HeldInnengeschichten
Identitäts/De/Konstruktionen
mit Vorbildcharakter
Von den Sowjethelden zum russischen Menschen
Lebenserzählung und Geschichtserfahrung in Secondhand-Zeit von Svetlana Aleksievič
Eva Binder
Die Sowjetunion war ein Land mit einem ausgeprägten Heldenkult. Es gab die Revolutions- und Bürgerkriegshelden der Jahre 1917 bis 1922 und dreißig Jahre später kamen die Helden des Zweiten Weltkriegs hinzu. Abgesehen von den Kriegshelden gab es Heldentaten – auf Russisch „podvig“ –, die von Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen vollbracht wurden: von Arbeitern der Stachanovbewegung, von Kinderhelden, von Führungspersönlichkeiten der kommunistischen Partei, von Wissenschaftlern und Ingenieuren, von Flugzeugpiloten und Kosmonauten. Die Biographien dieser Helden wurden in allen zur Verfügung stehenden Medien – vom Buch über Lied und Film bis hin zum Denkmal – verbreitet und forderten zur Ehrerbietung und Nachahmung auf. Darüber hinaus gab es die ideologisch-künstlerische Programmatik des „positiven Helden“, und insbesondere in der totalitären Kultur der Stalinzeit wurde keine andere als eine heroische Darstellung geduldet. Seit dem Jahr 1934 wurde der Titel „Held der Sowjetunion“ verliehen und sogar Heldenstädte (gorod-geroj) gab es – ein Titel, der zum Beispiel Leningrad, Stalingrad oder Odessa nach dem Zweiten Weltkrieg zugesprochen wurde.
Als die Sowjetunion im Jahr 1991 aufgelöst wurde und die Ideologie, auf der das Sowjetimperium fußte, ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung verlor, waren die ehemaligen Heldentaten mit einem Schlag wertlos geworden und die einst begehrten Orden wurden auf Straßenmärkten verramscht. Was es für die Menschen bedeutet, auf den „Trümmern des Sozialismus“ zu leben und welche Strategien und Schutzmechanismen sie entwickeln, um die individuelle und kollektive Erfahrung des Sowjetsystems – im Positiven wie im Negativen – zu verarbeiten, ist eines der Kernthemen des Dokumentarromans Vremja sekond-chėnd, der 2013 in Moskau im russischen Original erschien und im selben Jahr in deutscher Übersetzung unter dem Titel Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus herauskam. Die Autorin Svetlana Aleksievič geht dabei von der Annahme aus, dass das Ende der Sowjetunion nicht einfach nur ein Wechsel von einem politischen und ökonomischen System zu einem anderen war, sondern ein Epochenbruch, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. Entsprechend geht Aleksievič der Frage nach, was in den Menschen vor sich geht, wenn die ihr gesamtes Leben bestimmende Sinngebung mit ihren Helden und Heldenerzählungen in die Brüche geht – wenn „Lebenserfahrungen, Berufe, Werte, Sprachregelungen, Verhaltensweisen, die ein Leben lang gegolten hatten, mit einem Mal entwertet sind“ (Schlögel 2013, 9).
Secondhand-Zeit wurde in Deutschland wohlwollend aufgenommen und noch im Erscheinungsjahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Wertschätzung, die Svetlana Aleksievič insbesondere in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern entgegengebracht wird, ist eng mit ihrer künstlerischen Methode verbunden, die an das Erinnerungsinterview der Oral History angelehnt ist. Aleksievič zeichnet die Erzählungen von Menschen auf und ordnet diese „Stimmen“ durch Montage-Techniken so an, dass daraus Erzähltexte entstehen. Trotz des dokumentarischen Ansatzes werden die Bücher von Svetlana Aleksievič der Belletristik zugeordnet, und in Buchbesprechungen und wissenschaftlichen Artikeln ist von „dokumentarischer Literatur“ und „literarischer Wortkunst“ (Hielscher 2002), von „dokumentarischer Prosa“ (Soumm 2013) oder von „Dokumentar-Romanen“ (Schlögel 2013) die Rede.
Das in diesen Begriffen anklingende Spannungsfeld zwischen Dokumentarischem und Fiktionalisierung, zwischen tatsächlich Erlebtem und in Form gegossener Erzählung wird auch die vorliegenden Ausführungen bestimmen. Dabei soll in einem ersten Schritt das Potenzial diskutiert werden, das Aleksievičs dokumentarischem Ansatz für eine Auseinandersetzung und Vermittlung von individueller und kollektiver Geschichtserfahrung innewohnt. Über die komplexe Montage-Struktur des Dokumentarromans, der aus einer Vielzahl von „Stimmen“ und aus heterogenen Lebensgeschichten besteht, gelingt es Aleksievič, verschiedene Perspektiven auf die Geschichte und Gegenwart zu werfen und damit zu einem kritischen Umgang mit Geschichte und zu einer Entheroisierung und Entmythisierung anzuregen. Im Gegensatz und Widerspruch dazu lässt sich in Aleksievičs Dokumentarroman jedoch noch eine ganz andere Sinngebung erkennen, die in einem zweiten Schritt aufgezeigt werden soll. Diese widersetzt sich einem rationalen Geschichtsverständnis und ist essentialistisch im Sinne einer spezifisch russischen Lebens- und Welterfahrung, die Aleksievič mit der russischen Literatur- und Kulturtradition des 19. Jahrhunderts verknüpft und die sie an die affektive Logik der gegenwärtigen Medienwelt anschließt.
1. Aleksievičs dokumentarischer Ansatz einer Geschichte von „unten“
Die 1948 in der heutigen Ukraine geborene, in Weißrussland lebende und auf Russisch schreibende Autorin Svetlana Aleksievič verfolgt seit über 30 Jahren einen einheitlichen künstlerischen und ethischen Ansatz. Beeindruckt von den Arbeiten des Schriftstellers Ales Adamovič, der gemeinsam mit Daniil Granin 1977 das auf authentischen Berichten basierende Blokadnaja kniga (Blockadebuch) über die Belagerung Leningrads während des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte, begann die junge Zeitungsredakteurin Anfang der 1980er Jahre, Interviews mit Zeitzeugen zu führen und diese mit einem Tonbandgerät aufzuzeichnen (vgl. Aleksievič 2013b). Ihr Interesse galt von Anfang an den bewegenden Ereignissen oder vielmehr noch den großen Katastrophen, die die Bürger/innen der Sowjetunion und später der Nachfolgestaaten der Sowjetunion er- und durchlebten – vom Zweiten Weltkrieg über den sowjetischen Afghanistan-Krieg bis hin zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Bereits Anfang der 1990er Jahre setzte sich Aleksievič mit den Folgen des Epochenbruchs von 1991 auseinander, indem sie Selbstmordgeschichten zu einem „Panorama der Generationen“ (Hielscher 2002, 10) montierte und diese 1993 in einer weißrussischen Fassung und 1994 in der russischen Originalfassung unter dem Titel Začarovannye smert’ju (Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder, dt. ebenfalls 1994) herausbrachte. Einen beachtlichen Teil dieser Lebensgeschichten nahm sie, neu montiert und überarbeitet, in Secondhand-Zeit auf.
In Aleksievičs dokumentarischer Methode ist grundsätzlich eine Demokratisierung und Enthierarchisierung angelegt, indem die Autorin reale Menschen zu Wort kommen lässt und über ihre Bücher die mediale Basis dafür schafft, dass diese Stimmen auch gehört werden. Damit hat Aleksievič insbesondere in den 1980er Jahren einen wichtigen Beitrag geleistet, um das Monopol auf die Interpretation von Geschichte, das von der Sowjetmacht rigoros durchgesetzt wurde, aufzubrechen. Vergleichbare Zielsetzungen verfolgt in der Geschichtswissenschaft die Oral History, die, folgt man dem Historiker Lutz Niethammer, insofern einen Beitrag zu einer „demokratischen Geschichtsschreibung“ leisten kann, als sie grundsätzlich „eine Annäherung an die Erfahrung und Subjektivität derer, die sonst aus Mangel an Überlieferung keine Stimme in der Geschichte gewinnen“, darstellt (Niethammer 1985, 419). Die Methoden der Oral History und der Dokumentarismus von Aleksievič verbindet daher ein prinzipielles Interesse an alternativen Erzählungen über Geschichte, die das institutionell beanspruchte Diskursmonopol kritisch hinterfragen und andere Perspektiven auf die Geschichte ermöglichen. Aufgrund der aktuellen politischen und kulturpolitischen Entwicklungen in Russland und Weißrussland sind alternative Geschichtsdarstellungen, wie sie Aleksievič verfolgt, auch heute wieder brisant und höchst umstritten.
Die hohe ethische Legitimation, die Aleksievič aus ihrem dokumentarischen Ansatz bezieht, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass einer Geschichte von „unten“ vielfältige Widersprüche inhärent sind. So hat die Erfahrung der Oral History sehr schnell bewusst gemacht, dass es keine authentische Erinnerung an ein vergangenes Ereignis gibt, sondern dass sich die Erinnerung verändert und durch spätere individuelle wie auch kollektive Erfahrungen und mediale Diskurse überlagert wird. Ein weiteres grundlegendes Problem der Oral History stellt das spezifische Setting des Interviews mit seinen Begrenzungen und seiner hierarchischen Anordnung dar (vgl. Niethammer 1985). Vielmehr noch aber bestimmt bereits die Art, wie jemand seine Geschichte erzählt, darüber, ob und wie diese Geschichte wahrgenommen wird. Nicht gewöhnliche oder konstruiert wirkende Geschichten werden wahrgenommen und bleiben in Erinnerung, sondern es müssen „gute“ Geschichten sein, die die ästhetische Wahrnehmung ansprechen, was für den Historiker Niethammer nichts anderes bedeutet, als dass „der Sinn der Geschichte […] in ihrer Form geronnen [ist]“ (Niethammer 1985, 416).
Dieses Prinzip der ästhetischen Wahrnehmung gilt für die literarischen Texte von Svetlana Aleksievič in besonderem Maße und für alle Phasen der Texterstellung, beginnend mit den Interviews über die Selektion des Rohmaterials und seine Anordnung bis hin zur Verschriftlichung der mündlichen Rede. In dieser Hinsicht ist Aleksievičs dokumentarische Methode den Montagetechniken der sowjetischen Avantgarde der 1920er Jahre und insbesondere der künstlerischen Methode des sowjetischen Dokumentarfilmers Dziga Vertov vergleichbar. Vertov forderte eine Konzentration auf „filmische Fakten“ und erklärte in seinen Manifesten das „alte“ Kino der theatralischen Inszenierung für überholt (vgl. Vertov 1973b, 7). Bei der dokumentarischen Aufzeichnung des „Lebens, wie es ist“ ging Vertov jedoch von einem künstlerisch gestaltenden Prinzip aus, das vor, während und nach der Aufzeichnung wirksam ist. Sowohl die Wahl des Themas als auch die Wahl des Kameraauschnitts sind für Vertov daher Teil der Montage.1 Außerdem basierte die dokumentarische Montagepraxis von Vertov nicht nur auf originären, für ein bestimmtes Werk geschaffenen Bildern, sondern vor allem auch auf dem Prinzip der Wiederverwertung des einmal gewonnenen Materials. In einem Archiv – heute würden wir von einer Bilddatenbank sprechen – gespeichert, können derartige Aufzeichnungen immer wieder neu verwendet werden.2 Vertov verstand die dokumentarische Aufzeichnung mit der Kamera als entindividualisiertes Ausgangsmaterial – als Bilder, die einerseits in der Massengesellschaft kursieren und andererseits wesentlich mit zu deren Konstituierung beitragen.
Aleksievič verfährt mit ihren Tonbandaufnahmen nicht anders als Dziga Vertov mit den dokumentarischen Kameraaufnahmen, wenn sie die aufgezeichneten „Stimmen“ der Menschen ästhetisch bearbeitet3 und mehrfach in ihren Büchern verwertet. Signifikant in diesem Zusammenhang erscheint insbesondere auch der Titel ihres neuesten Dokumentarromans, mit dem Aleksievič zum Ausdruck bringen möchte, dass wir heute in einer „Secondhand-Epoche“ leben, „die keine neuen Gedanken hervorbringt“ (Holm 2013), sondern auf bereits Bestehendes zurückgreift. Was für Vertov die filmische Weltwahrnehmung des „kinovižu“ („ich sehe filmisch“) war, sind für Aleksievič die „menschlichen Stimmen“: „Ich habe lange ein Genre gesucht, das dem entspricht, wie ich die Welt sehe. Dem, wie mein Auge, mein Ohr gebaut ist […] Und habe das Genre der menschlichen Stimmen gewählt.“4 Der wichtigste Unterschied zwischen Aleksievičs Dokumentarismus und der Oral History besteht daher darin, dass Aleksievič nicht die Rolle einer distanzierten Beobachterin einnimmt, sondern dass in ihren Romantexten stets auch ihre eigene, dezidiert subjektive und teilweise höchst emotionale Stimme zu vernehmen ist. In Secondhand-Zeit ist die Involviertheit der Autorin zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass sie sich selbst als Teil der „Stimmen“ betrachtet – sie ist jener „Homo sovieticus“, der im Zentrum des Romans steht (Alexijewitsch 2013a, 9). In dieser emphatischen Anteilnahme – das einleitende Kapitel ist mit „Aufzeichnungen einer Beteiligten“ überschrieben – kommt nicht zuletzt auch Aleksievičs künstlerische Sozialisation durch die sowjetische Intelligenzija der Stagnationszeit und Perestrojka-Jahre zum Ausdruck, die insbesondere in Aleksievičs Hang zum moralischen Urteil, das vom Wertmaßstab der Menschlichkeit bestimmt ist, spürbar wird.
2. Die Montagestruktur von Secondhand-Zeit
Die ästhetische Formgebung, der Aleksievič das dokumentarische Ausgangsmaterial unterzieht, zeigt sich am deutlichsten in der Anordnung dieses Materials, d. h. in der Montage. Die in Secondhand-Zeit versammelten Lebensgeschichten sind in zwei großen Blöcken angeor...