1. Die Sozialdemokratie verliert Macht und Ansehen
1.1 Der scheinbar unaufhaltsame Abstieg
Die Sozialdemokratie profitierte einst von der vollen Entfaltung des âindustriellen Zeitaltersâ. Sie hat offenbar Schwierigkeiten, auch im âpostindustriellem Zeitalterâ attraktiv zu bleiben.
Emporgetragen vom sozialen Aufstieg der Industriearbeiter und in Einklang mit einem durch das rasche Wachsen von Wohlstand gefestigten Zukunftsglauben, stand die Sozialdemokratie vor vierzig Jahren am Gipfel ihrer Macht. Damals â in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts â schien die Selbstsicherheit der Sozialdemokratie auch wohl begrĂŒndet. Die Wirtschaft war in dem vorhergegangenen Vierteljahrhundert rasch gewachsen. Dieses Wachstum war der Entfaltung der Industrie geschuldet. Die damals reicheren Staaten nannten sich demnach auch âIndustrie-Staatenâ. Sie unterstrichen damit die weit verbreitete Meinung, dass es ihr industrielles Potential war, welches sie von den Ă€rmeren Staaten der Welt1 abhob. Mit diesem Prestige der industriellen Produktion und mit diesem Aufschwung der gesamten Nachkriegswirtschaft verband sich ein ausgeprĂ€gtes Selbstbewusstsein der Industriearbeiter. Sie bildeten die âKernschichtâ der Sozialdemokratie und waren deren verlĂ€sslichste WĂ€hler.
Dank des schnellen Wachstums der Wirtschaft2 war der Wohlstand so rasch gestiegen, dass man daraus neben persönlichem Konsum und Investitionen unschwer auch die TĂ€tigkeit des Staates und insbesondere staatliche SozialmaĂnahmen finanzieren konnte. Die Einkommensunterschiede waren relativ gering und die gesellschaftliche SolidaritĂ€t demnach noch dicht. Der Staat, der einen durch die harten Kriegs- und Nachkriegsjahre gesteuert hatte, war geachtet. Die Behauptung, dass man das eigene Wohlbefinden nur durch ein ZurĂŒckstutzen des Staates steigern könnte, hĂ€tte damals nur wenig Zustimmung gefunden.
Ein âsozialdemokratischer Diskursâ bestimmte allenthalben die Politik. Selbst konservative Parteien bekannten sich zu den sozialen Aufgaben des Staates. Ein Ă€hnliches Bekenntnis kam damals in den USA von der dortigen linkeren Partei â den âDemokratenâ. Ihr PrĂ€sident Lyndon Johnson hatte in dem von ihm erklĂ€rten âKrieg gegen die Armutâ die staatlichen Sozialausgaben stark ausgeweitet. Weltweit war die WĂ€hrungs- und Finanzpolitik im Sinne des âKeynesianismusâ dadurch âlinksâ, dass sie die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steuerte und auf möglichst hohem Niveau hielt.
Kurzum â es war das ein sozialdemokratisches Zeitalter und die Sozialdemokratie stand am Gipfel ihrer Macht. In Ăsterreich erzielte sie im Jahre 1979 mit 51 Prozent der abgegebenen Stimmen den bis dahin gröĂten Wahlerfolg ihrer Geschichte. Das war aber auch der Wendepunkt. Von dort aus ging es bergab â sowohl in den Wahlen wie auch in der Organisationsdichte und PrĂ€gekraft der Partei.
Abb. 1 â Ergebnisse der Nationalratswahlen der 2. Republik Ăsterreich
Quelle: Privatarchiv Thomas Nowotny
Die Entwicklungen seither scheinen die Vorhersagen Ralf Dahrendorfs ĂŒber das herandĂ€mmernde âEnde des sozialdemokratischen Jahrhundertsâ3 zu bestĂ€tigen.
Dennoch und trotz des nach 1979 andauernden Machtverlustes blieb die Sozialdemokratie in Ăsterreichs weiterhin die stĂ€rkste politische Partei. In ihrem letzten Programm aus dem Jahre 1998 lieĂ sie sich sogar noch zur selbstgefĂ€lligen Feststellung verleiten, dass âdie Sozialdemokratie zur gröĂten politischen Kraft in Europa aufgestiegen istâ.
Diese Behauptung lĂ€sst sich heute nicht wiederholen. Ăberall in Europa ist die Sozialdemokratie auf dem RĂŒckzug. Die skandinavischen Sozialdemokraten haben trotz ihrer erfolgreichen Sozial- und Wirtschaftspolitik laufend an Einfluss verloren. Die stolzen französischen Sozialisten sind hinter den Konservativen und den National-Populisten auf den dritten Platz zurĂŒckgefallen. In den neuen östlichen Mitgliedsstaaten der EuropĂ€ischen Union ist die Sozialdemokratie weitgehend verkĂŒmmert. Stark geschwĂ€cht ist sie auch in den sĂŒdlichen Staaten der Union.
Der Niedergang in Ăsterreich war dramatisch. Der 51-prozentige Anteil an WĂ€hlerstimmen, den sich die SPĂ im Jahre 1979 noch zurechnen konnte, ist in den Wahlen des Jahres 2013 auf die HĂ€lfte geschrumpft. Die Anzahl der Parteimitglieder hat sich von einem Höchststand von 721.000 auf 243.000, also auf ein Drittel verringert4.
In Reaktion auf diesen Niedergang wollte man ihm durch eine Anpassung an den von Konsumstreben und Egozentrik bestimmten Zeitgeist entgegenwirken. Man meinte, das durch eine Preisgabe traditionell âlinkerâ politischer Ziele tun zu können. In einigen seiner wichtigsten Passagen dokumentiert das Parteiprogramm aus dem Jahre 1998 dieses AbrĂŒcken von einst zentralen Forderungen der Sozialdemokratie.
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2. Statt Gestaltungswillen: Taktische Anpassung an Bestehendes
2.1 Das SPĂ Parteiprogramm 1998 â die SPĂ will nicht lĂ€nger eine linke Partei sein
Einige Kernaussagen aus dem SPĂ Programm des Jahres 1998 belegen die versuchte Anpassung an einen durch Egoismus bestimmten Zeitgeist und die damit einhergehende Preisgabe einst zentraler politischer Forderungen
a) Im Paragraph mit der Ăberschrift âGleichheitâ findet sich im Parteiprogramm der SPĂ aus dem Jahre 1998 folgende Feststellung: Wir wollen fĂŒr alle Menschen Chancengleichheit ⊠unabhĂ€ngig von ihren ⊠Einkommenâ.
Gegen diese Forderung lĂ€sst sich wohl nichts einwenden, auĂer dass sie nicht weit genug geht. Unterschiede im Einkommen und Vermögen schaffen nĂ€mlich so groĂe Unterschiede in Entfaltungsmöglichkeiten, dass diese durch nachfolgende MaĂnahmen nicht korrigiert werden können. Das ist nicht eine bloĂ theoretische Vermutung. Das bestĂ€tigt auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Trotz staatlicher MaĂnahmen zur HerbeifĂŒhrung von Chancengleichheit hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich fast ĂŒberall geweitet. Gleichzeitig wurde es fĂŒr jene am unteren Ende der Einkommenspyramide schwerer, nach oben zu gelangen.
Allenthalben hat man versucht, dieser Abriegelung des sozialen Aufstiegs entgegenzuwirken â etwa durch Stipendien, welche jungen Menschen aus Ă€rmeren Schichten den Zugang zur UniversitĂ€t ebnen sollten. Aber auch bloĂe Chancengleichheit hat man dadurch nicht hergestellt. Die kann es nur geben, wenn es zugleich auch ein höheres MaĂ an Gleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen gibt. Die Sozialdemokratie mĂŒsste eine solche effektive Gleichheit ebenso nachdrĂŒcklich einfordern, wie sie es frĂŒher und durch die lĂ€ngste Zeit ihrer Geschichte getan hat und bevor sie dieses Ziel aus politischem Opportunismus und der Furcht aufgegeben hat, als âGleichmacherâ gebrandmarkt zu werden. Seither will sie mehr Gerechtigkeit auf einfachere Weise und sozusagen unter Anwendung homöopathischer Medizin erreichen. Gleichheit könne man auch schon dadurch schaffen, dass man Menschen die Hindernisse auf dem âWeg nach obenâ beseitigt. Gerade die Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehrt jedoch: Trotz des BemĂŒhens um Herstellung von âChancengleichheitâ werden aus TellerwĂ€schern selten MillionĂ€re. In der schon weit, seit 40 Jahren, zurĂŒckliegenden Zeit von ĂŒberaus raschem Wirtschaftswachstum und sehr tiefgreifendem gesellschaftlichem Wandel mag man der Hoffnung erlegen sein, dass dieses Ziel der Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede dadurch erreichbar wĂ€re, dass man eine natĂŒrliche Dynamik walten lĂ€sst und alles beseitigt, was ihr entgegensteht und dadurch den âAufstieg der Arbeiterklasseâ behindert. Diese Hoffnung beziehungsweise Illusion durchtrĂ€nkte dann auch noch das SPĂ-Programm aus dem Jahre 1989, obwohl sich die UmstĂ€nde damals bereits völlig gewandelt hatten und sich der âAufstieg der Arbeiterklasseâ bereits in deren Abstieg verkehrt hatte. Der Ruf nach bloĂer âChancengleichheitâ lenkt aber nicht bloĂ vom Ziel ab, dieser Dynamik steigender Ungleichheit und Ent-Solidarisierung entgegenzuwirken. Das Schlagwort impliziert nĂ€mlich auch die Vorstellung, dass eine âleistungsgerechteâ Gesellschaft notwendiger Weise eine hierarchische ist und sein muss. Man könne es Menschen leichter machen, auf dieser hierarchischen Leiter nach oben zu klimmen, aber daran, dass es ein âObenâ und âUntenâ gibt, daran könne man auch dann nichts Ă€ndern, wenn sich die AbstĂ€nde zwischen den Sprossen dieser Leiter weiten (siehe dazu ausfĂŒhrlich der Abschnitt 5.3).
b) âUngezĂŒgelte MĂ€rkte lassen ⊠gefĂ€hrliche Kapitalakkumulation und neue Monopole entstehenâ (Paragraph II/2.3). Diese Formulierung im Parteiprogramm kann man unterschiedlich interpretieren. Sie kann entweder als Aufforderung an die Politik verstanden werden, den MĂ€rkten einen Rahmen zu setzen. Das wĂ€re eine Feststellung von fortdauernder GĂŒltigkeit. Man kann den Passus aber auch anders und dahingehend verstehen, dass es im VerhĂ€ltnis zu den MĂ€rkten die ausschlieĂliche Funktion des Staates sein sollte, auf diesen MĂ€rkten fĂŒr freie Konkurrenz zu sorgen und durch gesetzliche Vorgaben das Entstehen von Monopolen, Oligopolen und Kartellen zu verhindern. WĂŒrde das geschehen, dann kĂ€me es auf den MĂ€rkten auch zu keinen die Wirtschaft und das soziale GefĂŒge belastenden Verzerrungen.
Falls diese zweite Interpretation die Absicht hinter dem Text besser erfasst, dann wĂŒrde die Sozialdemokratie damit Leitbilder des konservativen âOrdo-Liberalismusâ ĂŒbernehmen. Dieser erachtet es ja auch als die hauptsĂ€chliche Aufgabe des Staates, dafĂŒr zu sorgen, dass auf den MĂ€rkten die Konkurrenz frei und unbehindert ist. Der âOrdo-Liberalismusâ stellt diese Forderung gestĂŒtzt auf die Ansicht, dass eine solche dann freie und durch den Staat freigemachte Konkurrenz das Entstehen von ungerechtfertigten âRentengewinnenâ und damit eine ungerechtfertigte AnhĂ€ufung von Kapital unterbindet.
Die bisherige Entwicklung zeigt, dass dies nicht zutrifft. Denn staatliche Gesetze und Behörden können nicht verhindern, dass es zu einer AnhÀufung von Kapital in den HÀnden jener wenigen kommt, ...