Geschichte des Westernfilms
Der Western der Stummfilmzeit
Anfänge
Die Geschichte des Western beginnt mit der Geschichte des Films, der eine Geschichte erzählt. Die Filme der Anfangszeit des neuen Mediums waren vorwiegend kurze, dokumentarische Streifen, denen die Sensation der neuen Abbildungsform von Wirklichkeit aufregend und unterhaltsam genug war. Einer von denen, die die Idee verfolgten, in diesem Medium dramatische Handlungen zu entwickeln, war Edwin S. Porter. Sein erster Handlungsfilm war The Life on an American Fireman (1902), immer noch mit dem Anspruch, einen Teil des wirklichen Lebens wiederzugeben. 1903 drehte er dann den Film, der ihn berühmt machte als Erfinder des Western, The Great Train Robbery.
Es kann nicht überraschen, dass die Essenz dieses Films die Bewegung ist, wie sie für den Western bestimmend werden sollte: Bewegung von und zu der Kamera, am Horizont, von links nach rechts. Und die Geschichte ist eine wirkliche Western-Geschichte: «Der Film beginnt mit einer Innenaufnahme eines Telegrafenbüros. Banditen fesseln den Telegrafisten, und als ein Zug in den Bahnhof einfährt, erklimmen sie ihn. Sie stoppen ihn vor der Stadt und zwingen die Reisenden, ihn zu verlassen. Der Postwagen wird ausgeraubt. Die Banditen verschwinden mit ihrer Beute. Die Tochter des Telegrafisten kommt und befreit ihn. Er alarmiert die Stadtbevölkerung, und ein Trupp wird zusammengestellt. Nach einer wilden Jagd werden die Banditen vom Trupp erreicht; ein shoot-out entspinnt sich. Georges Barnes, in der Rolle eines Desperado, ist in einer Nacheinstellung zu sehen und schießt seinen Revolver mehrere Male in Richtung auf das Publikum ab» (Jon Tuska).
The Great Train Robbery war nicht der erste amerikanische Film, der sich mit dem Leben im Westen beschäftigte. Zu nennen wären etwa Cripple Creek Barroom (1898, Regie: W. K. L. Dickson) oder von Edwin Porter The Life of an American Cowboy (1902). Sogar der legendäre Buffalo Bill Cody war für einen kurzen Film vor die Kamera getreten. Aber The Great Train Robbery war nicht nur der erste kreative dramatische Film (William K. Everson), sondern auch derjenige, der die grundlegenden Handlungselemente des Genres entwickelte: Überfall, Befreiung von Gefangenen, wilde Verfolgungen zu Pferde, shoot-out. Dem Film folgten Variationen und Nachahmungen; mit The Little Train Robbery (1905) inszenierte Porter selbst eine Parodie (alle Rollen aus dem ursprünglichen Film wurden mit Kindern besetzt, ansonsten wurde er zum Teil Einstellung für Einstellung nachgedreht); andere Filme waren etwa Great Mail Robbery (1906) oder Pay Train Robbery (1907).
Edwin S. Porter hatte selbst nie so recht begriffen, was er eigentlich mit seinem Film, mit seiner Technik und seiner Story, initiiert hatte. Seine folgenden Filme fielen praktisch hinter das in The Great Train Robbery erreichte Maß an filmischer Grammatik zurück, und es war anderen überlassen, seine Ansätze weiterzuführen. Der Erfolg seines Film brachte ihm den Posten eines Produktionsleiters bei Edison ein, wo er weniger durch seine eigenen Filme als durch die Förderung so verschiedener Talente wie David Wark Griffith, der in Porters Rescued from an Eagle’s Nest (1907) seine erste Filmrolle spielte, und Max Aronson, dem späteren Broncho Billy, die Filmgeschichte und insbesondere die Geschichte des Western beeinflusste.
David Wark Griffith und der Western
Griffith, der ursprünglich Theaterschauspieler war und eine Karriere als Bühnenautor angestrebt hatte, wurde bald mit dem Beruf des Schauspielers unzufrieden. 1908 drehte er seinen ersten Film als Regisseur für Biograf Co., The Adventures of Dolly, und in den nächsten Jahren realisierte er an die 190 Filme. Sein erster Western ist The Redman and the Child (1908), und schon im Titel deutet sich an, welche gleichsam viktorianischen Gefühlswerte Griffith in seinen Filmen anzusprechen versuchte. Auf der einen Seite stehen Jungfrauen und Kinder, im Zustand ständiger Bedrohung und Schutzbedürftigkeit, auf der anderen Indianer und Banditen, von denen, latent oder manifest, neben der materiellen auch eine erotische Gefahr ausgeht. Die bedrohte (erotische, moralische) Unschuld steht in seinen Western, wie in vielen seiner anderen Filme, häufig im Mittelpunkt der Handlung, kontrastiert von den edlen Gefühlen, dem Patriotismus und auch der Sentimentalität seiner Helden.
Wie er später in Birth of a Nation (1915) ein etwas fragwürdiges Bild von der Einigung Amerikas nach dem Bürgerkrieg durch den Zusammenschluss der ehemaligen Kriegsgegner im Ku-Klux-Klan gegen «vergewaltigende und mordende Neger» in die Welt setzte, so waren auch seine Western gelegentlich von ausgesprochen rassistischer Färbung: Der Indianer ist in seinen Filmen ein grausames, unzivilisiertes Wesen ohne Seele; in anderen taucht er als edler, entrückter Wilder auf, schutzbedürftig gegen die Einflüsse böser Weißer, wie etwa Mary Pickford als Indianerprinzessin in Ramona (1910). Allerdings war Griffith alles andere als ein in erster Linie ideologischer Regisseur; er hat zum Beispiel in The Massacre (1912), einer filmischen Rekonstruktion von Custer’s Last Stand, auch die Gefahren der Militärmacht gezeigt und den Aufstand der Indianer als verständliche Reaktion auf eine Abfolge von Verrat und nicht eingehaltenen Versprechungen geschildert.
Griffith drehte eine Reihe von Western-Melodramen, in denen häufig die Situation einer belagerten Blockhütte den Höhepunkt einer erotischen Symbolhandlung bildete: Die Geschichte, die Zivilisation, der Friede, der aus der Verteidigung der Unschuld der Frau resultiert, ist die historische Aufgabe seiner Helden. Manche dieser Filme waren von ungewöhnlichem Aufwand in der Gestaltung und in den Produktionsbedingungen (von Griffiths Film-«Kunst» einmal ganz zu schweigen), und sie sind in diesem Sinne Vorläufer der großen Western-Epen aus den zwanziger Jahren, die im Schicksal Einzelner das Schicksal der Epoche oder einer historischen Bewegung zu spiegeln versuchen.
Für Griffiths Helden sind noch nicht die ungeschriebenen Gesetze und die Werte des Westerners späterer Prägung maßgebend: Freundschaft, Ehre, Autonomie. Es sind oft Helden, nicht weil sie sich behaupten, sondern weil sie sich hingeben, wie etwa der Held in The Last Drop of Water (1911): Ein Siedlerzug ist von Indianern überfallen worden. Ein Mann wird ausgeschickt, die Kavallerie zu alarmieren, die Wüste hält ihn auf. Ein anderer, der Nebenbuhler um die Gunst eines Mädchens, wird ihm nachgeschickt und findet ihn, dem Verdursten nahe. Nur kurz ist sein Zögern, dann übergibt er seinem Rivalen den Wasservorrat und stirbt für ihn. Später in einem Western wird man wissen: Es ist wichtig, dass einer durchkommt, für die Gemeinschaft. Bei Griffith ist wichtig, wer und wie er durchkommt, weil nicht die Besiedlung die Moral, sondern umgekehrt die Moral die Besiedlung bestimmen soll.
Melodramatische Verwicklungen stehen oft am Beginn der Konflikte, das heißt, Missverständnisse, Fehlinterpretationen, der falsche Schein der Dinge, die bloß vermeintliche Bedrohung oder das betrogene Gefühl lösen die Gewalt aus. So geschieht es in einem der aufwendigsten Westernfilme von Griffith, The Battle of Elderbush Gulch (1913).
«Zwei Mädchen, die mit einer Postkutsche in den Westen reisen, um einen Onkel zu besuchen, schließen Bekanntschaft mit einem jungen Paar, das das gleiche Reiseziel hat. In Elderbush Gulch werden die Reisenden herzlich willkommen geheißen. Die beiden Mädchen treffen im Hause ihres Onkels ein und teilen ihm mit, dass sie zwei junge Hunde mitgebracht haben. Der Onkel will sie nicht im Hause behalten, deshalb werden die beiden Tiere aus der Tür gelassen; die jungen Hunde laufen davon und flüchten sich schließlich in die Arme von zwei Indianern. Abends geht das ältere der beiden Mädchen hinaus, um die Hunde hereinzuholen und sie zu sich ins Bett zu nehmen; sie findet sie nicht und beginnt zu suchen. Sie begegnet den beiden Indianern, will ihnen die beiden Hunde wegnehmen, aber die Indianer widersetzen sich; der Onkel kommt hinzu, glaubt an einen Überfall und schießt auf die Indianer, wobei er den Sohn des Häuptlings tötet. Dies fordert den Hass der Rothäute heraus, die Elderbush Gulch belagern. Das junge Paar, das die Mädchen in der Postkutsche kennengelernt hatten, wird voneinander getrennt: Der Ehemann hat das Kind einem Nachbarn übergeben und liegt zu Beginn des Angriffs verwundet im Wald. Die Frau hat sich in die Hütte des Onkels geflüchtet und fleht ihn an, den Mann und das Kind hereinzuholen. Der Siedler, der das kleine Kind bei sich hat, wird beim Versuch, die Hütte zu erreichen, getötet, aber das Kind bleibt unverletzt neben ihm liegen. Das ältere der beiden Mädchen sieht es und riskiert sein Leben, um ihm zu Hilfe zu kommen; es gelingt ihr das Kind zu retten. Schließlich kommen Truppen zum Einsatz, alarmiert von einem Mexikaner, der den Indianern entflohen ist. Sie befreien die Siedler: Der verletzte junge Mann wird wieder mit Frau und Kind vereint, die gesund und munter sind» (Eileen Bowser).
Betrachtet man einmal die erotische Mythologie dieser Handlungsführung, so wird deutlich, dass noch bis in die Blütezeit des adult western ähnliche Strukturen anzutreffen sind. Es gibt das unschuldige Mädchen (hier in der spezifischen Verdoppelung), das durch den kleinen Ungehorsam aus einer Zuneigung heraus den Konflikt heraufbeschwört. (Die weiße Frau macht in der Vorstellung des puritanischen Kolonialisten den Indianer den Neger, den fremden Mann zur Bestie.) Es gibt den Gegensatz zwischen der Stadt und dem Land, wobei eher das Land (die Blockhütte als Symbol der Verbundenheit mit der Natur) als die Stadt zur sicheren Zufluchtsstätte wird. Es gibt die Familie, die durch das Opfer eines anderen Mannes erhalten wird (man denke an Shane) und durch die Tat einer Frau; die Regelung persönlicher Beziehungen inmitten des Kampfes zwischen Weißen als Individuen und den Indianern als Masse. Ansatzweise ist sogar auch die Bewegung nach dem Westen, die Suche nach der neuen Heimat vorgegeben.
Die Begegnung mit der Wildnis, mit dem Indianer, wird zum Prüfstein der Beziehung zwischen Mann und Frau, die sich erst im Sieg über jene patriarchalisch-zivilisiert konsolidieren kann. Seit Griffiths Western steckt in jedem epischen Film des Genres ein Melodram verborgen. Griffith hat, neben bedeutenden technischen und erzählerischen Innovationen, auch dies dem Western hinzugefügt: dass häufig finstere, verstörte paternalistische Träume den Weg der Protagonisten vorschreiben.
Der erste Cowboystar: Broncho Billy
Gilbert M. Anderson (eigentlich: Max Aronson) hatte eine kleine Rolle in Porters The Great Train Robbery gespielt (eigentlich war er sogar für eine Hauptrolle als einer der Banditen vorgesehen, aber als sich herausstellte, dass er kaum reiten konnte, übertrug man ihm nur noch einen bit part). Bei Vitagraph wurde er Schauspieler und Regisseur, und er drehte für diese Firma im Jahr 1907 eine Reihe von one reel western wie Bandit King, The Girl from Montana und Western Justice, denen das Verdienst zukommt, die ersten wirklich im «Westen» gedrehten Filme des Genres zu sein. Als Mitbegründer der Firma Essanay versuchte sich Anderson an einem Konzept, eine mehr oder weniger feststehende Heldenfigur in den Western einzuführen, um so das Publikum an eine Serie von Filmen zu binden, ähnlich wie dies bei den erfolgreichen Slapstick-Komikern der Fall war. (Auch die in dime novels publizierten Western-Erzählungen wiesen zum Teil ja wiederkehrende Heldenfiguren auf.) Erst als seine Suche nach einem geeigneten Darsteller für solche Filme keinen Erfolg gezeigt hatte, entschloss sich Anderson dazu, den Part selbst zu übernehmen.
Der erste eigentliche Broncho Billy-Film war Broncho Billy and the Baby (1908), der nach der Erzählung «Three Godfathers» von Peter B. Kyne entstand. (Diese Geschichte wurde später noch mehrmals verfilmt, unter anderem zweimal von John Ford und einmal von William Wyler.) Die Geschichte von Banditen, die in der Wüste ein todgeweihtes neugeborenes Kind annehmen, um es unter großen Opfern in die Sicherheit der Zivilisation zu bringen, veranschaulicht den Charakter, den Broncho Billy auch in vielen seiner späteren Western darstellen sollte: den good bad man, den Banditen oder Outlaw, der in einer extremen Situation große Menschlichkeit zeigt und für eine aufopfernde Tat wieder in den Kreis der Gesellschaft aufgenommen wird. Zwischen 1908 und 1915 drehte Anderson, als Regisseur, Autor und Hauptdarsteller, mindestens 376 Broncho Billy-Western (einige Quellen sprechen sogar von ungefähr 500).
Dieser Broncho Billy war die erste Identifikationsfigur des Genres, sein erster Star. Dass dies gerade einem Darsteller gelingen konnte, der nicht mehr der jüngste, kein athletischer und auch kein gutaussehender Mann war, verwundert nur, wenn man ihn mehr mit seinen Nachfolgern wie Tom Mix vergleicht als mit dem Männlichkeitsideal des amerikanischen Viktorianismus, das auch in Griffiths Filmen dominiert (und gegen das sich erst in Rudolph Valentino ein Gegenbild behauptete). Broncho Billy ist paradoxerweise ein Action-Star, der eigentlich nur vor dem Hintergrund des Melodrams seine Identität findet, wie ein Westerner, der in seinen Bewegungen all die seelischen Verkrüppelungen puritanischer Moral vor sich her trägt, die durch die Zufälle und Intrigen der Handlung zu einer gewissen Lösung gebracht und zugleich bestätigt werden. Schon die Titel seiner Filme weisen darauf hin, dass er viel weniger den Kampf mit Banditen und Indianern als die Verwirrungen der Gefühle zu fürchten hat, die sich durch seine familiären und emotionalen Beziehungen ergeben. Broncho Billy and the Sisters, Broncho Billy’s Brother, Broncho Billy’s Mexican Wife, Broncho Billy’s Word of Honor – so heißen die Filme, in denen der Held oft verschlungene Wege gehen muss, bevor er durch den Einfluss einer Frau, gelegentlich auch durch das Aufschlagen der richtigen Bibelstelle, seine Entscheidung trifft.
Es gibt, zumindest anfänglich, noch keine Kontinuität in den Broncho Billy- Filmen; der Held ist das erste Mal ein Sheriff, das andere Mal ein Farmer und wieder ein anderes Mal ein bekehrter Bandit. Das Ende des einen Films sah ihn heiraten und sich zur Ruhe setzen, am Beginn des nächsten war er wieder als einsamer Westerner unterwegs; einige Filme verzeichnen sogar den Tod des Helden, ohne dass dies das Publikum davon abgehalten hätte, sein nächstes Abenteuer zu erwarten. (Zur Zeit des Höhepunktes seines Ruhmes kam jede Woche mindestens ein neuer Broncho Billy-Western auf den Markt.)
Mit dem authentischen Westen hatten Anderson-Filme nur sehr wenig zu tun; das Land seiner Abenteuer ist als dime novel-west bezeichnet worden. Es ist ein Westen der Rekonstruktion ohne den «historischen» Mythos der Landnahme. Die Broncho Billy-Western erinnern in ihrer Mischung aus Abenteuer und Romantik an die Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts, gleichsam versetzt mit einer puritanischen Moral, die noch nicht verinnerlicht oder gar reflektiert war, sondern ganz naiv und direkt zum Ausdruck kam. Als Beispiel hierfür soll, nach einer zeitgenössischen Quelle referiert, die Inhaltsangabe eines typischen Broncho Billy-Western dienen (A Mexican’s Gratitude; 1914, Regie: Gilbert M. Anderson).
Ein Mexikaner wird von einem Sheriff davor bewahrt, als Pferdedieb gelyncht zu werden. Er zieht eine Spielkarte aus der Tasche, schreibt das Wort gratitude (Dankbarkeit) darauf, zerreißt die Karte in zwei Hälften und überreicht die eine seinem Retter. Jahre später: Der Sheriff hat sich in ein Western-Mädchen (also das Gegenteil eines Bürgermädchens aus dem Osten) verliebt. Dem aber wird von einem Cowboy der Hof gemacht, der in der Wahl seiner Mittel nicht eben zimperlich ist. Er arrangiert ein Zusammentreffen des Sheriffs mit einem anderen Mädchen, um seiner Angebeteten dessen Treulosigkeit zu beweisen. Das Mädchen glaubt dem Cowboy und geht mit ihm fort. Etwas später verprügelt aber der Sheriff den Cowboy und zwingt ihn, seinen Verrat zu bekennen; die Sache scheint geregelt. Doch der rachedurstige Cowboy ve...
