Jesusalem
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Jesusalem

Mia Couto, Indra Wussow, Karin von Schweder-Schreiner

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  1. 216 pages
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Jesusalem

Mia Couto, Indra Wussow, Karin von Schweder-Schreiner

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Ein traumatisierter Vater zieht sich nach dem Tod seiner Frau mit seinen beiden Söhnen und einem Ex-Soldaten in ein verlassenes Jagdcamp mitten im unwirtlichen Busch zurück. »Jesusalem« tauft er den Ort - jenseits von Jesus. Dort will er das Erlebte vergessen. Er verbietet seinen Söhnen jegliche Erinnerung, selbst Träume sollen sie unterdrücken. Als eines Tages eine mysteriöse weiße Frau im Camp erscheint, bricht die Welt des Vaters zusammen, sie kehren zurück in die Stadt, wo die Söhne erfahren, was den Vater in den Wahnsinn getrieben hat.Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Mosambik erzählt Mia Couto den verzweifelten Versuch zweier Brüder, eine Familientragödie zu rekonstruieren, über die ihr Vater weder sprechen noch schweigen kann.

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Information

Year
2014
ISBN
9783884234570
ERSTES BUCH
DIE MENSCHHEIT

Ich, Mwanito, der Stille einstimmen kann

Ich horche, weiß aber nicht,
Ist es Stille, was ich höre,
Oder Gott.
[…]
Sophia de Mello Breyner Andresen
Als ich zum ersten Mal eine Frau sah, war ich elf Jahre alt und auf einmal so hilflos, dass ich in Tränen ausbrach. Ich lebte in einer Einöde, wo es nur fünf Männer gab. Mein Vater hatte dem Ort einen Namen gegeben. Ihn ganz einfach so getauft: »Jesusalem«. Hier würde Jesus sich irgendwann vom Kreuz befreien. Punktum, Schluss.
Mein Vater, Silvestre Vitalício, hatte uns erklärt, die Welt sei untergegangen und wir seien die letzten Überlebenden. Hinter dem Horizont befänden sich nur unbewohnte Gebiete, er nannte sie einfach »Dadraußen«. Kurz gesagt, der ganze Planet sähe so aus: menschenleer, keine Landstraßen und keine Tierfährten. Selbst Büßerseelen seien in diesen entlegenen Landstrichen inzwischen ausgestorben.
Dafür gab es in Jesusalem nur Lebende. Die nicht wussten, was Sehnsucht oder Hoffnung bedeutete, die aber am Leben waren. Wir lebten dort so allein, dass wir nicht einmal Krankheiten bekamen, und ich glaubte, wir seien unsterblich. Um uns herum starben nur Tiere und Pflanzen. Und in der Trockenzeit tat unser namenloser Fluss, ein Wasserlauf hinter unserem Lager, als wäre er versiegt.
Die Menschheit, das waren mein Vater, mein Bruder Ntunzi, ich und Zacaria Kalash, unser Gehilfe, der, wie man sehen wird, kaum vorhanden war. Und sonst niemand mehr. Oder fast niemand. Genau genommen habe ich zwei Halb-Mitbewohner vergessen: die Eselin Jezibela, so menschlich, dass sie die Sexphantasien meines alten Vaters stillte. Und meinen Onkel Aproximado habe ich auch nicht mitgezählt. Er verdient, dass ich ihn erwähne, auch wenn er nicht bei uns im Camp lebte. Er wohnte in der Nähe vom Eingang zum Jagdrevier, jenseits der erlaubten Entfernung, und kam uns nur ab und zu besuchen. Seine Hütte und uns trennten Stunden und wilde Tiere.
Für uns, die Jungen, war ein Besuch von Aproximado immer ein großes Fest, er sorgte für Bewegung in unserem kargen Alltag. Der Onkel brachte Lebensmittel, Kleidung, dringend benötigte Dinge. Mein Vater lief aufgeregt dem Lieferwagen entgegen, auf dem sich die Bestellungen stapelten. Er fing den Besucher ab, bevor das Fahrzeug in die Absperrung rings um die Gebäude eindrang. Dort, am Zaun, musste Aproximado sich waschen, damit er keine Ansteckungen aus der Stadt in die Einfriedung brachte. Er wusch sich mit Erde und Wasser, mochte es kalt sein oder dunkel. Wenn er sich gewaschen hatte, entlud Silvestre den Wagen, er hatte es eilig mit der Übergabe, machte die Verabschiedung kurz. Im Nu, schneller als ein Flügelschlag, verschwand Aproximado vor unserem bangen Blick wieder jenseits des Horizonts.
»Er ist kein direkter Bruder«, rechtfertigte Silvestre sich. »Ich will nicht viel reden, dieser Mann kennt unsere Sitten nicht.«
Unsere Minimenschheit, miteinander verbunden wie die fünf Finger, war doch geteilt: Mein Vater, der Onkel und Zacaria hatten dunkle Haut; Ntunzi und ich waren auch Schwarze, aber unsere Haut war heller.
»Sind wir von einer anderen Rasse?«, fragte ich eines Tages. Mein Vater antwortete:
»Niemand ist von einer Rasse. Rassen«, sagte er, »sind Uniformen, die wir uns überziehen.«
Vielleicht hatte Silvestre recht. Aber ich habe zu spät gelernt, dass diese Uniform mitunter den Menschen an der Seele klebt.
»Das kommt von eurer Mutter Dordalma, dass eure Haut so hell ist. Alminha war ein klein bisschen Mulattin«, erklärte der Onkel.
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Die Familie, die Schule, die anderen Menschen, sie alle wählen in uns ein verheißungsvolles Aufleuchten, ein Gebiet, auf dem wir glänzen können. Die einen sind zum Singen geboren, die anderen zum Tanzen, wieder andere sind einfach dazu geboren, andere zu sein. Ich bin zum Stillsein geboren. Meine einzige Berufung ist Schweigen. Mein Vater hat es mir erklärt: Ich habe die Veranlagung, nicht zu sprechen, ein Talent, Stillen einzustimmen. Ganz richtig, ich schreibe Stillen, im Plural. Ja, denn es gibt nicht nur eine einzige Stille. Und jede Stille ist im Entstehen begriffene Musik.
Wenn man mich regungslos und zurückgezogen in meinem unsichtbaren Eckchen sah, war ich nicht erstarrt. Ich war im Einsatz, mit Leib und Seele beschäftigt: Ich spann die zarten Fäden, aus denen man Stille webt. Ich war einer, der die Stille einstimmte.
»Komm her, mein Sohn, komm und hilf mir, still zu sein.«
Am Ende des Tages lehnte der Alte sich im Verandasessel zurück. Und so war es jeden Abend: Ich setzte mich zu seinen Füßen und blickte zu den Sternen hoch oben in der Dunkelheit. Mein Vater schloss die Augen, sein Kopf wankte hin und her, als dirigierte ein Takt seine Ruhe. Dann atmete er tief ein und sagte:
»Das ist die schönste Stille, die ich je gehört habe. Ich danke dir, Mwanito.«
Um richtig still sein zu können, muss man Jahre üben. Ich besaß die natürliche Begabung, als Vermächtnis von einem Vorfahren. Vielleicht hatte ich sie von meiner Mutter Dona Dordalma geerbt, wer konnte das mit Gewissheit sagen? So still war sie, dass es sie nicht mehr gab und es auch nicht auffiel, dass sie nicht mehr unter uns, den leibhaftig Lebenden, weilte.
»Weißt du, mein Sohn, es gibt die Friedhofsstille. Aber die Stille hier auf der Veranda ist anders.«
Mein Vater. Seine Stimme war so verhalten, dass sie nur wie eine Abwandlung von Stille wirkte. Er hüstelte, und sein heiseres Husten, ja, das war verborgenes Sprechen, ohne Worte und Grammatik.
Von weitem ahnte man im Fenster des Nachbarhauses eine flackernde Laterne. Bestimmt beobachtete mein Bruder uns. Schuldgefühl nagte in meiner Brust – ich war der Erwählte, der Einzige, der die Nähe mit unserem ewigen Erzeuger teilen durfte.
»Wollen wir Ntunzi nicht rufen?«
»Lass deinen Bruder. Ich bin am liebsten mit dir allein.«
»Aber ich schlafe fast ein, Vater.«
»Bleib nur noch ein bisschen. Es ist nämlich Wut, so viel aufgestaute Wut. Ich muss diese Wut ersticken, bring es aber nicht übers Herz.«
»Was für eine Wut ist das, Vater?«
»Viele Jahre lang habe ich wilde Bestien genährt und geglaubt, es seien zahme Schoßtiere.«
Ich klagte, ich sei müde, aber er schlief ein. Ich ließ ihn in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, kopfnickend sitzen und ging zurück in unser Zimmer, wo Ntunzi auf mich wartete. Mein Bruder sah mich halb neidisch, halb mitleidig an:
»Wieder dieses Geschwätz von der Stille?«
»Sag das nicht, Ntunzi.«
»Der Alte ist verrückt. Und das Schlimmste ist, dass er mich nicht mag.«
»Stimmt nicht.«
»Warum ruft er mich dann nie?«
»Er sagt, ich kann die Stille einstimmen.«
»Und das glaubst du? Merkst du nicht, dass es eine dicke Lüge ist?«
»Ich weiß nicht, Bruder, was soll ich machen, wenn er es gern hat, dass ich da sitze, so ganz still?«
»Kapierst du nicht, dass das nur Gerede ist? In Wirklichkeit ist es so, dass du ihn an unsere verstorbene Mutter erinnerst.«
Tausendmal hat Ntunzi mir in Erinnerung gerufen, warum mein Vater mich zu seinem Liebling gewählt hatte. Ein einziger Moment war der Grund dafür: Bei der Beerdigung unserer Mutter konnte Silvestre seine Witwerschaft nicht gleich annehmen, er zog sich in eine Ecke zurück und brach dort in Tränen aus. Da lief ich zu meinem Vater, und er hockte sich hin, um mit mir, dem dreijährigen Knirps, auf einer Höhe zu sein. Ich hob die Arme, und anstatt ihm das Gesicht abzuwischen, legte ich ihm meine kleinen Hände auf die Ohren. Als wollte ich ihn zu einer Insel machen und von allem entfernen, was eine Stimme hatte. Silvestre schloss die Augen in diesem Raum ohne Echo, und er sah, dass Dordalma nicht gestorben war. Seine Arme streckten sich blind in das Halbdunkel:
»Alminha!«
Nie wieder hat er ihren Namen ausgesprochen. Auch nie an die Zeit erinnert, in der er mit ihr verheiratet war. Das alles sollte verschwiegen, im Vergessen begraben werden.
»Und du hilfst mir dabei, mein Sohn.«
Für Silvestre Vitalício stand fest, wozu ich berufen war: über diese unheilbare Abwesenheit zu wachen, Dämonen zu hüten, die ihm den Schlaf raubten. Einmal, als wir wieder...

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