellen blinken. In der Dämmerung die scharfe Mondsichel über dem Hügel und glänzend im Mühlteich. Das vergnügte Schulmeisterlein Maria Wutz wirkte und starb hier in »Auenthal«. Auch Walt und Vult, die so gegensätzlichen Zwillingsbrüder und Helden der »Flegeljahre«, entstammen dem Kindheitsort, der im Roman »Elterlein« heißt.
»Die Landschaft stieg bald rüstig auf und ab, bald zerlief
sie in ein breites ebenes Grasmeer, worin Kornfluren und
Raine die Wellen vorstellten und Baumklumpen die
Schiffe.«
(Jean Paul, »Flegeljahre«)
Ein romantischer Wanderweg führt von Joditz nach dem Städtchen Hof, etwa zehn Kilometer an der trägen Saale, nebligen Uferwiesen entlang; Schlehen, Erlen und Vogelbeeren im weiten Tal, Mohnfelder. Auf halbem Weg trifft man auf das Grab von Jean Pauls jüngerem Bruder Heinrich, der hier im Winter 1789 ertrunken ist. Unklar, ob er sich aus Verzweiflung selbst in den Fluss gestürzt hat oder im Streit von einem Saufkumpan, einem Rotgerber, von der Brücke gestoßen wurde. Der Dichter, der als Kind häufig zu Fuß zwischen Hof und Joditz unterwegs war, soll das Grab später auch bei Nacht aufgesucht haben, eine Laterne in der Hand. Ob er sich schuldig wähnte angesichts der bitteren Armut der Mutter und der Geschwister, an der er mit Schreiben vorerst nichts und mit Stundengeben wenig ändern konnte? Er war nun einmal der älteste Sohn und fühlte sich für die Familie, die in Hof in einem Zimmer hauste, verantwortlich. Und die Nacht so finster, als wollte es nie wieder hell werden. Da hab ich noch im Dunkel die Augen zugemacht. Ob sie ihn anzog in ihrer Gottverlassenheit, die Landschaft, die Nacht, das unterirdische Lemurenleben… eine heimliche Angstlust, Lustangst? Ob ihn der Bruder und die zahllosen anderen Toten riefen? Er legte sich auf die Erde und lauschte auf die Signale und Sti...