Der Fall Margarethe Ottillinger
Die Verhaftung auf der EnnsbrĂŒcke
Freitag, 5. November 1948, spĂ€terer Nachmittag, knapp nach 17 Uhr. Ein Fahrzeug erreicht den sowjetischen Kontrollpunkt an der BrĂŒcke ĂŒber die Enns bei St. Valentin â hier hört die amerikanische Besatzungszone auf, beginnt die sowjetische â, eine heiĂe Nahtstelle im Kalten Krieg. Im Auto Peter Krauland, Minister fĂŒr Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, und Margarethe Ottillinger, mĂ€chtigste Beamtin der Republik und seine enge Vertraute. Es ist nicht das Ministerauto, sondern Ottillingers Dienstwagen. Die Sowjets wissen auch, was beide bei sich tragen: Eine Aktentasche voll höchst geheimer PlĂ€ne, die Stahlproduktion der HĂŒtten Linz und Donawitz gleichmĂ€Ăig auf alle österreichischen Betriebe zu verteilen und sich Mehrlieferungen an sowjetische USIA-Betriebe, die bis dahin zwangsweise gratis getĂ€tigt wurden, entsprechend bezahlen zu lassen.
Dies war wenige Stunden zuvor bei einer Geheimsitzung in der Voest1 beschlossen worden, an der Krauland, Planungschefin Ottillinger sowie Hans Malzacher als Voest-Konsulent, Kraulands Berater fĂŒr den Marshall-Plan (ERP), Hans Igler2 und Kraulands persönlicher Wirtschaftskonsulent Walther Kastner3 teilnahmen. Anlass und Tarnung fĂŒr das geheime österreichische Treffen war eine offizielle, programmatische Rede von Bundeskanzler Leopold Figl4 in der Vöest-HĂŒtte Linz, der mehrere Regierungsmitglieder und der oberösterreichische Landeshauptmann Heinrich GleiĂner5 beiwohnten. Die Sowjets wuĂten nicht nur von der öffentlichen Figl-Rede, sondern bekamen auch Kenntnis von der anschlieĂenden Geheimsitzung. Kein Alliierter und besonders kein sowjetischer Agent war bei dem Treffen hinter verschlossenen TĂŒren dabei, es war eine rein österreichische Besprechung mit Ottillinger und Krauland.6
Doch abgesehen hat man es nicht auf den Minister, sondern auf Ottillinger. Die junge Karrierebeamtin, zustĂ€ndig fĂŒr den Stahlplan der Regierung und involviert in die Planungen fĂŒr den Marshall-Plan, gilt dem sowjetischen Geheimdienst schon lĂ€ngere Zeit als Spionin im Solde der Amerikaner. Zudem hat sie eine enge Beziehung zum sowjetischen Stahlfachmann Andrej I. Didenko, dem sie schlieĂlich 1946 auch zur Flucht in den Westen verhilft. Aus sowjetischer Sicht ein Kapitalverbrechen, nicht nur fĂŒr Didenko, sondern auch fĂŒr die hohe österreichische Regierungsbeamtin. Beschattung, Observation, verklausulierte Drohungen, vermeintliche âRatschlĂ€geâ. Doch alle Warnungen bleiben wirkungslos. Auch haben die Sowjets wenig Beweismaterial gegen sie. Dies Ă€ndert sich jedoch schlagartig, als die sowjetische Gegenspionage den österreichischen Kriminalbeamten und US-Agenten Alfred Fockler festnimmt. Denn Fockler belastet im Verhör am 28. August 1948, vermutlich unter Drohungen und Folter, Ottillinger schwer.7 Nun wartet man nur noch auf eine gĂŒnstige Gelegenheit. Zweieinhalb Monate spĂ€ter ist sie da.
Ottillinger fĂ€hrt in ihrem Dienstauto, gemeinsam mit Minister Krauland, dessen Dienstwagen gerade in der Werkstatt steht, von der Geheim-Sitzung in Linz zurĂŒck nach Wien. Den Vorsitz im Alliierten Rat, der sich mit den FĂ€llen von Kidnapping von Politikern zu befassen hat, haben noch bis zum 12. November die Franzosen. Von ihnen, so vermeinen die Sowjets, ist wenig Protest zu erwarten, was sich bald als falsche Annahme herausstellt. Daher erfolgt der Zugriff der sowjetischen Gegenspionage/Spionageabwehr auf Margarethe Ottillinger am 5. November 1948 â mitten auf der EnnsbrĂŒcke, in Gegenwart ihres Ministers.8
Doch eigentlich geht es bei der Verhaftung Ottillingers um wesentlich mehr, es geht um die wirtschaftliche Einheit Ăsterreichs. Diese soll der von Ottillinger und ihrem Stab ausgearbeitete Stahl-Plan weiter absichern, weil er die sowjetischen USIABetriebe (die Flaggschiffe des ehemaligen Deutschen Eigentums in der Sowjetzone) nicht mehr bevorzugte.
Mehr als die HĂ€lfte des österreichischen Stahls hat man den Sowjets bislang gratis geliefert, dies sollte mit dem Stahl-Plan ein Ende haben. FĂŒr die Sowjets ist klar, einen derartigen Schlag wĂŒrden ihre schlecht gefĂŒhrten Betriebe nicht dauerhaft ĂŒberleben. Sie wĂŒrden jenen Kostenvorteil verlieren, der ihnen noch eine gewisse KonkurrenzfĂ€higkeit erhalten hat. Sie mĂŒssten ihr Wirtschaftsimperium USIA und damit auch die Chance auf mehr Einfluss, Macht und auf eine wirtschaftlichen Zweiteilung des Landes verlieren.9 Die Festnahme Ottillingers soll aber auch Krauland, der ja ImmunitĂ€t besitzt und den man als âAmerikaner-Freundâ kennt, deutlich die rote Linie vor Augen fĂŒhren und seinen Kurs Ă€ndern.
Die Grenzsoldaten, StarĆĄina Petriga und Untersergeant Egorov,10 sind vorbereitet. Petriga kontrolliert die Ausweispapiere noch vor dem Schranken; jene Ottillingers besonders lange. Er gibt die Papiere jedoch zurĂŒck und das Zeichen fĂŒr die Weiterfahrt. Dennoch geht der sowjetische Schlagbaum nicht hoch. Da reiĂt Petriga die BeifahrertĂŒr auf, setzt sich auf den vorderen Beifahrersitz und befiehlt dem Chauffeur nach vorne zu fahren. Jetzt erst geht der Schlagbaum hoch.11 Der Wagen fĂ€hrt ein paar Meter zu einem WĂ€rterhĂ€uschen, einer Art BrĂŒcken-Kommandantur. Dort steht Untersergeant Egorov mit einer MP und lĂ€sst nur den Chauffeur aussteigen. Ab jetzt geht alles blitzschnell. Ottillinger erfasst geistesgegenwĂ€rtig die Situation, schiebt Krauland die Aktentasche mit dem geheimen Stahl-Plan, ihrem Notizbuch mit allen Telefonnummern und Namen ihrer Kontaktpersonen zu und hĂ€lt den Grenzer noch an den Schultern fest, wĂ€hrend sie ihrem Chauffeur zuruft: âRĂŒckwĂ€rts, schnell, schnell!â Dieser springt zurĂŒck in den Wagen, versucht den RĂŒckwĂ€rtsgang einzulegen. Die österreichischen Grenzposten auf der amerikanischen Seite der BrĂŒcke sehen das Drama. Auch sie sind neu. Erst einen Monat zuvor, am 3. Oktober, haben sie von der amerikanischen MilitĂ€rpolizei die Kontrolle an der Zonengrenze (EnnsbrĂŒcke) ĂŒberantwortet bekommen.12 Um zu helfen, öffnen sie ihren Schlagbaum. Zu spĂ€t.
Der Wagen rollt nur wenige Meter rĂŒckwĂ€rts. Zu wenig. Blitzschnell hat sich der Grenzsoldat losgerissen und den Gang herausgenommen: âStoj! Stoj!â Der Wagen steht noch auf der sowjetischen Seite der Zonengrenze. Egorov und mehrere Grenzsoldaten laufen heran, umstellen den Wagen und fordern Krauland und Ottillinger auf, auszusteigen. Widerstand gegen die Festnahme, so vermerkt das Protokoll ausdrĂŒcklich, wird nicht geleistet. âNix gut Papierâ, hört Ottillinger, wie ein Soldat einen ersten Grund fĂŒr den Stopp nennt. Beide werden, weil es Krauland vorerst ablehnt, Ottillinger allein zu lassen, auf die sowjetische Kommandantur am Ortsrand des nahen St. Valentin, mit Blick zur Enns, eskortiert.13
Dort wartet schon Oberleutnant Levitan von der sowjetischen Gegenspionage des Ministeriums fĂŒr Staatssicherheit (MGB, siehe Grafik auf Seite 240)14. Krauland, kreidebleich, erklĂ€rt sofort seine ImmunitĂ€t als Minister, wĂ€hrend man Ottillinger vorwirft, NS-Mitglied gewesen zu sein.15 Krauland weist dies schroff zurĂŒck, denn als Spitzenbeamtin der Republik sei sie grĂŒndlich ĂŒberprĂŒft worden. Und vielleicht wolle man ja eine andere Frau verhaften und es liege eine Verwechslung vor. âDies muss noch geklĂ€rt werdenâ, entgegnet der sowjetische Kommandant, weshalb man Ottillinger hierbehalten werde. Der Minister könne weiterfahren, âweil es keinen Zweck hat zu wartenâ. Er tut es und lĂ€sst die kaum 29-JĂ€hrige gegen 18 Uhr allein zurĂŒck; vielleicht in dem Glauben, die Sache wĂŒrde sich bald als Irrtum herausstellen und in Wien könne er, im GesprĂ€ch mit dem sowjetischen Hochkommissar Vladimir V. Kurasov, mehr fĂŒr die Festgenommene erreichen. Als der Chauffeur mit dem Minister gerade losfahren will, bittet Ottillinger die Grenzorgane, noch Unterlagen aus dem Wagen holen zu dĂŒrfen, lĂ€uft in den Hof der Kommandantur, klopft an das Fenster des Autos. Sofort ist sie von Soldaten umringt. An Flucht ist nicht zu denken. Sie öffnet die WagentĂŒr von auĂen, da liegt ihre Aktentasche. Schnell nimmt sie Ausweise und ihr Geldbörsel heraus. In diesem Moment versucht ein Grenzsoldat die Aktentasche an sich zu nehmen, was Krauland geistesgegenwĂ€rtig verhindert, als er diese schroff zum Eigentum des Ministeriums erklĂ€rt. Ottillinger ĂŒberkommt dennoch ein GefĂŒhl der Verlassenheit und sie spĂŒrt: âDies ist der Moment, der ĂŒber mein weiteres Leben entscheidet.â16
Nach einer ersten Aufnahme ihrer Personalien17 und einer erkennungsdienstlichen Behandlung (FingerabdrĂŒcke) werden ihre Handtasche durchsucht und ihr von Leutnant P[etr] Fedotov (der als Dolmetsch fungiert) im Beisein von Major Bondarenko und dem Soldaten Hilsov sĂ€mtliche persönliche Dokumente abgenommen. Dazu gehören Personalausweise, die StaatsbĂŒrgerschaftsurkunde, zwei Meldescheine, verschiedene persönliche NotizblĂ€tter, zwei Briefe, neun persönliche Fotos und jene 2740.â Schilling, die sie eben aus ihrer Aktentasche geholt hat.18
Man beginnt mit dem ersten Verhör. Vier Russen sitzen ihr gegenĂŒber: MGB-Major Bondarenko als Untersuchungsoffizier, Leutnant Fedotov als Dolmetsch, elegant sich gebend, jung, schlank, kantiges Profil, Schnurrbart, groĂ gewachsen, spitze Nase, sich immer wieder im Spiegel besehend, dazu ein sowjetischer Unteroffizier, etwas dicklich, gemĂŒtlich wirkend, sowie ein einfacher Soldat, der lediglich in einer Ecke sitzt und dem Verhör beiwohnt.19 Der Vorwurf lautet nun nicht mehr: NSDAP-Mitgliedschaft, sondern Spionage fĂŒr die Amerikaner. Sie soll âallesâ zugeben, denn âwir haben alle Unterlagen und Beweiseâ. Die EinschĂŒchterungen wirken nicht. Ottillinger unterschreibt das Protokoll nicht. Es gibt daher im Akt nur ein begonnenes Verhörprotokoll vom 6. November. Dieses wird erst am nĂ€chsten Tag fertiggestellt werden. Die vier verlassen das Zimmer. ZurĂŒck bleiben grĂŒbelnd Ottillinger und ein Wachsoldat.
Ein Soldat bringt ihr, gegen Bezahlung, Milch, Eier, Semmeln. Das Retourgeld zĂ€hlt er ihr penibel vor. âDie Eier weich oder hart gekocht, oder in Fett gebraten?â Die Milch stellt er auf den Ofen, damit sie warm hĂ€lt. Dann bleibt Ottillinger mit ihrem WĂ€chter wieder allein, ohne Waschmöglichkeit darf sie sich auf einen Diwan legen, das Gesicht im grellen Licht einer Elektrobirne, dem WĂ€chter zugewendet.20 Jetzt ist Ottillinger endgĂŒltig klar, ihre Festnahme ist kein MissverstĂ€ndnis. Sie ist nun eine Gefangene der sowjetischen Staatssicherheit.
Auch die Verhörversuche am Vormittag des 6. November in St. Valentin enden wie schon am frĂŒhen Morgen: ergebnislos. Diesmal hat man es mit Anschuldigungen versucht, Ottillinger sei mit dem sowjetischen Stadtkommandanten von Wien, General-Leutnant Nikita F. Lebedenko21 in einem Auto gesehen worden, ebenso mit der Beschuldigung, Spione hĂ€tten traditionsgemÀà zwei Wohnsitze: Ottillinger wohnte sowohl bei ihren Eltern in Steinbach als auch in Wien, drei Monate, vom 22. Mai bis zum 6. September 1947 (aus GrĂŒnden des Schutzes vor einer Festnahme durch sowjetische Organe, wie sie selbst oft betonte) âals Gastâ in der Wohnung ihres Ministers Krauland. Allerdings sehr zum Missfallen von Kraulands Gattin Vera.22 Ottillinger unterschreibt wieder nicht, ein Protokoll dazu fehlt. Das Verhör-Kommando zieht wieder ab.
Plötzlich, um etwa 15 Uhr, bringt Dolmetsch Fedotov ihren Necessaire-Koffer von zu Hause. Ein österreichischer Gendarm hat ihn in Steinbach geholt und den Sowjets ...