Grunewald im Orient
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Das deutsch-jüdische Jerusalem

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Grunewald im Orient

Das deutsch-jüdische Jerusalem

About this book

"Rechavia – das ist das ›vierte Reich‹, sozusagen, wo die deutschen Emigranten sich zu Israelis wandelten, beinahe Dahlemisch", schreibt Mascha Kaléko aus Jerusalem. Anfang der 1920er Jahre als Gartenstadt angelegt, wurde der Vorort vor allem ab 1933 zum Zentrum der deutschen Juden. Else Lasker-Schüler lebte hier, Gershom Scholem, Martin Buber, und ein lebhafter deutschjüdischer Mikrokosmos. ­Idyllisch gelegen, doch mit schwierigem Alltag, lag Rechavia im Fadenkreuz der lange geteilten Stadt; Gegenwart und Vergangenheit der Shoah lasteten auf seinen Bewohnern. Zugleich aber war dies der Ort deutsch-israelischer Annäherung. Thomas Sparr zeichnet in ­diesem Buch das bewegende Bild eines Viertels und der Menschen, die hier lebten.

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Information

Lebensläufe durch einen Stadtteil

Kabbalist. Gershom Scholem

Gershom Scholems Hebräisch wies die gleiche unverkennbar berlinische Färbung auf wie sein Deutsch. In beiden Sprachen hat er seine Autobiografie verfasst, 1977 zunächst auf Deutsch, »Von Berlin nach Jerusalem«, vier Jahre später auf Hebräisch, »Mi-Berlin li-Jeruschalajim«. Der Berliner Tonfall durchzieht beide Fassungen.
Am Ende seines langen Lebens kehrte Gerhard – der spätere Gershom – Scholem ein letztes Mal an seinen Geburtsort zurück und stellte im Dezember 1981 im großen Saal der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße seine Erinnerungen vor. An dergleichen aus der Feder Berliner Kinder herrsche kein Mangel. »Aber das Besondere wäre in meinem Fall wohl, dass ich von dem Weg eines jungen Juden sprechen will, dessen Weg aus dem Berlin meiner Kindheit und Jugend nach Jerusalem und Israel führte. Mir erschien dieser Weg als sonderlich direkt und von klaren Wegzeichen erhellt, anderen – meine eigene Familie eingeschlossen – erschien er unbegreiflich, um nicht zu sagen ärgerlich.«
Die 1982 erschienene hebräische Fassung seiner Erinnerungen war das letzte von Scholem noch autorisierte Buch. Ein Vermächtnis des Anfangs in den beiden Sprachen seines Lebens, aber in der letzten Fassung erweitert und variiert. Scholem lag daran, einer israelischen Leserschaft anderes ausführlicher vor Augen zu führen, die Geschichte des frühen Zionismus, die Einwanderung 1923, vor allem auch die beiden ersten Jahre in Jerusalem.
Als der Fünfundzwanzigjährige im Herbst 1923 mit dem Schiff in Jaffa anlegt – die Klippen von Jaffa sind keine Metapher, zitiert er dabei aus Arthur Holitschers Reisebeschreibung –, um einen Tag verspätet, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, ist er fast am ersehnten Ziel angelangt. Nach einer stundenlangen Einwanderungsprozedur holt ihn Escha, seine Verlobte, am Hafen ab. Mit einer Kutsche geht es nach Tel Aviv, wo beide in endlosem Schauen und ins Gespräch vertieft durch die Stadt wandern.
Am 30. September 1923 kommen beide schließlich auf einem Lastwagen mit ihren Koffern in Jerusalem an. Sie wohnen zunächst bei Freunden, ziehen dann ins Bucharenviertel in der Nähe von Mea Schearim, dem orthodoxen Viertel von Jerusalem, 1932 nach Rechavia.
Als Scholem in seinem achtzigsten Lebensjahr seine Erinnerungen niederschreibt, kann er auf viele Briefe seiner Mutter zurückgreifen, die von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis 1946 reichen. »Sie war eine geborene Journalistin, sehr flink und treffend im Ausdruck, und hatte daher, in einer Zeit, als Frauen noch nicht an solche Berufe herangelassen wurden, ihren eigentlichen Beruf zweifellos verfehlt, wo sie glänzend in eine Ullsteinredaktion gepasst hätte. Sie schrieb großartige Briefe, oft lange Feuilletons, übrigens in kalligraphischer Mädchenschrift – ich habe mehrere Konvolute ihrer späteren Briefe nach Jerusalem aufbewahrt.« Sieben Jahre nach Scholems Tod ist der Briefwechsel von Mutter und Sohn erschienen.
Betty Scholem war der ausgleichende, vermittelnde Part zum Vater. Der Sohn erinnert sich, wie die Mutter zum gleichen Gegenstand in unterschiedlichen Gesellschaften Gegensätzliches zum Besten gab. Kritisierte er sie, erwiderte die Mutter: »Mein Sohn, moniere mich nicht.« Erst später sei ihm bewusst geworden, wie viele Spannungen Betty Scholem auszuhalten und auszugleichen hatte. Arthur Scholem, Druckereibesitzer aus Berlin-Mitte, gehörte in Habitus und Denkweise ganz dem assimilierten mittleren jüdischen Bürgertum der Kaiserzeit an, das es durch Fleiß zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Arthur Scholem, von cholerischem Temperament, hatte den Sohn 1917 des Hauses verwiesen.
Die vier Söhne von Arthur und Betty Scholem, im Abstand von je zwei Jahren – 1891, 1893, 1895 und 1897 – geboren, stehen für vier Wege des deutschen Judentums zu jener Zeit: Der älteste, Reinhold, für den deutsch-nationalen Weg, eine politische Einstellung, die er über Jahrzehnte im australischen Exil bis ins Alter beibehielt, der zweite, Erich, für den Weg in die bürgerliche Assimilation, Werner für den Weg politischer Aktion, er wurde später Reichstagsabgeordneter der KPD, ein begnadeter Redner. Gerhard hat seine Jugenderinnerungen dem älteren Bruder gewidmet, der 1940 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde; von den Brüdern stand Werner ihm am nächsten. Gerhard schließlich verkörpert durch seinen sich bald herauskristallisierenden Lebensweg den frühen Zionismus, eine Rückbesinnung und eine Aneignung der eigenen Geschichte durch Auswanderung.
So sehr Gershom Scholem seine frühen Berliner Jahre, erst recht die Studienjahre in Jena, München, die Zeit in der Schweiz oder in Heidelberg als Vorbereitung auf das Land Israel, auf Jerusalem verstand, in seinen letzten Jahren kehrte der Berliner Anfang in seinen kräftigen leuchtenden Farben zurück.
Ins Adressverzeichnis von Rechavia lässt Gershom Scholem 1936 »Kabbalist« eintragen, gewiss eine weltweit einzigartige Berufsbezeichnung, im Sinne des bürgerlichen Berufs, nicht der inneren Berufung. Sie meint nicht die Praxis der Kabbala, einer esoterischen Tradition innerhalb der jüdischen Mystik, sondern das Erforschen von Handschriften, Traktaten, Briefen, Büchern. Der Kabbalist als Philologe. Schon 1915 hatte der Abiturient in Berlin Texte der Kabbala entdeckt, sein Lebensthema und die Begründung eines neuen, eigenen Fachs in Jerusalem.
Zwei Jahre nach seiner Auswanderung wird Scholem Dozent an der neu eröffneten Hebräischen Universität. Im Sommer 1925 stellt er dem hebräischen Dichter Chaim Nachman Bialik sein Projekt vor, das ihn nahezu sechs Jahrzehnte beschäftigen wird: »Für die wissenschaftliche Erforschung der Kabbala wurde bis heute nichts getan. Das erhoffte und erstrebenswerte Ziel solcher Forschung ist doch: die Kenntnis und Niederschrift der Entwicklungsgeschichte der Kabbala von ihrem ersten Aufblühen an, der Gestalt, in der sie sich zuerst präsentierte, über ihre zahlreichen Weiterentwicklungen in die jüngste Zeit hinein.«
Die Sammlung und Herausgabe der über den Erdball verstreuten Handschriften wird dazu ebenso notwendig sein wie die Datierung und Rekonstruktion der Kabbala in ihren Anfängen und Wandlungen.
Als Ergebnis seiner Forschungen wollte Scholem die Frage beantworten, die er an ihren Beginn stellte und auf die er im Laufe der Jahrzehnte wieder und wieder zurückkam: »Ist die Kabbala etwas wert oder nicht?«
Kabbala bezeichnet die jüdische Mystik mit ihrem esoterischen Schrifttum seit dem 12. Jahrhundert, deren Genese der junge Scholem sich darzustellen vornahm, ein kühnes, kaum zu bewältigendes Unterfangen. In dem darauffolgenden halben Jahrhundert untersucht er die Ursprünge der Kabbala und ihre wesentlichen Etappen, insbesondere das pseudo-epigraphische »Sefer ha-Sohar«, das »Buch des Glanzes«, und die lurianische Kabbala nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Seinem umfangreichsten Buch über den »falschen«, den mystischen Messias Sabbatai Zwi (1626–1656) hat Scholem einen Halbsatz aus dem Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und Graf Paul Yorck von Wartenburg vom Ende des 19. Jahrhunderts vorangestellt: »… dass Paradoxie ein Merkmal der Wahrheit ist, daß communis opinio gewißlich nirgends in der Wahrheit ist, als ein elementarer Niederschlag verallgemeinernden Halbverstehens, in dem Verhältnis zu der Wahrheit wie der Schwefeldampf, den der Blitz zurücklässt.«
Kein anderer Satz fasst den Grundzug von Scholems Forschung so prägnant zusammen. Paradox ist das Wirken des türkischen Juden Sabbatai Zwi, der sich vor den Juden von Smyrna (Izmir) als Messias, Sohn Davids, zu erkennen gibt, der den unaussprechlichen Namen Gottes ausspricht, die Gebote überschreitet, amoralisch, impulsiv, und der schließlich zum Islam übertritt. Paradox ist seine Wirkung, weil gerade sein Abtrünnigwerden in Scholems Augen den Beginn der modernen jüdischen Geschichte markiert.
Sabbatai Zwis Abkehr befestigt das, wovon er sich abwendet, und bereitet das Judentum auf die veränderten Bedingungen der Neuzeit vor. Der Sabbatianismus ist der erste Aufstand im Innern des jüdischen Bewusstseins. »Die mystische Häresie führt in gewissen Gruppen ihrer Anhänger zu Konsequenzen von mehr oder weniger verhülltem nihilistischem Charakter, zu einem religiösen Anarchismus auf mystischer Grundlage, der, wo er auf geeignete äußere Bedingungen traf, eine große Rolle in der inneren Vorbereitung der Aufklärung und der Reform im Judentum des 19. Jahrhunderts gespielt hat.« David Biale hat Scholems Werk eine »Counter-History«, eine »Gegengeschichte« genannt, im Hauptstrom der jüdischen Aufklärung hat man die von Scholem gesammelten Quellen entweder links liegen oder ganz versiegen lassen.
Der von Scholem eingetragene Beruf birgt einen Gran Ironie. Seinem Verleger Salman Schocken schildert Scholem im Oktober 1937, wie er »Kabbalist« geworden sei. Er setzt das Wort in Anführungszeichen, ein Zeichen der Distanz in der Methode zur Erschließung von etwas, das sie nicht recht zuließ. Scholem schreibt:
»Es gehörte ja nichts dazu zu zeigen, dass Mythos und Pantheismus ›falsch‹ sind – viel wichtiger schien mir die Bemerkung, die mir zuerst ein frommer Jude machte, dass dennoch etwas dran ist. Solch höhere Ordnung, wie entstellt auch immer, ahnte ich in der Kabbala. Es schien mir, dass hier, jenseits der Einsicht meiner Generation, ein Reich von Zusammenhängen existierte, die auch unsere menschlichsten Erfahrungen betreffen müssten. Freilich der Schlüssel zu dessen Verständnis schien verloren zu sein, nach dem tristen Niveau der Aufklärung zu schließen, die jüdische Gelehrte darüber anzubieten hatten. Und doch, zu erstaunlich blitzte hier, in den ersten Büchern der Kabbalisten, die ich mit glühendem Unverständnis las, ein Denken auf, das offenbar – berlinisch gesprochen – noch nicht nach Hause gefunden hatte. […] In diesem Paradox, aus solcher Hoffnung auf das richtige Angesprochenwerden aus dem Berge, auf jene unscheinbarste, kleinste Verschiebung der Historie, die aus dem Schein der ›Entwicklung‹ Wahrheit hervorbrechen läßt, lebt meine Arbeit, heute wie am ersten Tag.«
An den Anfang stellte Scholem grundsätzliche Überlegungen zu seiner Arbeit. Ebenfalls in den 1930er Jahren schrieb er zehn unhistorische Sätze über Kabbala, ein Schlüsseltext zum Verständnis seines künftigen Werkes und seiner Methode. Es sind im Grunde zehn Variationen über die eine Paradoxie, dass der »Kabbalist behauptet, es gäbe eine Tradition über die Wahrheit, die tradierbar sei. Eine ironische Behauptung, da ja die Wahrheit, um die es hier geht, alles andere ist als tradierbar. Sie kann erkannt werden, aber nicht überliefert werden, und gerade das in ihr, was überlieferbar wird, enthält sie nicht mehr. Echte Tradition bleibt verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf einen Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar.« Ironie ist die Haltung, diese Paradoxie zu ertragen, Ironie aber hier verstanden als Zurückhaltung, über die eigenen Beweggründe zu sprechen, auch über Motive der eigenen Religiosität. Scholem schreibt von seiner Hoffnung, aus dem Berge angesprochen zu werden, nicht von der Erfüllung dieser Hoffnung. Dass er kein Atheist sei, ist das Äußerste, was Scholem anderen verriet.
Mit Scholem hält ein Kabbalist in Jerusalem Einzug, der diese Lehre nicht als Praxis begreift, wie die Kabbalisten in Safed, die die unio mystica durch Praktiken, Sprechtechniken, Musik oder erotisch aufgeladene Bilder zu erlangen suchen, sondern mit den Mitteln der historischen Philologie.
So lautet der Eintrag im Adressbuch: »(Familienname) Scholem Prof. / (Vorname) Gershom / (Beruf oder Arbeit) Kabbalist / (Arbeitsort) Universität / (Straße) Ramban / (Name des Hauseigentümers) Prof. Scholem / (Hausnr.) 51«.
Scholem war von früh an ein Büchersammler, vorzugsweise auf seinem Forschungsgebiet der Kabbala, aber auch bei Streifzügen in literarischen Antiquariaten in Berlin oder in München, wo er Erstausgaben erwarb. In seiner Bibliothek steht die erste Ausgabe von Lichtenbergs – anlässlich Lavaters Bekehrungsversuchen an Moses Mendelssohn – 1773 pseudonym erschienener Satire »Timorus. Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigung der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen, den wahren Glauben angenommen haben«. Daneben ein kleiner Einband desselben Titels aus der väterlichen Bibliothek, den Scholem fünfzig Jahre später vom älteren Bruder erhielt: »Geschenk von Reinhold am 15. März 1978. Der kostbare Einband von Meink, dem Meisterbuchbinder von Berlin, die Beschriftung von Alice Graman-Horodisch«. Es gibt einen Handpressendruck der »Briefe über den Talmud«, die Jean Paul und Emanuel Osmund 1795 tauschten, daneben die seltene Ausgabe Jean Pauls sämtlicher Werke von 1826, die Erstedition von Stefan Georges »Das Jahr der Seele«, frühe Drucke von Scheerbarts Novellen, einige seltene Kafka-Ausgaben, die »Recherche« von Marcel Proust, Werke von Julien Green, von Karl Kraus, gewidmete Exemplare von Nelly Sachs, die Scholem in Stockholm getroffen hatte, von Max Frisch, Elias Canetti, Paul Celan und anderen.
1982 umfasste seine Bibliothek rund fünfundzwanzigtausend Bände, heute über fünfunddreißigtausend. Sie wird noch immer erweitert. 1968 hatte Scholem, der sorgfältig Buch führte über seine Erwerbungen wie Buchwünsche, geschrieben, er hoffe, der Nationalbibliothek am Ende seines Lebens ungefähr zweitausend chassidische Texte, dreitausend Werke der Kabbala, fünfhundert bis sechshundert Werke über den Sabbatianismus, sechshundert über den Chassidismus, tausendsiebenhundert über Merkaba, jüdische Magie und anderes zu vermachen. Und er fügte hinzu, das Ziel solle 1980 erreicht sein. Gershom Scholem starb im Februar 1982. Bald darauf wurden seine Bücher von Rechavia in die Nationalbibliothek im benachbarten Givat Ram gebracht und mit ihnen eine eigene Sammlung eröffnet, in den »Chadrei Gershom Schalom«. Diese Räume beherbergen die einzige Privatsammlung in der Nationalbibliothek. Dort sieht man heute viele orthodoxe Juden Scholems Bücher studieren, als sei das, was er – nüchtern oder pathetisch, ernst oder ironisch – als Gegenstand seiner Forschung deklarierte, Teil der Forschenden selbst geworden.
Man findet in den Regalen Joseph Klausners »Von Jesus zu Paulus« und »Jesus zu Nazareth« aus dem Jüdischen Verlag, Alfons Rosenbergs »Die Seelenreise«, ein Buch über »Wiedergeburt, Seelenwanderung oder Aufstieg durch die Sphären«, 1952 im Verlag Otto Walter in Olten und Freiburg im Breisgau erschienen, darin ein Kapitel über den Reinkarnationsgedanken in den Lehren der Kabbala. Scholem sammelte auch esoterische Werke, Romane von Gustav Meyrink, Werke von Oskar Goldberg, über Alchemie und den Okkultismus. Von Ludwig Klages entdecken wir »Stefan George«, erschienen 1902 bei Georg Bondi in Berlin, Gustav Karpeles’ »Geschichte der jüdischen Literatur«, handschriftlich vermerkt: »Gerhard Scholem 2. Dezember 1911«, drei Tage vor seinem 14. Geburtstag. Es gibt Werke von Baudelaire, Fontane, ein Wilhelm-Busch-Album, Ernst Blochs »Geist der Utopie«, von Will-Erich Peuckert »Sebastian Franck. Eine deutsche Suche«, 1943 im Piper Verlag in München erschienen.
Zum Aufbau seiner Bibliothek hat Betty Scholem wesentlich beigetragen; am 19. Februar 1929 schreibt sie ihrem Sohn: »Nun komme ich zu dem Talmud. Mein liebes Kind, ich muß eine solche Seeschlange feierlich ablehnen, das kann ich auf keinen Fall auf mich nehmen! Die besagte Bibel hätte erfordert 4 Jahre à 25 Mark, hätte ich einmal jährlich gezahlt u. fertig, hätte aber auch nicht daneben noch so u. so viel Wunschlisten runterkaufen können, sondern mich damit abgelöst. Der Neumark u. der heutige Hermes machen schon 25 Mark! – Aber mich auf ein Ding von 11 Bänden einlassen, mit dem unausgesetzten Hin u. Her, es wäre ein Band erschienen u. ich soll mich immerzu kümmern u. dann ist er noch garnicht erschienen, u. ewig rückfragen, u. Dein Gedrämmel! nee, das kannst Du mir nicht zumuten!!« Tatsächlich sind etliche Seeschlangen von Berlin nach Jerusalem angelangt.
In sein Tagebuch trägt Scholem den »Bücherzuwachs seit dem 5. XII. 1933« sorgfältig ein, vier Jahre später hat er auf Hebräisch eine Broschüre »Alu le-Schalom« verfasst, kommt her zu Scholem, nach Jakobs Wort an seine Söhne »gehet hin in Frieden«, eine Auflistung aller Desiderata zu Kabbala und jüdischer Mystik, von David F. Megerlins »Geheime Zeugnüsse vor die Wahrheit der Christlichen Religion, aus Jüdischen Amuletten oder Anhängzetteln gezogen«, Frankfurt 1756, über Michael Wormsers »Das Leben und Wirken des zu Michelstadt verstorbenen Rabbiners Seckel Löb Wormser«, Offenbach 1853, Fr. A. Tholucks »De ortu Cabbalae«, Hamburg 1837, bis zu etlichen hebräischen Titeln, die dann über die Jahre meist auch wirklich zu Scholem kamen.
In den Büchern erzählen Widmungen und Notizen, Frage- wie Ausrufungszeichen von Scholems Hand viel über ihn und seine Verbindungen. Das »Deutsche Lesebuch«, herausgegeben von Hugo von Hofmannsthal, in der zweiten vermehrten Auflage, trägt die Widmung: »Gerhard und Eschas Scholems Hochzeitsgeschenk aus meinem pariser Zimmer / 8 September 1927 / Walter Benjamin«. Das Zimmer antizipiert Benjamins späteren Exilort, wo er und Scholem einander zum letzten Mal sehen werden, das Buch erzählt von Benjamins Beziehung zu Hofmannsthal und es deutet darauf, wie sehr sich der Pariser Absender dem deutschen Kulturkreis verbunden fühlte. Wir finden Widmungen von Adorno, Elias Canettti, deutschen wie israelischen Schriftstellern, Gelehrten.
»6 Monate früher«, »frech, aber falsch«, »gänzlich erfunden«, »unsagbare Umfälschung«, schreibt Scholem an den Rand von Hannah Arendts Aufsatz über Walter Benjamin. Seine dezidierten, teils wütenden Anmerkungen erzählen viel von Scholems Auseinandersetzung mit der Philosophin in New York. Gebrauchsspuren in den Büchern, die weite Kreise ziehen.

Muttersohn. Betty und Gershom Scholem

Betty Scholem besuchte ihren Sohn Gershom dreimal in Jerusalem, im Abstand von jeweils fünf Jahre...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorwort
  5. Abend in Jerusalem
  6. Rechavia als geistige Lebensform
  7. Lebensläufe durch einen Stadtteil
  8. Rechavia revisited
  9. Der Autor
  10. Impressum