Trauer und Licht
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Trauer und Licht

Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens

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Trauer und Licht

Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens

About this book

Sizilien, die magische Insel, ihre Literatur, ihre ­brodelnde politische Gegenwart – all das wird zum Thema in diesem dritten großen Italienbuch von Maike Albath, die mit Land, Literatur und Bewohnern vertraut ist wie nur wenige. Der Horizont reicht von Lampedusas Leopard, mit dem die Insel die Bühne der Weltliteratur betritt, über Leonardo Sciascia bis zu Andrea Camilleri und seinen international erfolgreichen Montalbano-Krimis. Ein verführerischer Streifzug durch die Geschichte, durch Landschaften und die Straßen von Palermo und Catania, wo sich bis heute eine kulturelle und literarische Vielfalt erhalten hat, die einmalig ist in Europa.

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Information

DER LEOPARD

Wer hat in Sizilien die Macht?

Es beginnt mit einem Rosenkranz. Die letzten Gebetsformeln hängen noch in der Luft, dann rascheln die Röcke der Töchter, erzittert der Fußboden aus Majolikafliesen unter den Schritten des Fürsten. Der Patriarch Don Fabrizio Salina Corbèra, ein blonder Hüne mit blauen Augen, erhebt sich. Es sind akustische Wahrnehmungen, die die ersten Zeilen des Leoparden bestimmen. Der Erzähler scheint selbst die Ohren zu spitzen: Das Gewebe der Stimmen umhüllt die Fresken des Rokokosalons geradezu, die freizügigen mythologischen Szenen wirken auf einmal züchtig, bis sie nach dem Gebet ihre kecke Sinnlichkeit zurückgewinnen, auch weil die Kleider der Frauen den Blick auf die mit Gottheiten verzierten Kacheln freigeben. Das Changieren zwischen Zeigen und Verdecken stimmt ein auf die Verschlüsselungstechnik, die Lampedusa bei aller unmittelbaren erzählerischen Opulenz nach stendhalschem Vorbild benutzt. Er sei wohl leider auch einer jener »fetten« Schriftsteller, bemerkte er Orlando gegenüber, dem er später sechs der acht Teile in die Schreibmaschine diktierte, eben doch wortreich und nicht sparsam an Adjektiven: »Ist das nicht eine Schweinerei?«, fragte er den jungen Freund. Denn sein Ideal eines trockenen, nüchternen Stils hatte er verfehlt. Aber an indirekten Verweisen und Anspielungen, ebenfalls ein Kennzeichen der »Mageren«, bietet der Leopard dennoch einiges. Tatsächlich überwiegen auf den ersten Seiten die sinnlichen Eindrücke: die überwältigenden Gerüche des Gartens, die den Fürsten an einen grausigen Fund vier Wochen zuvor erinnern, nämlich den Gestank des Leichnams eines bourbonischen Soldaten, der aufgeschlitzt unter einem Zitronenbaum verendet war. Dann der Geruch der schwitzenden Pferde, des Leders und des Paters, der ihn in der Kutsche nach Palermo begleitet, schließlich der Klang der Stimme seiner Geliebten Mariannina, die auf dem Höhepunkt des Vergnügens ausruft »o Principone«, »Ach, du Riesenfürst«.
Der Zeitrahmen der ersten Kapitel des Leoparden ist die Phase kurz vor der italienischen Einigung im April 1860, als der norditalienische Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi mit seinen Freiwilligen in Sizilien landete und begann, die seit 1734 herrschenden spanischen Bourbonen in die Flucht zu schlagen. Die Gründung eines italienischen Königreichs steht bevor, und Sizilien soll nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft dazu gehören. Don Fabrizio kann das alles nicht ernst nehmen, schließlich hat sich seine Familie stets mit den jeweiligen Machthabern arrangiert. Die Insel war schon immer geopolitisch von Bedeutung gewesen, und die Abfolge der Besatzungen ist schwindelerregend. Nicht nur Griechen und Römer, Wandalen und Ostgoten, sondern ab 535 n. Chr. auch Byzantiner. 827 begann die islamische Zeit, rund zweihundert Jahre später kamen die Normannen, 1198 der legendäre Stauferkönig Friedrich II., der tatsächlich totalitär und tyrannisch regierte, für kurze Zeit Karl von Anjou, ab 1282 schließlich das Haus Aragon, 1516 der spanische Habsburger Karl V. Zwar war unter dem Normannenkönig Roger 1097 ein Parlament aus den wichtigsten Lehnsherren, dem Klerus und Vertretern von 42 Städten eingerichtet worden, aber es war lediglich beratend tätig. Die spanischen Vizekönige beschnitten es nicht, entschieden jedoch unabhängig über Gesetze und lehnten viele Eingaben ab. So stolz man später darauf war, eines des ältesten Parlamente der Welt zu besitzen – einen vergleichbaren Einfluss wie in Frankreich oder England gewann es nie. Einige Revolten hatte es gegeben. 1282 die Sizilianische Vesper gegen die Franzosen, die später zum Inbegriff einer patriotischen Revolution stilisiert wurde, 1647 kam es in Palermo zu Aufständen, knapp dreißig Jahre später in Messina, hundert Jahre darauf noch einmal in Palermo. Mit Karl II. endete 1713 die habsburgische Linie in Spanien und Sizilien, der Erbe war Philipp von Bourbon, ein Enkel Ludwigs XIV. Zwischen 1713 und 1720 gab es ein Intermezzo mit den norditalienischen Savoyern, aber schon damals war der piemontesische König Viktor Amadeus III. äußerst unbeliebt. Dabei war er der erste wahrhaftige König seit 1535, den die Sizilianer zu Gesicht bekamen, doch ihnen missfielen die einfachen Gewänder aus ungefärbter Wolle und die groben Stiefel. Kein Vergleich mit dem Gold, den Spitzengewändern und dem Pomp der spanischen Vizekönige. Viktor Amadeus bereiste die Insel sogar und hatte einige gute Ideen: Er brachte Glasbrenner mit, wollte eine Papierfabrik errichten, neue Arbeitsverträge einführen und die riesigen Latifundien in kleinere Bauerngüter unterteilen. Aber die Sizilianer waren viel zu stolz, um sich den Reformanstrengungen zu unterwerfen, den Piemontesen mangelte es an Geduld und Durchhaltevermögen im Umgang mit einer traditionalistischen Gesellschaft, außerdem bekämpfte die Kirche jeden Schritt nach vorn. Jede Gruppierung besaß ihre eigene Gerichtsbarkeit mit speziellen Regeln zur Immunität, nicht nur der Klerus, sondern auch der Heeresinspektor, die Münzpresse und selbst die Handwerkergilden. Am Ende tauschten die Savoyer die Insel resigniert gegen Sardinien ein und traten sie beim Friedensschluss von Den Haag 1720 an den Habsburger Karl VI. ab. Und 1734 kamen die spanischen Bourbonen, zuerst Karl III., ab 1759 Ferdinand, der zuerst Ferdinand III. von Sizilien und verwirrenderweise zugleich Ferdinand IV. von Neapel hieß und 1816 dann Ferdinand I. wurde, König »beider Sizilien«, also von der Insel Sizilien und vom Königreich Neapel, wozu neben den Marken der gesamte italienische Süden gehörte, Kampanien, Apulien und Kalabrien. Dieser Ferdinand war für seine Infantilität berühmt, sein ganzer Hofstaat musste mit ihm Blinde Kuh spielen, seine Frau inbegriffen, die scharfsinnige Maria Carolina, eine Tochter Maria Theresias. Am liebsten ging er auf die Jagd; die Regierungsgeschäfte führte Sir John Acton, der erste Minister.
Mein Gastgeber Gioacchino Lanza Tomasi erklärt mir die historischen Hintergründe der Dynastie. »Die Familie von Giuseppe Tomasi war im 17. Jahrhundert extrem religiös«, erzählt Gioacchino Lanza, während wir auf der Terrasse die verschiedenen Anpflanzungen betrachten, die Gioacchinos Frau pflegt. »Der erste Herzog von Palma di Montechiaro Carlo Tomasi e La Restía, 1614 geboren, war dem Theatinerorden beigetreten. Sein Zwillingsbruder Giulio war genauso fromm. Er ging als ›Heiliger Herzog‹ in die Chronik ein, denn er bekam zwar acht Kinder, entschied aber später, enthaltsam zu leben. Seine Frau war einverstanden, stellen Sie sich das vor!«, amüsiert sich Lanza. Immerhin kümmerte er sich um die Armen und baute in Palma di Montechiaro ein Benediktinerinnen-Kloster. Er schenkte es später seiner Tochter, die mystische Texte verfasste, nur auf Knien speiste, sich geißeln ließ und nach ihrem Tod seliggesprochen wurde. Einer der Söhne wurde Kardinal und brachte es sogar zum Heiligen. »Sie waren vollkommen fanatisch, alle Schwestern traten schließlich in den Orden ein«, meint Gioacchino. »Das hatte natürlich etwas sehr Theatralisches. Aber unter den sizilianischen Adligen war bei allem Katholizismus diese Form von Religiosität eher ungewöhnlich.«
Sizilien blieb auch nach 1789 immun gegen alle Erneuerungen. Die Insel hatte um 1790 anderthalb Millionen Einwohner, die landwirtschaftlichen Erträge waren gering, teils weil die Grundbesitzer niemals auf ihren Gütern waren und es für die Pächter keine Gewinnbeteiligung gab, teils wegen Heuschreckenplagen und ungünstiger Anbaumethoden. Es zeichnete sich eine Entwicklung ab, wie wir sie heute noch kennen: Die Dörfer verloren über die Hälfte ihrer Einwohnerschaft, einige verschwanden ganz, die Felder verwaisten. Wer über die Schafstriften quer durch Sizilien ritt, sah halbe Tage lang keine einzige Ansiedlung, nicht einmal ein Bauernhaus. Es gab keine Straßen, was den Transport der Ernte erschwerte. Den rund 2500 Adligen war das gleichgültig, sie verprassten ihre Erträge in Palermo und kümmerten sich um die Steigerung ihres Prestiges. »Auf Bildung wurde nicht sonderlich viel Wert gelegt, meine Familie war eher eine Ausnahme, genau wie die von Tomasis Mutter, die Töchter hatten alle Studien betrieben, sie waren kluge junge Frauen«, erzählt Gioacchino. »Auf der väterlichen Seite haben wir seinen Urgroßvater, der das Vorbild für den Helden des Leoparden ist, er hat zum Vergnügen Astronomie betrieben, war aber längst nicht so bedeutend und weltoffen, wie er im Roman dargestellt wird.« In Catania, wo der Anbau von Zitrusfrüchten betrieben wurde und mehr Aktivität herrschte als in Palermo, gab es immerhin einige kultivierte Aristokraten. Ein Baron schrieb ein Handbuch über den Ackerbau. Der Fürst von Biscari richtete ein berühmtes Privatmuseum ein und modernisierte die Produktion von Leinen und Rum. Als Catania von der Lebensmittelzufuhr abgeschnitten war, versorgte er einen Monat lang unentgeltlich die gesamte Bevölkerung.
Den meisten Adligen ging es um rasche Gewinne und nicht um nachhaltiges Wirtschaften. Die schiere Größe der Besitztümer hatte zu einem Pachtvertrag geführt, der gabella hieß: Das gesamte Gut wurde einem Pächter, dem gabellotto, für drei oder sechs Jahre überlassen. Er bezahlte im Voraus und kümmerte sich um die Bauern, was den Baronen erlaubte, sich das ganze Jahr in Palermo aufzuhalten. Ende des 18. Jahrhunderts sprach man von den gabellotti als den neuen Despoten, die rücksichtsloser als die Barone waren, Reichtümer horteten und den Ehrgeiz besaßen, in eine höhere Gesellschaftsklasse aufzusteigen. Natürlich spielte die Gesetzgebung den Wohlhabenden in die Hände. Statt das Grundeigentum zu besteuern, was bei den Adligen zu Protesten geführt hätte, gab es Getreidesteuern. Der Handel wurde durch Zollschranken gebremst. Nicht die Regierung übernahm die Eintreibung der Zölle, sondern Privatleute, denen man dieses Amt verpachtete. Sie durften eigens dafür bewaffnete Polizisten beschäftigen, die wie ein privater Sicherheitsdienst agierten. Es gab ein kompliziertes System von Bestimmungen zur Einlagerung von Getreide für den heimischen Bedarf und ein ebenso kompliziertes Genehmigungsverfahren für Exporte, von dem um 1726 ausschließlich sechs Getreidemakler in Palermo profitierten. Ihre Praktiken erinnern an Hedgefonds: Noch vor der Aussaat kauften die Makler mitunter ganze Ernten auf und spekulierten auf die Preisdifferenz. Es gelang ihnen immer wieder, an ein und demselben Tag die Preise zu heben und zu senken. Sie streuten Gerüchte über Engpässe, konnten die Ware billig erwerben und brachten dann Nachrichten über ein voraussichtlich sehr gutes Jahr in Umlauf, woraufhin ein höherer Export gestattet wurde. Das Nachsehen hatten die Bauern. Klientelismus war ein Bestandteil dieses Beziehungsnetzes, hinzu kam einträglicher Schmuggel. Ein britischer Konsul vermutete 1790, dass ein Drittel des Getreides beiseitegeschafft würde, eher mehr. Dasselbe galt für Fleisch, Gerste, Gemüse oder Wein, denn man versuchte, die hohen Ausfuhrgebühren zu umgehen.
Unterdessen verschoben sich auch die politischen Machtachsen. 1796 begann die französische Armee unter dem Oberbefehl eines begabten jungen Generals namens Napoleon Bonaparte, große Teile der italienischen Halbinsel zu erobern. Die Bourbonen schlossen sich immer enger an Großbritannien an, auch um das Königreich Neapel überhaupt halten zu können, was schließlich misslang. Deshalb wurde Palermo der Zufluchtsort von König Ferdinand, der mit seinem 2000-köpfigen Gefolge, von Admiral Nelson geleitet und mit dem einflussreichen britischen Gesandten Sir William Hamilton und seiner Frau, der berühmten Lady Emma Hamilton im Schlepptau, im Dezember 1798 am Hafen von Palermo anlandete. Zum ersten Mal konnten die Sizilianer ihren König in Augenschein nehmen. Die Palermitaner fanden seinen Unterhalt zwar teuer, unterstützten ihn aber gegen das revolutionäre Frankreich. Außerdem nutzte der Adel die Gunst der Stunde, um zuvor erlassene Reformen wieder zurücknehmen zu lassen. Ferdinands Gattin Maria Carolina brachte die Lage im Januar 1799 in einem Brief an den neapolitanischen Botschafter in Wien auf den Punkt: »In Palermo gärt es, und ich rechne mit ernsten Vorfällen. Dabei sind wir ohne Truppen und Waffen, es mangelt uns an allem. Ich mache mich auf alles gefasst und bin ganz verzweifelt. Hier sind die Priester völlig korrupt, das Volk ist grausam, der Adel mehr als wankelmütig und von fragwürdiger Loyalität. Das Volk und der Klerus würden uns vielleicht ziehen lassen, wenn wir versprechen, der Gründung einer Republik zuzustimmen. Aber die Adligen würden sich unserem Aufbruch widersetzen, denn dann wären sie verloren, und sie fürchten die Demokratisierung des Landes. Lieber würden sie sich erheben und an die Spitze einer Bewegung stellen, die uns niedermetzelt, uns und alle Neapolitaner.« 1799 startete Kardinal Ruffo von Kalabrien aus seine Gegenoffensive, um Neapel wieder zu befreien und den Vormarsch der französischen Truppen und damit die Verbreitung des italienischen Republikanismus zu unterbinden. Seine heruntergekommene Armee von 17.000 Mann marodierte und mordete. In Neapel schlug sich das Volk aus Verdruss über die aufgeklärten Adligen auf die Seite der Truppe, im Juni 1799 kam es zu einem Gemetzel unvorstellbaren Ausmaßes, Entmannung der Jakobiner und Kannibalismus inbegriffen. Ferdinand kehrte zurück, aber nur für wenige Monate, im August ging er wieder nach Palermo. Es begann ein prunkvolles Hofleben, sehr nach dem Geschmack der ortsansässigen Adligen. Sie fanden jetzt die vielen Engländer interessant. Am Spieltisch machte Lady Hamilton auf sich aufmerksam, über deren Affäre mit Admiral Nelson ohnehin jeder tratschte.
Sizilien scheint im frühen 19. Jahrhundert wie unter einem Glassturz in einem archaischen Feudalismus erstarrt. Gioacchino Lanza Tomasi holt zu ausführlichen Erklärungen aus. Ferdinand war nach zweieinhalb Jahren in Sizilien im Juni 1802 nach dem Friedensvertrag von Amiens zwischen Frankreich und Großbritannien nach Neapel zurückgekehrt, zu Pferde in die Stadt eingezogen und bei einem vierstündigen Triumphzug von seinen Untertanen gefeiert worden – die Neapolitaner liebten ihren einfältigen König. Seiner Frau Maria Carolina graute vor Neapel, außerdem war sie von ihrem Sohn, Kronprinz Franz, entsetzt, der sich ungescheut seinem Triebleben hingab und nach dem Verlust seiner ersten Frau schon zehn Tage nach deren Tod über die Last der Enthaltsamkeit klagte und ausgerechnet eine spanische Bourbonin heiratete, die erst dreizehn Jahre alt war: dick, kräftig, kurzbeinig, wie Maria Carolina schrieb. »Sie ist in jeder Hinsicht ein Nichts, was Wissen, Ideen und Neugier angeht. Da ist nichts, absolut nichts.« Dies war das Personal, in deren Händen die Geschicke Siziliens lagen.
Der Friedensschluss zwischen England und Frankreich hielt nur kurze Zeit; 1803 erklärte Napoleon England den Krieg und stationierte eine 13.000 Mann starke Armee in Apulien. Das Königreich Neapel wurde besonders schlecht behandelt, der Grund war Ferdinands geschäftsführender Minister Sir John Acton. Was ihn betraf, stimmte die Königin vollkommen mit Napoleon überein: Acton war ihr ein Dorn im Auge, aber Ferdinand vertraute ihm mehr als allen anderen, insbesondere seiner Frau. Am Ende wurde der Erste Minister auf Druck Napoleons mit einer großzügigen Pension nach Sizilien verfrachtet. Nun führte niemand mehr die Amtsgeschäfte; entsetzt beobachtete Maria Carolina, wie ihr Ehegatte alles schleifen ließ. Sie verbündete sich mit den Russen. Nach dem Sieg von Austerlitz im Dezember 1805 wollte Napoleon »diese Schurkin« vom Thron stoßen. Die Dynastie von Neapel habe aufgehört zu herrschen, verkündete er seinen Soldaten. Die verbündeten Engländer und Russen zogen sich zurück, Neapel war nicht mehr zu halten, und im Januar 1806 schifften sich zuerst der König und einige Wochen später auch die Königin samt Hofstaat erneut nach Palermo ein. Der Empfang war deutlich verhaltener als beim ersten Mal. Die Sizilianer wussten mittlerweile, mit wem sie es zu tun hatten: Ferdinand hatte kein Interesse an diesem Teil seines Königreichs, er brauchte es lediglich als Rückzugsort, wenn es in Neapel zu brenzlig wurde, gut geeignet nur als Jagdgrund. Er war eher ein Banause als ein kluger Regent: Weil es von der Cappella Palatina keinen direkten Eingang in sein Schloss gab, ließ er kurzerhand ein paar Mosaiken aus dem 12. Jahrhundert abschlagen und einen Durchbruch machen. Auch sonst hatte er kein Gespür für Empfindlichkeiten. Statt die Söhne der aristokratischen Familien einzubinden und mit wichtigen Posten in der Regierung zu betrauen, besetzte er alle Schaltstellen der Macht mit Neapolitanern. Die Verteidigung Siziliens oblag den Briten, die mit über 17.000 Soldaten und 30 zivilen Konsuln und Vizekonsuln Quartier nahmen, auf Kanonenbooten durch die Straße von Messina patrouillierten und der Insel mit Anleihen und Investitionen auf die Sprünge halfen. Die Engländer kamen weitaus besser an als die Neapolitaner: In den Salons von Palermo gewöhnte man sich die Marotte an, Sizilianisch mit englischem Akzent zu sprechen.
Das Verhältnis zwischen den sizilianischen Fürsten und Maria Carolina war hingegen äußerst angespannt. Die Sizilianer strebten die Unabhängigkeit an, spürten die tiefe Verachtung der Königin für Sizilien und baten im Juli 1810 schließlich den britischen Botschafter Lord Amherst, sie bei der Ausarbeitung einer Verfassung nach englischem Vorbild zu unterstützen. Eigentlich sei die bereits bestehende gar nicht schlecht, aber sie werde vom König nicht respektiert. Daraufhin verbannte Maria Carolina im Sommer 1811 auf einen Schlag fünf Abkömmlinge alteingesessener Familien auf die kleinen Inseln vor Sizilien, darunter Fürst Belmonte, einen einflussreichen Wortführer der Aristokratie. Als im Januar 1812 auf Druck der Engländer, in Person des neuen Botschafters Lord William Bentinck, zugleich Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte auf der Insel, endlich der blasse Kronprinz Franz die Macht übernahm, ließ der als Erstes die Verbannung der Barone aufheben und setzte drei von ihnen in hohe Ämter ein. Die Abschaffung des Feudalismus sei die wichtigste Aufgabe, forderte der englische Botschafter, weil die herrschenden Zustände jede Entwicklung blockierten. Sizilien hatte das niedrigste Steueraufkommen von ganz Europa, große Teile der Bevölkerung waren völlig verarmt. Die Landwirtschaft war weiterhin unproduktiv, die Fruchtfolge unausgewogen. Statt die mühselige, aber lohnendere Kultivierung von Oliven zu betreiben, setzte man auf rascheren Verdienst mit Weizen, doch wegen des schneller lieferbaren Getreides aus der Ukraine fielen die Preise. Das Vieh wurde nicht gefüttert, sondern fraß die kargen Hänge leer, bei Brennholzbedarf fällte man kurzerhand Bäume. Auf diese Weise wurde innerhalb von dreißig Jahren die Hälfte des Waldbestandes von ganz Westsizilien vernichtet. Im Juli wurde dann die Verfassung verkündet: Sie garantierte Sizilien Autonomie, trennte Legislative und Exekutive. Der Feudalismus wurde nach 700 Jahren abgeschafft. Allerdings begriffen die Adligen ziemlich schnell, dass die Verfassung fortschrittlicher war als sie selbst: Ihre alten Privilegien, ihre Ländereien, ihre ergebene Dienerschaft, alles in Gefahr!
Ferdinand machte dieses Ärgernis von Neapel aus denn auch gleich wieder rückgängig, was den Hass der sizilianischen Fürsten auf die Hauptstadt des Königreichs weiter schürte. Zwar konnte der Engländer Bentinck für die Wiedereinsetzung des Kronprinzen sorgen und dem nach Sizilien geeilten König das Versprechen abnehmen, sich an die Verfassung zu halten, aber als Bentinck 1813 im Anschluss an einen Feldzug nach Sizilien zurückkehrte, war er entsetzt über die Verhältnisse. Die Verfassung? Noch nicht einmal veröffentlicht. Das Parlament? Heillos zerstritten. Der Hoffnungsträger Belmonte hatte für eine Spaltung der reformerischen Kräfte gesorgt. Die öffentliche Ordnung? Nicht vorhanden. Die britischen Soldaten erstickten die Anarchie; Bentinck brach zu einer Reise über die Insel auf, um sich ein Bild zu verschaffen, bat den Kronprinzen Franz, das Parlament aufzulösen, und führte das Kriegsrecht ein. Unterdessen wandelten sich die Machtverhältnisse in Europa weiter; Bentinck ergriff schließlich sogar Partei für die italienische Unabhängigkeitsbewegung und wurde von seiner Regierung schleunigst zurückberufen. Gemäß der Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815 sollten die beiden Sizilien als ein Königreich weiter bestehen. Der Hof kehrte nach Neapel zurück, was die ohnehin krisenanfällige Wirtschaft erlahmen ließ. Außerdem verließen viele englische Unternehmen die Insel und siedelten sich lieber auf dem Festland an – eine Art umgekehrter Brexit-Effekt. Der Handelsverkehr brach ein. In Sizilien wollte sich einfach kein Wandel einstellen: Die Agrarreform, die der Abschaffung des Feudalismus hätte folgen sollen, funktionierte nicht, denn der Boden wurde nicht unter den Bauern aufgeteilt. Stattdessen kauften ihn die galantuomini, häufig ehemalige Verwalter oder Landaufseher, den hochverschuldeten und an wirtschaftlichen Belangen desinteressierten Adligen ab und wurden Grundbesitzer. Sie standen in der Hierarchie über den gabellotti und waren die großen Profiteure. Im Grunde etablierte sich ein System aus lauter Subunternehmern, die den Bauern noch stärker zusetzten. Wer nicht mitspielte, wurde verjagt. »Genau dies ist die Ausgangslage in Tomasis Roman, und es war auch die Situation seiner eigenen Familie«, sagt Gioacchino Lanza. »Das Haus Salina im Leoparden verliert nach und nach seinen Grund und Boden an den Bürgermeister Sedára, dessen Vater über Winkelzüge kommunales Brachland erworben hatte. Er konnte weder vernünftig lesen noch schreiben, aber besaß einen untrüglichen Instinkt.«
In den nächsten Jahrzehnten kam es zu einem Hin und Her zwischen sizilianischen Unabhängigkeitsbestrebungen, die vom Adel forciert wurden, um alte Privilegien wiederzuerlangen, und revolutionären Bauernaufständen. 1820 und 1848 mischten außerdem noch die carbonari, »Köhler«, mit, kleine Zellen, die nach dem Vorbild der Freimaurer in Aktion traten, politisch disparat – teils Republikaner, teils Befürworter einer konstitutionellen Monarchie –, aber verbunden durch den Kampf für ein geeintes Italien. Außerdem lungerten überall beschäftigungslose Soldaten herum, die sich den verschiedenen Bewegungen anschlossen. 1825 war Ferdinand I. endlich gestorben, ihm folgte sein blässlicher Sohn Franz I. nach, der nie an Format gewann und Sizilien von Polizei und Armee regieren ließ. 1830 kam dann Ferdinand II. auf den Thron, der sich für eine unabhängige Rechtsprechung einsetzte und sich bemühte, Brigantentum und Korruption abzuschaffen – ohne jeden Erfolg. Durch die Niederlassungen der britischen und österreichischen Truppen waren viel zu viele Waffen in Umlauf gekommen und wurden jetzt als Diebesgut verscherbelt. Die Bauern bildeten, mitunter auch mithilfe von Banditen, sogenannte squadre, Mannschaften. Wer nicht mit den jeweiligen Machtverhältnissen vertraut war, konnte...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. ANKUNFT
  5. IM BALLSAAL
  6. DER GLANZ VON PALERMO
  7. FAMILIENROMAN
  8. JUNGE DICHTER IM THERMALBAD
  9. DER MÜSSIGGÄNGER AUF ABWEGEN
  10. DER LEOPARD
  11. IRRLÄUFE EINES MANUSKRIPTS
  12. VISCONTI UND DIE OPULENZ
  13. ELEFANTEN IN CATANIA
  14. MÜTTER UND SÖHNE
  15. IM MUTTERBAUCH
  16. EINER, KEINER ODER DOCH HUNDERTTAUSEND?
  17. DAS GLEISSENDE LICHT DER VERNUNFT
  18. DIE WAHRHEIT DES FÄLSCHERS
  19. VIELE GESICHTER
  20. DER IDEENSCHMUGGLER
  21. »ES WAR NICHTS PASSIERT.«
  22. TRAUER UND LICHT
  23. BIBLIOGRAFIE
  24. Über die Autorin
  25. Impressum